Ersten IFCM Internationalen Wettbewerbs für Chorkomposition

Aus dem Notizbuch der Jury

 

von Graham Lack, Vorsitzender der Jury des ersten IFCM internationalen Wettbewerbs für Chorkomposition

 

Wir leben in einem technologischen Zeitalter.  Auch wenn sie an den entferntesten Enden der Welt zu Hause sind, können die Mitglieder einer Jury heutzutage miteinander diskutieren, sich absprechen, Kompositionen auf den entlegensten Webseiten einsehen, Kommentare abgeben und über die Entwicklungen informiert werden, während der Wettbewerb seinen Lauf nimmt –allerdings unter einer Bedingung: dass die technischen Werkzeuge des Internets existieren und wie beabsichtigt funktionieren.  Erfreulicherweise war dies der Fall beim ersten internationalen Wettbewerb für Chorkomposition, der unter der Schirmherrschaft der IFCM und in Zusammenarbeit mit Europa Cantat und Jeunesses Musicales International ausgeschrieben worden war und dessen Ergebnisse vor kurzem bekannt gegeben wurden.  Mehr zur Technologie später. 

Angesichts der Aufgabe, etwa 65 Partituren zu überprüfen, beschloss die Jury sehr bald, den Stapel erst einmal flüchtig durchzugehen, um ihn auf eine schaffbare Höhe zu reduzieren.  So fanden wir uns vor 13 wirklich guten Stücken, die wir genauer ansehen wollten; die Werke, die wir beiseite gelegt hatten, hielten wir für etwas unreif, merkwürdig unidiomatisch oder in Anbetracht des etwas mageren musikalischen Ergebnisses einfach zu schwierig zu singen.  Die Mitglieder der Jury profitierten ohne Zweifel von dem Ratschlag, sich nicht zu sehr in Einzelheiten fest zu fahren, sondern beim Durchlesen einer jeden Partitur nie das musikalische Gesamtbild aus den Augen zu verlieren.

Nachdem wir erst einmal unsere Shortlist aufgestellt hatten – bis dahin hatten wir uns weitgehend auf unsere Berufserfahrung und emotionale Reaktion auf die Musik verlassen – musste sich jedes Stück nun einer Beurteilung mit technischeren Maßstäben unterziehen.  Dies lief auf eine zweite Runde hinaus, in der es um überzeugende Harmonien, melodischen und rhythmischen Einfallsreichtum, musikalische Form, Textbehandlung und eine Reihe weiterer Faktoren ging.  Vielleicht war es der Tatsache zu verdanken, dass das Thema “Frieden” gewählt worden war – wir befassten uns jedenfalls mit vielen Werken, die vom Charakter des Kirchenliedes geprägt waren, langsame Stücke, die sich untereinander recht ähnlich waren.  Daraus erklärt sich, dass unsere Diskussionen sich besonders intensiv mit der harmonischen Anlage der Werke beschäftigte.  Dieses “Sieb” reduzierte unser gutes Dutzend auf eine viel kleinere Zahl von Kompositionen, die sich mehr und mehr als offensichtliche Kandidaten für Preise entpuppten. 

Hier sind ein paar Bemerkungen über den positiven und weniger positiven Einsatz der Technologie am Platz: natürlich ist es leicht, über die weniger starken Kompositionen herzuziehen, aber wir waren dennoch der Ansicht, dass die Schwächen vieler der Einsendungen auf ein zu starkes Sich-Verlassen auf das Klavier und das Komponieren an einer elektronischen Tastatur zurückzuführen sein dürfte.  Wir hoffen, dass die Komponisten sich das zu Herzen nehmen und versuchen werden, ihre Hörfähigkeiten zu verfeinern, indem sie – o Graus – Bleistift und Papier zur Hand nehmen und sich vielleicht für einen meditativen Augenblick in den Wald absetzen.  Das andere Thema, über das wir immer wieder stolperten, war das der allgemeinen Tonlagen: offen gesagt waren wir überrascht, wie viele Sopranstimmen sich in der Stratosphäre bewegten und ebenso, wie oft die Altistinnen gründeln mussten.  Stimmumfänge – wobei wir zugeben, dass sie nicht ganz dasselbe sind wie allgemeine Tonhöhen – sind in der 4- oder 5-stimmigen a cappella Literatur doch ziemlich fest etabliert, und man sollte sie als etwas Unproblematisches betrachten, das sich lernen lässt.

Zurück zu den zukünftigen Siegern.  Während der Endkonferenz, die auf Skype abgehalten wurde und Australien, Finnland, Italien, Deutschland und Großbritannien miteinander verband, stellte sich die erfreuliche Tatsache heraus, dass die Jury sich untereinander sehr einig war und “White Those That Stayed Still” von Matthew van Brink einstimmig zum Sieger erklärte.  Dies wurde unser erster Preisträger.  Schon die Eröffnung aus Quinten   ist vielversprechend und wird mit einer rhetorischen Frage fortgesetzt – dem konzentrierten Einsatz von Quarten in diesem Zusammenhang. Es ist ein Werk voller Rätsel, und wir gaben uns große Mühe, es sorgfältig zu studieren.  Die Jury wurde immer mehr überrascht von den harmonischen Feinheiten und ungewöhnlichen Konsequenzen von etwas, das auf den ersten Blick wie eine barocke Kette von Quinten und Quarten aussieht.  Wir waren uns sehr bald darüber einig, dass wir es mit einem Komponisten mit einem sehr ungewöhnlichen Ohr zu tun hatten.  Über manche der Harmonien zerbrechen wir uns immer noch den Kopf.

Wir beschlossen, zwei Werke   als herausragend auszuzeichnen: Tom Harrolds “At That Hour” (wegen seiner unkonventionellen Harmonien) und “Drawing Number One” (für ein Werk als musikalische Landschaft) von Michael Fili.  Am Ende verblieb uns ein Stück, das ohne Zweifel originell und ungewöhnlich war (es stellte sich heraus, dass wir es mit dem Zusammentreffen der Kulturen von West und Ost zu tun hatten), aber das unserer Meinung nach nicht in diese Kategorien passte – mein Grund, es hier zu erwähnen.  Das Stück stammt von einer koreanischen Komponistin, Ji Jang Kim, ihre “Reflection on ’Waiting for Mama’”.

Das Stück, dem der erste Preis zugeteilt wurde, wird sehr bald bei Earthsongs erscheinen, und der Weltjugendchor wird es zur Uraufführung bringen.  Die drei anderen oben erwähnten Werke werden im Juli dieses Jahres von Hajo Music veröffentlicht.  Aufs Ganze gesehen war es eine sehr anregende und lohnende Erfahrung.  Es war ein Privileg, mit so erfahrenen Jurymitgliedern zusammen zu arbeiten, und ich hoffe, dass meine Ratschläge als sanft empfunden wurden.  Auch ich habe viel gelernt.  Herzliche Glückwünsche dem Sieger!

 

Aus dem Englischen übersetzt von Irene Auerbach, Grossbritannien