Aufnahmetechnik für Chöre - Eine geschichtliche Übersicht

Paul McGlashan, Toningenieur, Neuseeland

Die letzten hundert Jahre sahen große Veränderungen der Tonaufnahmetechniken und ihrer Technologie. Zu verschiedenen Zeitabschnitten, die für Innovation auf allen Ebenen zuständig waren, veränderten sich alle Aspekte und Phasen der Musikaufnahme – von der Aufnahmetechnik und der Nacharbeit bis zum Musikvertrieb, zu Absatzkanälen und Technologie. Innerhalb dieser Landschaft befindet sich auch die Aufnahme akustischer Ensembles wie Chöre und Orchester, und während sich herkömmliche Aufnahmetechniken heute noch halten, ist die Szene schon für eine neues Zeitalter vorbereitet, das mit immersiven Aufnahme- und Produktionstechniken zunehmend zur Hauptströmung für Videomusik und die Spieleindustrie wird.

Die traditionelle Herangehensweise zum Aufnehmen einer Chor- oder Orchesteraufführung hängt von den akustischen Qualitäten des Aufnahmeraums ab, um einen ausgewogenen Klang und ein Gefühl von Realitätsnähe zu erreichen. Idealerweise wird ein Raum gewählt, der dem Stil der Musik und der Größe des Ensembles entspricht. Der Aufnahme-Ingenieur wird eine entsprechende Mikrophon-Kombination und -Anordnung wählen, die eine Gesamtbalance des Ensembles und ein überzeugendes Verhältnis zwischen Direktschall und zurückgeworfenem Schall einfängt. Auch die Auswahl der Mikrophone (z.B. Rundum- oder Richtcharakteristik) und ihre Positionierung hängt von Faktoren wie etwa dem Umgebungsgeräusch im Raum (Klimaanlage, Straßenverkehr, Vögel, Wetter), der Stärke und Zusammensetzung des Chors, ferner von der Verwendung von Solisten und begleitenden Instrumenten ab.

Während es eine Vielfalt von Mikrophon-Anordnungen gibt, besteht der typische Aufbau für die Aufnahme eines A-cappella-Chors aus einem passenden Mikrophon-Paar, um den Gesamtklang aufzunehmen, manchmal noch durch Stützmikrophone für Chorteile und Solisten ergänzt (je nach der Raumakustik und der Qualität der Solisten). Die verwendete Technik der Stereo-Mikrophone ist normalerweise eine entfernte oder fast äquivalente Aufstellung (z.B. omnidirektionale Mikrophone in Small AB oder Richtmikrophone beim ORTF-Stereosystem, auch beim NOS-System), möglicherweise durch Kugelmikrophone oder an Auslegern durch super-cardioide [Nierencharakteristik-] Mikrophone für große Chöre ergänzt. Diese Möglichkeiten ergeben meist das beste Gefühl von Umhüllung und Räumlichkeit. Die Stützmikrophone werden feinfühlig dazugemischt, um die Gesamtbalance und die Positionierung der Solisten innerhalb des Klangbildes so authentisch wie möglich sicherzustellen. Die Mikrophone werden idealerweise einem Audiorecorder über eine hochwertige, minimalistische Aufnahmekette zugespielt und die Aufnahme dann fertiggestellt (geschnitten, gemischt, gemastert). Jenseits der Nachbearbeitung und des Mischens wird die Bearbeitung des aufgenommenen Originals meist auf ein Minimum (z.B. durch Equalisation, Kompression) beschränkt oder überhaupt nicht angewandt. Zusätzliche Verhallung mag jedoch während der Post-Produktion hinzugefügt werden, um die Aufnahme zu vereinheitlichen und das Gefühl von Gleichheit zu vergrößern (das Gefühl, von Klang umschlossen zu sein).

Heutzutage sind Stereoaufnahmen noch die vorherrschende Art zum Bewahren von Choraufführungen. Die Mikrofontechniken und Überlegungen bei Chor- oder Orchesteraufnahmen haben sich nicht grundlegend seit den frühen Tagen der Stereoaufnahme Mitte der 50er Jahre geändert, als die Einführung von Tonbändern viele Neuerungen bei Stereoaufnahmen brachte.

Bild 1   Die Aufstellung von Mikrophonen für Raumklang mithilfe des Decca Tree

Der Wechsel vom Tonband zur Digitalaufnahme in den 1970er Jahren führte weiter zu Verbesserungen der Klangqualität und zur Innovation beim Aufnehmen und Abspielen von Mehrkanal-Ereignissen. Neue Surround-Mikrophon-Techniken nahmen Klänge von vorne, aber auch von den Seiten und hinten auf in einem Versuch, eine 360-Grad-Perspektive zu schaffen. Diese Aufnahmetechniken waren gekoppelt mit Abspielformaten wie Quadrophonie in den 1970ern und Dolby 5.1 und DTS in den 1980er und 1990er Jahren. Der Sinn von Quadrophonie war es, eine überzeugendere Art von Wahrnehmung zu bewirken, als es mit der Stereophonie möglich war. Wie bei Stereo, wo der Klangeindruck sich vor dem Hörer zu befinden scheint, war auch Surround nur teilweise erfolgreich, ein 360-Grad-Klangerlebnis zu schaffen, weil der Eindruck noch immer ein vorwiegend zweidimensionaler oder horizontaler Klangraum blieb.

Bild 2   Kunstkopf Neumann KU 100

Binaurale Techniken entwickelten sich weiter während der 1970er Jahre mithilfe eines Kunstkopfes mit Mikrophonen in den Ohren, um die Art und Weise zu simulieren, wie menschliches Hören geschieht. Unsere Fähigkeit, Klänge zu lokalisieren, entsteht durch Schall, der unsere Ohren zu leicht verschiedenen Zeiten und mit verschiedener Intensität erreicht. Diese Hördifferenzen werden großenteils von der Form unseres Kopfes bestimmt, dem Abstand der Ohren voneinander, ihrer Größe und Form. Das Ergebnis ist ein genauer dreidimensionaler Klangraum mit dem Hörenden im Mittelpunkt, wobei der Klang nicht nur von rechts, links und vorn zu kommen scheint (wie bei der traditionellen Stereophonie), sondern auch von unten, oben und hinten. Binaurale Aufnahmen werden am besten wiedergegeben mit Kopfhörern, und je nachdem wo der Kunstkopf sich befindet, kann sich ein unheimlicher Eindruck von „Gegenwärtigsein“ einstellen – im Raum mit den Ausführenden. Bis jetzt ist binaurales Hören eine Nische in der Musikaufnahme-Szene geblieben, und während es von einigen zeitgenössischen Künstlern wirksam eingesetzt wurde, ist es für Chor- und Orchesteraufnahmen nicht sehr populär geworden (siehe Rezension van “Sourround the world” des Ensembles egregor vocal hier). Das ändert sich jedoch in dem Maße, wie Kopfhörer der bevorzugte Weg zum Musikhören werden, das Interesse an Raumaufnahmen größer und die preiswerte binaurale Kunstkopf-Technologie verfügbar wird.

Bild 3   SoundField Ambisonic Mikrophon

Ambisonics, eine in den 1970er Jahren entwickelte Technik, erfasst einen dreidimensionalen Eindruck mithilfe einer vierflächigen Anordnung von vier Mikrophonen, die an einem einzelnen Punkt im Raum versammelt sind. Ambisonics war ein beliebter Zugang zu Surround-Aufnahmen in Musik und Film. Eine interessante Eigenschaft dieser Technik ist die Möglichkeit der Manipulation der Aufnahmen während der Nachbearbeitung. Verschiedene Mikrophon-Muster können durch Dekodieren der vier Mikrophone in unterschiedlicher Weise nachgebildet werden. Das ist gut, um das Klangbild einer Menschenmenge oder einer Stadt wiederzugeben, obwohl man, um es voll zu genießen, auf dem günstigsten Platz vor den Lautsprechern sitzen muss. Wenn man die Aufnahme für die Kopfhörer-Wiedergabe in Stereo umgearbeitet hat, liefert Ambisonics sehr überzeugende „immersive“ Erlebnisse [virtuelle oder augmentierte Realität]. Ambisonics war auch ein Nischenanbieter in der Welt der akustischen Aufnahme von Ensembles – der Hauptgrund war, dass es zwar eine realistische Klangbühne ermöglichte, dabei aber weniger Rückmeldungen tiefer Frequenzen von den verwendeten Richtmikrophonen aufwies, was bedeutet, dass das Gefühl von Umhüllung nicht so überzeugend ist wie die Stereo- und Raumklangtechnik, die Mikrophone mit Kugelcharakteristik verwendet.

Bild 4   Konventionelle 5.1 Lautsprecher-Aufstellung (ohne LFE)

Wie bei Stereo bedeutet das Aufnehmen und Mischen eines Chorwerks für den Raumklang, dass die linken und rechten Mikrophone auf die linken und rechten Lautsprecher gerichtet werden, um die Basis für die vordere Hörebene zu schaffen. Ein mittleres Mikrophon (wenn vorhanden) wird für den mittleren Lautsprecher gerichtet und die beiden Rückmikrophone jeweils rechts und links für die Surroundlautsprecher. Das Lautstärkeverhältnis wird dann angeglichen, um die angestrebte Links-rechts-  und Vorne-hinten-Balance zu erreichen. Die linken und rechten Surround-Lautsprecher liefern einen diffusen nachhallenden Schall und helfen beim Herstellen von Umhüllungsgefühl, indem sie die Raumreflektionen nachahmen, die hinter dem Hörer entstehen. Richtmikrophone werden passenderweise typisch in der von links nach rechts verlaufenden vorderen Hörebene gerichtet – könnten aber auch für interessante Effekte an den Seiten oder im Rücken gerichtet werden, z.B. für Solisten auf der Empore. Künstlicher Nachhall könnte nötig werden, um Solisten in den Klangraum zu mischen, und ein Nachhalleffekt kann als Verbindung hinzugefügt werden, um das Gefühl von Räumlichkeit zu erhöhen. Es gibt keinen Zweifel, dass Raumklang eine Verbesserung von Stereo bieten kann, was Realismus und ein Gefühl von Steigerung betrifft. Da jedoch Raumklang mit der Notwendigkeit von ziemlich kostspieligen Mehrkanal-Lautsprecher-Systemen zusammenhängt, ist seine Popularität beschränkt geblieben, die zusätzlichen Produktionskosten also nicht leicht gerechtfertigt.

Heutzutage hat sich das Ziel der Umhüllung im Klangeindruck jenseits der ursprünglichen Ziele von Raumeindruck weiterentwickelt, was zu einer neuen Ära von immersivem dreidimensionalem Ton führte. Während Surround-Formate einen Klangraum schaffen, der den Hörenden umgibt, kommt der Schall an den Ohren doch nur horizontal an, wenn die Lautsprecher vorn, an den Seiten und hinter der Hörposition stehen. Diese Surround-Formate beachten nicht die Tatsache, dass in einer wirklichen Aufführung eine Menge Schall von oben, z.B. von der Raumdecke und Emporen-Reflektionen kommt. Diese zusätzliche Höhendimension ist das Geheimnis heutiger immersiver Klangformate wie Dolby Atmos, DTS:X und Auro-3D; sie fügen zusätzliche Lautsprecher über dem Hörenden an, um die Höheninformation zu liefern. Auch das binaurale Hören ist mit der stärkeren Popularität von Kopfhörern mehr zum Mainstream geworden; denn immersiver Klang bietet auch die Möglichkeit, eine Mehrkanal-Aufnahme zu Stereo zum immersiven Kopfhörergebrauch „zusammenzufalten“. Dies hat immersiven Formaten (vor allem Dolby Atmos) dazu verholfen, sich über die lautsprechergestützten Beschränkungen des Kinos und privaten Raums hinaus zu persönlichen Abspieleinrichtungen wie Apple Music, Amazon Music und Tidal Zugang zu verschaffen, die zunehmend mehr immersive Inhalte anbieten.

Bild 5   Dolby Atmos Production Suite

Neue Fortschritte bei immersiven Formaten haben eine neue Welt von Produktionsmöglichkeiten für die Musik und für die Schaffung von Erlebnissen virtueller Akustik eröffnet. Es ist nicht nur möglich, Mikrophone auf herkömmliche Art in zwei Dimensionen einzurichten, mit den zusätzlichen Höhen-Lautsprechern hat der Tonmeister einen dreidimensionalen Raum, mit dem er beim Abmischen offenere oder weniger zugestellte Möglichkeiten wählen kann. Jetzt ist es möglich, über die Ausrichtung auf einen Kanal hinauszugehen, indem man „Objekte“ wählt. Mit objektbezogenen Herangehensweisen kann man die Mikrophone (und andere Quellen) einem Ziel zuweisen (es einrichten) und dies beliebig in einem virtuellen 360-Grad-Kreis um den Hörenden anordnen. Mit einem Automatisierungsprogramm können diese Objekte unabhängig voneinander im Hörraum bewegt und ein Weg definiert werden, um das Objekt rund um den Hörenden zu bewegen – fantastisch für filmische Klangeffekte (Flugzeuge fliegen über uns oder Pfeile schwirren um unsere Ohren).

Bild 6   Apple Music App mit Dolby Atmos

Immersive, objektbasierte Formate eröffnen neue Möglichkeiten für Choraufnahmen. Man stelle sich vor, jedes Chormitglied hätte ein eigenes Mikrophon und man könnte bei der Nachbearbeitung jeden Singenden als unabhängiges Objekt behandeln – sie an verschiedene Positionen rund um den Hörenden bringen. Man könnte so völlig verschiedene Hörerfahrungen und musikalische Effekte erzeugen. Vielleicht eine Möglichkeit zum kreativen Aufbereiten von Chorwerken wie Leonardo Dreams of his Flying Machine von Eric Whitacre.

Es ist noch die Frühzeit von immersiver Musik, und während es eine wachsende Menge mit immersiven Inhalten gibt, besteht das meiste davon noch aus Neumischungen von Stereoaufnahmen. Daher gibt es wenige Beispiele von Chor- oder Orchesteraufnahmen, die von vornherein absichtlich mit einem vorausbedachten immersiven Format entstanden. Das vorausgeschickt, gibt es doch ein sehr gutes Beispiel in Deccas Immersive Experiment, das eine hervorragende Aufführung der Einleitung zum Dies Irae im Requiem von Verdi enthält. Es ist eine Aufführung des London Philharmonic Choir and Orchestra, und das Gefühl des „Dabeiseins“ inmitten von Orchester und Chor ist recht überzeugend – daher entsteht eine intimere Teilnahme an der Aufführung als man es mit einer typischen Stereoversion erreichen würde. Um das anzuhören, muss man es natürlich durch ein Gerät abspielen, das Dolby Atmos wiedergibt – sehr leicht zu erreichen mit Kopfhörern an einem Apple iPhone, wobei man darauf achtet, dass die App “Dolby Atmos“ des iPhones auf “Always On“ eingestellt ist.

Während Stereoaufnahmen und ihre Wiedergabe noch für eine vorhersehbare Zukunft die Grundlage akustischer Aufnahmen bleiben werden, hat ein neues Zeitalter der Innovation mit immersivem Klangerleben bereits begonnen. Objektbasierte immersive Formate wie Dolby Atmos werden innovatives Sound Design ermöglichen, außerdem neue Perspektiven für den Musikhörenden – die einen in die Möglichkeit versetzen, eine Aufführung z.B. aus der Perspektive eines Chormitglieds oder einer Chorgruppe, vom Dirigenten oder einem Zuhörer zu erleben. Die Möglichkeiten sind grenzenlos! Letzten Endes ist jedoch immersiver Klang nur die Simulation der Realität, und meiner Meinung nach gibt es nichts Vergleichbares mit dem Erlebnis einer wirklichen Aufführung – als Chorsänger oder als Teil der Zuhörerschaft. Ich erinnere mich lebhaft, vor zwanzig Jahren in der Tenorgruppe im Verdi-Requiem mitzusingen, hinter dem Orchester und nicht weit entfernt vom Schlagwerk, und vom körperlichen Druck der Schallwellen der beiden Kesselpauken auf meine Brust überwältigt zu werden, als sie sich durch die furiosen Schläge der Einleitung durcharbeiteten. Das war wirklich „gegenwärtig“!

 

PAUL MCGLASHAN ist Besitzer und Tonmeister von Classic Sound, einer Produktionsfirma auf dem Great Barrier Island in Auckland, Neuseeland, die sich auf Aufnahmen und Nachbearbeitung klassischer und akustischer Musik spezialisiert. Während der letzten 20 Jahre hat Paul an Orchester- und Choraufnahmen für die meisten größeren Orchester, Kammermusikensembles und Chöre in Neuseeland mitgewirkt, oft in Zusammenarbeit mit Atoll Records. Schon zu Beginn seiner Karriere erwarb er während eines dreijährigen Praktikums im Radio New Zealand Concert Erfahrungen bei einer Reihe von lokalen und überseeischen Klassikaufführungen. Er war auch für die Aufnahme und das Mischen der Musik für die Eröffnungszeremonie des Rugby World Cup 2011 verantwortlich, die weltweit im Fernsehen gezeigt wurde. Paul McGlashan erwarb Masterabschlüsse 1. Klasse in Computerwissenschaft und in Darstellenden Künsten von der Auckland University. Er ist ein klassisch ausgebildeter Musiker (Sänger) und war 20 Jahre lang Mitglied des viel beachteten Kammerchors Viva Voce, bevor er ihn 2016 verließ, um in Great Barrier ansässig zu werden.

 

Übersetzt aus dem Englischen von Klaus L Neumann, Deutschland