Adrian Willaert, Kapellmeister an San Marco in Venedig

Übertragung und Analyse des Ave Maria zu vier Stimmen

 

Andreas Angelini, Chorleiter, Lehrer und Managing Editor des ICB

 

Die Jahre zwischen 1550 und 1560 waren eine Zeit unvergleichlichen Wohlstands für Venedig und seine Handelshäuser. Der wirtschaftliche Aufschwung begünstigte das Druckergewerbe – eine schnelle Zunahme der Anzahl von Druckereien war die Folge. Ihr Höhepunkt lag am Ende der 1560er Jahre, als das Gewerbe auf fünfzig oder sechzig Druckereien mit etwa sechshundert Angestellten angewachsen war. Die günstige wirtschaftliche Situation ermunterte auch eine Reihe von Berufsneulingen, eine Firma zu gründen.

Francesco Rampazetto war als Drucker ab 1553 bis zu seinem Tod um 1577 tätig. Er arbeitete meist im Auftrag anderer Druckhäuser und Verleger. Wie die meisten seiner Kollegen druckte er unterschiedlichste Bücher mit verschiedenartigen Inhalten, von Architektur bis Geschichte und Musik. Die meisten der von ihm gedruckten Bücher waren in der Landessprache gehalten, aber ebenso auf Latein, Griechisch und Spanisch. Von 1561 bis 1568 veröffentlichte er mindestens dreiunddreißig Musikdrucke und ein Buch zur Musiktheorie.

Viele seiner Veröffentlichungen wie z.B. das Erste Buch der geistlichen Lauden von Giovanni Rizzi (1563, für Jacopo und Filippo Giunti in Florenz), das Dritte Buch der Musen für vier Stimmen (1563, für Antonio Barré) sowie das Zweite Madrigalbuch für fünf Stimmen von Pietro Vinci (für Giovanni Comencino in Florenz) bestätigen seinen Status als Kommissionsdrucker für einzelne Auftraggeber und andere Drucker. Der Rest seiner Erstveröffentlichungen wurde direkt durch Komponisten oder Dritte veranlasst. Im Jahr 1566 druckte Rampazetto im Auftrag von Filippo Iusberti, einem Sänger an San Marco, die sechsstimmigen Motetten von Zarlino (Modulationes sex vocum). Außerdem legte er Nachdrucke wohlbekannter Vokal-Anthologien berühmter zeitgenössischer Komponisten vor, von denen eine „Mottetti del Fiore“ heißt [RISM 15646].

Der volle Titel lautet Mottetti del Fiore a Quattro voci novamente ristampati, et con somma diligentia revisti et corretti. Libro primo. – In Venetia, Appresso Francesco Rampazetto. – in 4° obl. Cantus, Tenor, Altus, Bassus. In tutto opuscoli quattro. (Mottetti del Fiore zu vier Stimmen, erneut gedruckt und sorgfältig überarbeitet und korrigiert. Buch I. Bei Francesco Rampazetto in Venedig. Quer-4°. Cantus, Tenor, Altus, Bassus. Insgesamt vier Bändchen.)

Ein Original des Drucks befindet sich im Museo Internazionale e Biblioteca della Musica di Bologna. Es enthält die folgenden Titel (die Verfasserangaben werden hier so zitiert wie im Dokument):

 

In te Domine speravi … Lerithier

Letetur omne seculum … Lupus

Filie Jerusalem … Archadelt

Panis quem ego dabo … Lupus

Beati omnes … Lerithier

Nisi Dominus … Lerithier

Descendit angelus … Hilaire Penet

Gloriosa uirgo … N. Paignier

Dum aurora … N. Paignier

Virtute magna … Lasson

Tu es Petrus … Gose

Domine quis habitabit … Jo. Courtois

Benedixit Deus … Archadelt

Ave Santissima Maria … N. Gombert

Fuit homo … N. Gombert

Tanto tempore … Verdelat

Haec dies quam fecit … Archadelt

Beati omnes … Lupus

Sponsa Christi Cecilia … Loiset Pieton

Quam pulchra es … Jo. Lupi

Omnis pulchritudo domini … Dambert

Nisi ego abiero … Dambert

Vir inclitus … F. De Lis

Proba me domine … P. Manchicourt

Quem dicunt homines … Richafort

In conuertendo dominus … Lupus

Gabriel archangelus … Verdelot

Pater noster … Adrianus Wuillart

 

Zur Übertragung wurde die letzte Motette herangezogen. Ihr zweiter Teil (secunda pars) ist eine Version des „Ave Maria“ in einer Textfassung, die der offiziellen Klassifizierung im Jahr 1571 beim Anlass der Schlacht von Lepanto vorausgeht. Der von Adrian Willaert verwendete Text lautet:

 

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum,
benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Jesus.

Sancta Maria, Regina Coeli,
dulcis et pia, o Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus,
ut cum electis te videamus.

 

Diese 1564 gedruckte Motette ist eins der besten Werke von Willaert. In seiner Sprache ist Imitation nicht nur ein Kunstgriff, sondern vielmehr eine Technik, um den Ausdruck von Worten und Gedanken zu verstärken. Natürlich half die Tatsache, dass Willaert in Venedig lebte, wo die lange Liste von Vorschriften als Folge des Konzils von Trient (1545-1562) noch um Anerkennung rang, einen eigenen Kompositionsstil abseits päpstlichen Eingriffs zu entwickeln; sein Stil ist stark geprägt vom typisch venezianischen Kolorit.

Die Motette steht im ersten, dorischen Modus, der dem Gregorianischen „Protus authentus“ entspricht, nach g transponiert; sie ist in vier Abschnitte geteilt, die den vier Teilen entsprechen, aus denen dieses Gebet an die Jungfrau sich zusammensetzt. Die Verse sind: „Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum“; „benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Jesus“; „Sancta Maria, Regina Coeli, dulcis et pia, o Mater Dei“; und „ora pro nobis peccatoribus, et cum electis te videamus“. Diese Verse und die folgenden Unterabteilungen können nicht nur an den Worten erkannt werden, die jeden Teil kennzeichnen, sondern ebenso an den harmonischen Kadenzen, die sie unterscheiden. Dies ist das Muster der Kadenzen, wie sie in der Komposition vorgefunden werden: es kann beobachtet werden, dass die offensichtliche Vorherrschaft des g zahlenmäßig durch die weniger übliche Subfinalis1  f  ausgeglichen wird, wo man eher die Verwendung von d erwarten würde.

 

Ave Maria                                          b perfekt-authentisch tenorizans2

Gratia plena I                                   g perfekt-authentisch tenorizans

Gratia plena II                                  f perfekt-authentisch tenorizans

Dominus tecum I                              g plagal

Dominus tecum II                            g perfekt-authentisch bassizans3

Benedicta tu I                                    f tenorizans

Benedicta tu II                                  b tenorizans

in mulieribus I                                  d perfekt-authentisch bassizans

in mulieribus II                                 g perfekt-authentisch bassizans

Et benedictus                                    d phrygisch tenorizans

Fructus ventris tui Jesus I             b perfekt-authentisch tenorizans

Fructus ventris tui Jesus II            f perfekt-authentisch bassizans

Sancta Maria I                                 f perfekt-authentisch tenorizans

Sancta Maria II                                c perfekt-authentisch tenorizans

Regina coeli                                       f perfekt-authentisch tenorizans

Dulcis et pia                                      d plagal

O Mater Dei                                      d phrygisch tenorizans

Ora pro nobis I                                 f perfekt-authentisch tenorizans

Ora pro nobis II                               c plagal

peccatoribus I                                   c perfekt-authentisch tenorizans

Ut cum electis te videamus I         g perfekt-authentisch bassizans

Te videamus II                                 g plagal

 

Nachdem der Tenor sein erstes melodisches Modell vorgestellt hat, intoniert er in Pfundnoten das gregorianische „Ave Maria“, ebenso in anderen Teilen der Komposition – so kann man sich die ganze Komposition als auf dem cantus firmus4 aufgebaut denken.

Der erste Vers, der weiter in drei Teile getrennt werden kann (‚Ave Maria’, ‚gratia plena’ und ‚Dominus tecum’) ist imitierend. Das eröffnende Quartintervall auf das Wort „Ave“ bestimmt das Folgende und wird von fast allen Stimmen wiederholt, hin und wieder mit verkürzten Notenwerten. Man kann beobachten, dass am Ende dieses Abschnitts alle Stimmen auf den Text „Dominus tecum“ der Modulation der rhetorischen Figur katabasis [Absteigen] folgen.

Im zweiten Abschnitt verwendet der Komponist auf den Text „Benedicta tu in mulieribus“ den kunstvollsten Kontrapunkt des ganzen Stücks. Man kann im Tenor5 noch einmal ein Fragment des cantus firmus erkennen. Der letzte Teil des zweiten Abschnitts bedient sich einer klar rhetorischen Natur: die Worte „Fructus ventris tui“ werden hauptsächlich auf lange und ‚weiße’ Noten gesungen, die man leicht mit der Mutterbrust assoziiert.

Der dritte Abschnitt enthält eine Textvariante des üblichen „Ave Maria“. Nachdem die Worte „Sancta Maria“ im Stil eines Biciniums6 vorgestellt wurden, fährt das Stück mit einer homophonen Modulation fort, besonders auf den Text „Regina coeli“, der auf diese Weise stimmlich hervorgehoben wird.

Der letzte Abschnitt kehrt zum imitierenden Stil zurück, und ein und derselbe Text – „ut cum electis te videamus“ – wird dreimal wiederholt. Die Melodie ist gekennzeichnet durch das Anfangsintervall einer aufsteigenden Quint mit nachfolgend wiederholten Noten und einer „circulatio7, die den Blick auf den Text „te videamus“ zu lenken scheint. Nach einer perfekt-authentischen Kadenz hin zu g endet das Stück mit einer typischen plagalen Kadenz, die auf der finalis8 aufbaut, die vom Tenor gehalten wird („manubrium“).

Die bemerkenswerte künstlerische Höhe, die Willaert in dieser Motette erreicht, verdankt sich der Meisterschaft im Umgang mit dem Notenmaterial und seiner Fähigkeit, die Verwandtschaft von Text und Musik mithilfe einfacher technischer Mittel zu entwickeln, die sich im Ausdruck zeigen. Es ist interessant zu beobachten, wie häufig das Leitwort eine Fortentwicklung des Anfangsmotivs ist und wie die freien Stimmen die Gestalt einer Entwicklung rhythmisch-melodischer Zellen annehmen, die auf das ursprüngliche Thema zurückführen. Diese auffallende thematische Einheitlichkeit wird sehr einfallsreich mit kontrapunktischen und imitierenden Techniken verwendet, die zur stetigen Fortentwicklung der Musik führt, ohne sich jemals zu wiederholen.

 

Unten sind die Stimmbücher abgedruckt, wie sie sich in der Anthologie von Rampazetto finden, ferner die gregorianische Antiphon „Ave Maria“ und meine Übertragung.

 


In einem authentischen Modus der Ton unterhalb der Finalis.

In einer Kadenz wird dies clausula tenorizans genannt (möglicherweise, weil gregorianische Melodien immer in einer schrittweisen Abwärtsbewegung zur finalis enden – und der Tenor war ursprünglich die Stimme, die den cantus firmus hielt, die zugrundeliegende gregorianische Melodie).

Ein Sprung im Bass innerhalb einer Kadenz (im Dorischen, Lydischen und Mixolydischen 5-1, im Phrygischen eher unbestimmt) wird als clausula bassizans.

In Musik ist der cantus firmus (fester Gesang) eine vorher existierende Melodie, die das Rückgrat einer mehrstimmigen Komposition abgibt. Der Plural dieses lateinischen Begriffs ist cantūs firmi, obwohl die korrupte Form canti firmi (die sich aus der ungenauen Zuordnung von cantus als Substantiv zur zweiten statt zur vierten Deklination ergibt) ebenso vorkommt. Oft wird auch das Italienische benutzt: canto fermo (und die italienische Mehrzahl heißt dann canti fermi).

In der mehrstimmigen Musik des 13.-16. Jahrhunderts bezieht sich der Begriff ténor auf die Stimme, die den cantus firmus „hält“, den Choral oder eine andere Melodie, auf der sich eine Komposition üblicherweise aufbaute. Die darüberliegende höchste Stimme wurde superius genannt (heute der Sopran), und die dritte hinzugefügte Stimme hieß contratenor. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde Vierstimmigkeit die Norm und die Stimme des Contratenors teilte sich in contratenor altus (heute der Alt) und contratenor bassus (heute der Bass). Der Begriff tenor verlor allmählich seine Beziehung zu einem cantus firmus und bezog sich auf die Stimme zwischen Alt und Bass, also auf die mittlere Stimmlage.

In der Musik der Renaissance und des Frühbarock bezeichnete bicinium (pl. bicinia) eine nur zweistimmige Komposition, meist mit pädagogischer Bestimmung.

Die circulatio (circulo, circolo) wird gebildet, indem man zwei umgekehrte (an- oder absteigende, intendens und remittens) circuli mezzi so aneinander anfügte, dass, wären die beiden ‚Halbkreise’ übereinander gesetzt, sich ein ganzer Notenkreis ergeben würde. Diese Figur wird sowohl als textausdeutende musikalisch-rhetorische Figur wie auch als einfaches Ornament definiert (figura simplex, Manier).

Die musikalischen Modi beschreiben die finalis oder Hauptnote in Bezug auf zwei Tonräume: den authentischen, der hauptsächlich oberhalb der Hauptnote liegt, und den plagalen, der deutlich unterhalb der Hauptnote liegt. In beiden Fällen ist die finalis die Tonhöhe, mit der die Komposition endet, wobei es unerheblich ist, ob die erste Note mit der finalis übereinstimmt oder nicht.

 

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collage_new ave maria 1 ave maria 2 ave maria 3 ave maria 4 ave maria 5

 

 

Übersetzung aus dem Englischen: Klaus L Neumann, Deutschland

Edited by Graham Lack, Germany / Great Britain