Ein musikalisches Machtzentrum: die Nutzung des Markusdoms als Staatskapelle

Andrea Angelini, Chorleiter, Hochschullehrer und Musikwissenschaftler

Im Vergleich zum Stand der Forschung vergangener Jahre hat sich unser heutiges Verständnis der Musikkapelle des Markusdoms in Venedig stark erweitert. Umfangreiche Untersuchungen haben neues Licht auf verschiedene Aspekte der herzoglichen Basilika und der Stadt Venedig als Ganzes geworfen. Neuere Studien haben die Struktur der Musikkapelle, die Biographien ihrer Mitglieder, das Patronats- und Finanzsystem, die Liturgie der Kirche, das herzogliche Zeremoniell und dessen Beziehung zum liturgischen und figurativen Gesangsrepertoire der Basilika untersucht. In diesem Aufsatz werden wir die Gegebenheiten darlegen, welche die Markuskapelle in der Zeit der Gegenreformation charakterisierten, und einige allgemeine Beobachtungen und Spekulationen hinzufügen.

Adrian Willaert

Während der Zeit, in welcher der Markusdom bis zum Untergang der Republik als Privatkapelle des Dogen diente, hatte dieser die formale Autorität über die Kapelle. Der Doge Andrea Gritti intervenierte z.B. direkt, um die Wahl Adrian Willaerts zum Chorleiter durchzusetzen. Einige Dogen und deren Nachfolger mischten sich nur gelegentlich in die Angelegenheiten der Kirche ein, etwa um das Reglement der Kapelle zu ändern. Die eigentliche Leitung der Kirche, einschließlich der Anstellung und Entlassung von Musikern, lag jedoch in der Hand der drei auf Lebenszeit gewählten Mitglieder der Procuratia de Supra. Einige dieser Mitglieder waren für ihr kulturelles Engagement auch in ihrem Privatleben bekannt. Die Rekrutierung neuer Mitglieder der Musikkapelle erfolgte durch ihre Sänger, die nach außerhalb Venedigs reisten, und, noch wichtiger, über diplomatische Beziehungen mit städtischen Behörden auf dem Festland, mit Botschaftern und im Ausland lebenden Venezianern. Diese Kanäle spielten eine entscheidende Rolle bei der Wahl des Kapellmeisters (eine Entscheidung, die sorgfältig abzuwägen war) und in einigen Fällen auch bei der Rekrutierung kastrierter Soprane.

Im November 1562 wurden die Sänger des Markusdoms in zwei Gruppen aufgeteilt: die große und die kleine Kapelle. Die große Kapelle, die hauptsächlich aus den besten und zuverlässigsten Sängern bestand, hatte 20 Mitglieder (4 Soprane, 5 Altistinnen, 3 Tenöre, 3 Bässe und 5 Knabensoprane)[1]. Sie hatten an “jedem Tag der Woche außer donnerstags und freitags” zu singen. Die kleine Kapelle hingegen, die aus 2 Sopranen, 4 Altisten, 3 Tenören und 5 Knabensopranen bestand, sang an den Festtagen, die auf einen Donnerstag oder Freitag fielen. Außerdem musste die kleine Kapelle während der Kirchenbesuche des Dogen in der Basilika anwesend sein und dem Kapellmeister zur Verfügung stehen, und zwar an den Tagen und Vigilien feierlicher Feste, an denen das goldene Altarbild geöffnet wurde. Sie sangen jedoch nur auf Wunsch des Maestros.

Francesco Guardi – Doge Alvise IV Mocenigo Appears to the People in St Mark’s Basilica in 1763

 Die Gehälter der Sänger waren sehr unterschiedlich. In den 1560er Jahren reichten sie von einem Minimum von jährlich dreißig bis zu einem recht hohen Maximum von achtzig Dukaten. Während des gesamten folgenden Jahrhunderts belief sich die Besoldung auf hundert Dukaten pro Jahr, die einigen Sängern schon gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts gewährt worden war.

Was die mehrstimmigen Verpflichtungen der Sänger während der Messe und der Vesper betrifft, so betonte eine Verordnung aus dem Jahr 1562, dass insbesondere das Sanctus, das Agnus Dei, und die post-Communio der Messe zu singen seien, dazu das Pleni und Osanna. Auch die Elevatio war durch Gesang zu begleiten. Die Sänger wurden angewiesen, diese Stücke gewissenhaft mit den ihnen zugewiesenen Stimmen auszuführen und jegliches Eilen zu vermeiden.

Giovanni Antonio Canal (Canaletto), La cappella ducale in bigonzo, pen and ink drawing, 1766 (Hamburg, Kunsthalle)

Die relativ große Kapelle und die herausragende Stellung polyphoner Musik bei den liturgischen Zeremonien sollten ein Bild vermitteln, das einer großen Staatskapelle würdig war. Die Idee von Exklusivität spielte auch eine Rolle bei der symbolischen Darstellung der Institution und des Staates. Die einzigartige Stellung der Markuskirche in Bezug auf ihre Liturgie, ihren liturgischen Gesang und ihr herzogliches Zeremoniell wurde von den Leitern der venezianischen Kirche und des Staates gegen die zentralisierenden Bestrebungen der gegenreformatorischen Kirche Roms, die eine Vereinheitlichung des Ritus nach tridentinischem Vorbild anstrebte, leidenschaftlich verteidigt. Die Praxis, die Vesperpsalmen an den großen Festtagen im Doppelchor zu singen, war zwar nicht unbedingt exklusiv, aber doch eine Besonderheit. Historische Dokumente der Markuskirche zeigen, dass für diese Psalmen die Aufteilung der Kapelle in zwei Gruppen, mit vier Sängern in einem Chor und den übrigen Sängern in einem anderen, auf einer älteren Tradition der Aufführung des relevanten liturgischen Gesangs beruhte.

 Eine Hypothese besagt, dass die für große Ensembles vertonten liturgischen und paraliturgischen Texte als religiöse Allegorien dienten, um wichtige Ereignisse im weltlichen Leben der Serenissima darzustellen, ähnlich den figurativen Allegorien, die von Künstlern wie Veronese oder Tintoretto gemalt wurden. Da der Markusdom die offizielle Staatskirche war, wurde sie außer für die regulären liturgischen Feierlichkeiten auch als Plattform für die Feier wichtiger Ereignisse der Republik genutzt. Es ist anzunehmen, dass man im Rahmen der religiösen Feiern solche Texte aus der Liturgie wählte, die bestimmte Momente der venezianischen Geschichte allegorisch zum Ausdruck brachten. Diese wurden durch grandiose Orgelkompositionen zusätzlich überhöht. Nicht-liturgische Texte wurden wahrscheinlich in ähnlicher Absicht geschrieben. Das “mythische” Bild Venedigs, das durch Geschichtsschreibung, politische Abhandlungen und Rhetorik vermittelt wurde, betonte die harmonische Beziehung zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft, wobei Themen wie der göttliche Ursprung der Stadt und die Inspiration hinter ihren Gesetzen und Einrichtungen betont wurden.

Bibliographie
  • BRYANT, D (1979). Liturgia e Musica liturgica nella fenomenologia del ‘Mito di Venezia’. In G.M altri, Mitologie. Venezia: Morelli.
  • BRYANT, D (1981). The Cori Spezzati of St. Mark’s: myth and reality. Early Music History (I), 165-86.

 

Geboren in Bologna, Italien, studierte Andrea Angelini Klavier und Chormusik an den Konservatorien von Rimini und Ferrara, wo er einen Master erhielt. Er promovierte in Chormusik am Konservatorium von Cesena. In England und Rom studierte er die Chormusik der Renaissance. Er ist der künstlerische Leiter und Dirigent des professionellen Vokalensembles Musica Ficta. Seit vielen Jahren dirigiert Andrea Angelini Konzerte mit dem Chor Carla Amori in Italien und im Ausland. Außerdem hat er als Gastdirigent viele bedeutende Ensembles geleitet. Bei vielen internationalen Chorwettbewerben in Italien, Europa und Asien war er Mitglied der Jury. Er leitet häufig Chorseminare in Italien und im Ausland. (Ungarn, Malaysia, Russland, China, Moldawien, Rumänien, Kroatien). Angelini ist außerdem künstlerischer Leiter des Internationalen Chorwettbewerbs von Rimini, des Claudio-Monteverdi-Chorwettbewerbs, des Chorfestivals und -wettbewerbs “Königin der Adria” und des Chorfestivals “Liviu Borlan”. Er war elf Jahre lang Herausgeber des International Choral Bulletin (ICB), der Mitgliederzeitschrift der IFCM (International Federation for Choral Music). Derzeit ist er Präsident von AERCO, dem Regionalverband der Chöre der Emilia-Romagna. Andrea Angelini unterrichtet Chorleitung an der Musikhochschule in Castelfranco Veneto, Livorno und Reggio Emilia. thechoralconductor@gmail.com

Übersetzt aus dem Englischen von Reinhard Kißler, Deutschland

 

[1] Ich beziehe mich hier auf das Stimmtimbre, nicht auf das Geschlecht der SängerInnen. Im heutigen Sprachgebrauch will man mit den Worten „Altus“ oder „Contraltus“ deutlich machen, dass die Stimmen sowohl von männlichen als auch von weiblichen AltistInnen gesungen werden können. Zu jener Zeit durften Frauen in der Kirche nicht singen, also wurden Sopranstimmen von Falsettisten, Kastraten und Knaben gesungen. Wie ich später über die Knaben (putti sopranos) ausführe, ist es selbstverständlich, dass Sopranstimmen von Falsettisten oder Kastraten gesungen wurden.