2021 - Hundertjähriges Jubiläum zweier argentinischer Komponisten: Astor Piazzolla und Ariel Ramírez
Oscar Escalada
1921 war für mein Leben von besonderer Bedeutung, weil damals drei einflussreiche Menschen geboren wurden, die mich während ihres ganzen Lebens in meinem Beruf als Musiker stark geprägt haben: meine Mutter, Astor Piazzolla und Ariel Ramírez.
Von meiner Mutter kann ich sagen, dass sie es war, die mich im kritischen Moment der Entscheidung zwischen Medizin und Musik unterstützte.
Der Einfluss Piazzollas war richtungsweisend, weil mein Kontakt mit der akademischen Welt großenteils ihm zu verdanken war und wir darüber hinaus bei der gleichen Plattenfirma und an einigen Fernsehsendungen beteiligt waren.
Ariel Ramírez kam ich erstmalig näher, als ich seine Misa Criolla sang, die ich in den folgenden Jahren bei wiederholten Gelegenheiten mit ihm am Klavier dirigierte.
Piazzolla wurde am 11. März in Mar del Plata geboren, und noch als Kind wanderten seine Eltern in die USA aus, wo sie sich in Brooklyn niederließen.
Diese Tatsache ist nicht unbedeutend, da der rhythmische Stil, der für ihn in der Formel 3,3,2 kennzeichnend wurde (Abb. 1) dem Einfluss seines Jugendfreundes zu verdanken war, dessen jüdische Familie im selben Gebäude lebte. Bei den Zusammenkünften der beiden Familien in der einen oder anderen Wohnung lernte der junge Astor diesen Rhythmus kennen.
Ramírez wurde am 4. September desselben Jahres in der Stadt Santa Fe geboren.
Wie Piazzolla machte er einige Erfahrungen, die für seine Kompositionen entscheidend wurden, außerhalb seines Landes.
Auf einer Reise durch Deutschland lernte er in Würzburg, wo er untergekommen war, im Kloster Mariannhill einige Nonnen kennen, die ihm erzählten, dass es in einer nahegelegenen alten Villa ein Konzentrationslager gäbe, wo die Inhaftierten in den Tod geschickt würden.
Sie hatten unter den Verteidigungsanlagen, die den Ort umgaben, ein Loch gefunden und beschlossen, dort jeden Abend ein Paket mit Lebensmitteln zu hinterlegen, welches am nächsten Morgen verschwunden war. Sie taten dies Nacht für Nacht, bis sie es ein Jahr später einmal wiederfanden, es also nicht abgeholt worden war.
Der Vorfall hatte Ariel nachhaltig beeindruckt und seinen Wunsch geweckt, zu Ehren dieser Nonnen, die ihr Leben für Unbekannte riskierten, etwas Religiöses zu komponieren
Das Zweite Vatikanische Konzil führte zu großen Änderungen in der Katholischen Kirche, unter anderem zum Gebrauch der Landessprache beim liturgischen Gesang.
Sein Schulfreund in Santa Fe, der später Bischof Catena werden sollte, schlug ihm vor, eine Messe auf Spanisch zu komponieren. Ariel war begeistert von der Idee und setzte sie schließlich um auf der Basis seines tiefen tellurischen Interesses, was ihn dazu führte, musikalische Formen mit folkloristischen Wurzeln zu benutzen.
Die Misa Criolla widmete er den Nonnen von Mariannhill, den Schwestern Elisabeth und Regina Brückner.
Es ist interessant festzustellen, dass beide Komponisten sich auf ihre musikalischen Traditionen stützten, die zur Grundlage für die folgerichtige Entwicklung ihrer Werke wurden.
Die Beziehung, die ihre Werke mit dem Chorgesang haben, wurde nicht von ihnen hergestellt, da die Chorversion für die Misa Criolla von R.P.Segade geschrieben wurde, und die Chorversionen der Werke Piazzollas von Dritten besorgt wurden, außer im Falle der Oper María de Buenos Aires.
Sowohl der eine wie der andere schufen umfangreiche Werke, da Ramirez außer der Misa Criolla Navidad Nuestra, Los Caudillos, und Mujeres Argentinas komponierte. Zu letzterer gehört auch das weltberühmte Lied Alfonsina y el mar.
Piazzolla wurde bei der Komposition der Cuatro Estaciones Porteñas (Vier Jahreszeiten von Buenos Aires) von Antonio Vivaldi beeinflusst. Es handelt sich um eine Gruppe von vier Tangos, welche die Namen der Jahreszeiten tragen, mit dem Zusatz “Porteñas” (1). Er komponierte auch La Serie del Ángel und die erwähnte Oper María de Buenos Aires.
Die Kompositionstechniken der beiden waren unterschiedlich, da für Piazzolla die Tatsache von entscheidender Bedeutung war, dass er Schüler von Alberto Ginastera war und sein Stipendium bei Nadia Boulanger absolvierte: Von Ginastera lernte er, ausgezeichnet mit dem Orchester umzugehen, und durch Boulanger erlangte er eine große Kompositionspraxis.
Wie er selbst sagte, war Nadia nach seiner Mutter die wichtigste Frau in seinem Leben, weil sie ihm den Antrieb gab, gegen alle Widrigkeiten seine eigene Musik durchzusetzen.
Und das hat er getan…! Die Traditionalisten des Tangos waren der Meinung, er habe den Tango zerstört. Meiner Ansicht nach hat er jedoch auf den traditionellsten Elementen des Tangos aufgebaut und ihm Flügel verliehen, so dass er grenzenlos fliegen konnte. Er scheute sich nicht, die Sonatenform zu benutzen, Fugen einzusetzen, seine Harmonien zu erweitern und all dies durch Improvisationen zu ergänzen, bis hin zu einem Tango im Dreivierteltakt.
Ich glaube, dass sein Werk Libertango eine Dramatisierung dessen ist, was ich gerade erwähnt habe. Dabei ist hervorzuheben, dass er für die Namensgebung zwei Begriffe benutzte, die für ihn das Wertvollste darstellen: Freiheit und Tango, daher Libertango. (2)
Es ist eine überaus interessante Komposition, die auf einem Ostinato (Abb. 2) beruht, das während des ganzen Werks vorhanden ist, manchmal vollständig, manchmal segmentiert, aber immer aktiv.
Ich empfinde sein Gefühl der Freiheit, wenn er zur Bridge gelangt. (Fig. 3) Ich glaube nicht, dass er das Ostinato einfach nur so benutzt hat. Ich denke vielmehr, dass er irgendwie seinen Erfolg ausdrücken wollte, siegreich eine schmachvolle Wiederholung zu vermeiden, die ihn an eine Tradition fesselte, die ihren eigenen Weg suchte. Und dadurch, dass er dies schaffte, entstand diese wunderbare, befreiende Explosion, welche die Wurzeln bewahrte, sie aber doch bereicherte.
Ramírez ist bei seinem Schaffen gemäßigter, denn obwohl er die Gabe hatte, ganze Werke auf dem Gebiet der argentinischen Folklore zu schaffen, führt deren interne Struktur zu schönen Melodien, einer reichhaltigen Harmonie von großer Schönheit und in einigen Fällen zu einer Vernachlässigung der Form zugunsten des Textes, wobei er eine totale Kontrolle über das Werk behält. Er fügt keine Improvisationen hinzu, und seine Harmonien sind auch nicht so disruptiv.
Das Credo verkündet zum Beispiel, dass es eine „verkürzte Chacarera“ sei. In Wirklichkeit ist sie es weder der Form nach noch von der Verteilung der Akzente her. (3)
Natürlich hätte er die Form der Chacarera niemals durchhalten können, weil es der lange Text des Credos nicht zuließ.
Doch der Einsatz des lebhaften Rhythmus der Chacarera ist für den Ausdruck des Credos überaus geeignet. Es ist dabei ein interessantes Detail, dass das Werk in einer Moll-Tonart geschrieben ist, aber zu Dur wechselt, wenn der Text von der Auferstehung Christi spricht. Diese Art von Logogenesis (4) wurde auch schon von anderen Komponisten benutzt. Ihm hatte sie bei seinem Vorhaben gedient, den Text in Musik umzusetzen, gemäß Zarlinos Idee: “Mettere il testo in musica”. (5)
Beim Gloria wechselt er in adäquater Weise zwischen dem Carnavalito (Fig. 4), einem freien, binären Tanz und einem langsameren Yaraví (Fig 5), der ein weicher und melancholischer Tanz des Andenhochlands ist. Das Werk benutzt in der Einführung ein Charango, ein kleines Zupfinstrument des Hochlands, auf dessen Möglichkeiten er im Yaraví durch den Chor a bocca chiusa (mit geschlossenem Mund) zurückgreift, was möglicherweise den Wind in dieser von Bergen umgebenen Ebene darstellen soll.
Die Wahl dieser beiden Tänze ist sehr geschickt, da der Carnavalito ein fröhlicher Tanz ist, der wunderbar zum Text von “Ehre sei Gott in der Höhe…” passt etc., und der langsame Yaraví passt sehr gut zum introspektiven Gesang von „Herr, eingeborener Sohn, Jesus Christus…“, etc.
Astor Piazzolla schrieb Werke für Orchester, wie das Konzert für Bandoneon, und mehr als dreißig Bearbeitungen von Orchesterwerken, für verschiedene Gruppierungen und für Tangoorchester und von seinem Lieblingstango Nonino, den er seinem Vater widmete, als man ihm während einer Tournee durch New York die Nachricht überbrachte, dass er gestorben sei.
Seine Produktion ist enorm, man spricht von mehr als zweitausend Kompositionen und unzähligen Bearbeitungen von jeder einzelnen von ihnen.
Genauso produktiv war Ariel Ramírez, der darüber hinaus Präsident der SADAIC, der argentinischen Gesellschaft von Musikautoren und Komponisten war. Auch wenn sein Werk intimer und immer durch tellurische Rhythmen gekennzeichnet war, lieferte es wichtige Beiträge, wobei ich seine umfangreichen Werke der Folklore herausheben möchte, denn bis zu seinem Erscheinen bestand die Folklore aus kurzen Werken, wie es ihrem Stil entsprach.
Astor Piazzolla starb am 4. Juli 1992, Ariel Ramírez am 18. Februar 2012.
Danke Astor, danke Ariel, dass Ihr in diese exquisite Welt eintreten konntet, die so schöne und bewegende Momente liefert, zur Freude Eurer Mitmenschen.
Übersetzt aus dem Spanischen von Reinhard Kißler, Deutschland
(1) Bewohner von Buenos Aires
(2) Die beigefügten Beispiele stammen von der Bearbeitung, die ich für SATB gemacht habe, mit der Einwilligung von A Kjos, Music Publishers y del Gloria für Warner/Chappel Argentina.
(3) Die chacarera ist ein Tanz mit Choreographie. Wenn sie nicht ihre Form beibehält, kann man sie nicht tanzen, und sie ist verkürzt, wenn der Rhythmus auf dem dritten Schlag des ¾ Taktes endet.
(4) Logogénesis stammt vom griechischen logos, Wort, und genan, gebären, Ursprung. Es ist das Verhältnis zwischen Text und Musik.
(5) Gioseffo Zarlino, italienischer Komponist, großer Kenner der Musik der Renaissance.
Oscar Escalada ist Lehrer, Komponist, Dirigent, Autor und Herausgeber von Chormusik. Präsident der Argentinischen Gesellschaft für Chormusik “America Cantat” (AAMCANT), ehemaliges Präsidiumsmitglied der IFCM und Mitglied der Argentinischen Föderalen Organisation für Choraktivitäten (OFADAC). Er hielt Vorträge auf ACDA-Kongressen, IFCM-Symposien, Europa Cantat usw. Er gründete den Kinderchor des Opernhauses von Buenos Aires; den Coral del Nuevo Mundo; das Seminar des Konservatoriums von La Plata und des Jugendchors an der Universität von La Plata. Er hielt Vorträge, Workshops, Seminare und war Jurymitglied in ganz Amerika, Europa und Asien. Der argentinische Senat zeichnete ihn für seine Arbeit in der Chorwelt und seinen Essay “Musik und nationale Identität” aus. Er leitet die Latin American Choral Music Series bei Neil A. Kjos, Musikverleger in Kalifornien. Er wurde Ehrenmitglied der Associazione Nazionale Direttori di Coro Italiani. E-Mail: escalada@isis.unlp.edu.ar