Ein künstlerischer Wettstreit zwischen Chordirigenten zu Ehren von Boris Tevlin
Von Nelly Souslova, Verwaltung der Lehr- und Kreativprogramme am Moskauer Konservatorium, Abteilung Festivals, Wettbewerbe und Sonderveranstaltungen
Jährlich finden weltweit viele Feste und Wettbewerbe für Chöre jeglichen Leistungsniveaus statt: für Kinder- und Jugend-, Profi- und Amateurchöre. Die Ensembles mit der besten Gesangsleistung erhalten die wohlverdiente Anerkennung im Rahmen dieser Veranstaltungen unter der Leitung ihrer Dirigenten. Die Höhen der chorischen Kunst lassen sich nur durch tägliche harte Arbeit der Chorleiter und ihrer Teams über viele Jahre hinweg erreichen. So nimmt die Jury, während sie den chorischen Darbietungen lauscht, eigentlich eine Bewertung der Arbeit der Chorleiter vor, da sich bei all diesen wettbewerblichen Programmen die Kunstfertigkeiten der chorleitenden Dirigenten einerseits und die der Chorsänger und -sängerinnen andererseits in einer untrennbaren Einheit verschmolzen offenbaren.
Daneben gibt es verschiedene andere Faktoren, die in den unterschiedlichen finanziellen, gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen begründet liegen und von großer Bedeutung sind. Man muss sich nur einmal die Frage stellen, wie oft das Schicksal einem jungen Nachwuchsdirigenten wohl ideale Lebensumstände beschert, um seine Talente zur vollen Entfaltung zu bringen. Die Antwort darauf fiele wohl kaum positiv aus. Für einen jungen Dirigenten ist es angesichts der Tatsache, dass es bereits so viele berühmte, erfahrene, traditionsreiche und vielfach ausgezeichnete Chöre gibt, ausgesprochen schwierig, einen neuen Chor ins Leben zu rufen. Trotz des anstehenden bzw. sich bereits vollziehenden Generationenwechsels an den Dirigentenpulten auch dieser Ensembles ist die Zeitspanne, während derer der Nachwuchs in den Startlöchern sitzt und auf seinen Auftritt wartet, ziemlich lang. Damit das vorhandene Talent in das Bewusstsein des Publikums rücken und dessen entsprechende Anerkennung erfahren kann, ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass die Jugend gleich zu Beginn ihrer Laufbahn die Chance zur beruflichen Selbstentfaltung erhält.
Es ist genau dieser Widerspruch, der das Moskauer Konservatorium auf die Idee brachte, ein neues Wettbewerbsformat zu definieren. Im März 2014 wurde der „Erste Internationale Boris-Tevlin-Dirigentenwettbewerb“ veranstaltet. Unter den Teilnehmern und Teilnehmerinnen fanden sich junge Dirigenten – Absolventen und Studenten der Konservatorien und Hochschulen verschiedener Länder. Der Wettbewerb war als herkömmlicher, seminarähnlicher Kurs in Chorleitung konzipiert. Die Wettbewerbsteilnehmer und -teilnehmerinnen mussten ihre Kenntnis der Chorpartituren unter Klavierbegleitung unter Beweis stellen sowie eine Chorprobe unter zugesicherter Mitwirkung des Kammerchors des Moskauer Konservatoriums gestalten. Durch die Zusammenarbeit mit ein- und demselben Chor (einem der besten Moskaus!) waren für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen die gleichen Bedingungen gegeben.
Dieses Ensemble verdient eine besondere Erwähnung. Der Kammerchor des Moskauer Konservatoriums wurde 1995 von Boris Tevlin gegründet. Unter seiner Leitung erreichte der Chor weltweite Anerkennung, gewann zahlreiche angesehene Preise und Auszeichnungen und gestaltete viele Uraufführungen. Im Jahr 2012, unmittelbar nach dem Tod ihres großen Lehrmeisters, entschieden seine SchülerInnen und AnhängerInnen, den Wettbewerb nach ihrem Professor zu benennen. Es war sein Lebenstraum gewesen, einen derart professionellen Wettbewerb für junge Nachwuchsdirigenten zu etablieren, und so waren es seine kreativen Ideen, die bei der Festlegung der Wettbewerbsbedingungen als Basis herangezogen wurden.
Boris Tevlin widmete sich mit größter Sorgfalt den klassischen Werken, förderte zugleich aber auch beständig und furchtlos die zeitgenössische Musik. „Ich verlassene gerne ausgetretene Pfade, und schließlich haben sich die musikalischen und kompositorischen Techniken in den vergangenen sechzig Jahren wesentlich geändert – und wir müssen in der Lage sein, sie zur Aufführung zu bringen“- so erklärte er sein starkes Interesse an dem neuen Repertoire. Viele moderne Chorwerke wurden unter seiner Leitung uraufgeführt, darunter einige, die ausdrücklich für seine Ensembles geschrieben worden waren.
Die Organisatoren des Wettbewerbs waren bemüht, diese organische Synthese aus Tradition und Innovation bei der Gestaltung des Wettbewerbsprogramms umzusetzen. So wurde den TeilnehmerInnen auferlegt, ein Programm vorzulegen, das sowohl klassische Werke von Brahms, Verdi, Taneyev, Stravinsky als auch Chorwerke von Komponisten wie Agafonnikov, Barkauskas, Gubaidulina, Evgrafov, Kikta, Schnittke, Miskinis, Shchedrin umfasste. Bei den letztgenannten handelt es sich um zeitgenössische Komponisten, von denen zahlreiche dem Wettbewerb beiwohnen konnten.
Weil er aus gesundheitlichen Gründen der Jury nicht vorsitzen konnte, ließ der Komponist Rodion Shchedrin seine herzlichen Grüße übermitteln. Auf seinen Wunsch hin übernahm der russische Chorleiter Lev Kontorovich – künstlerischer Leiter und erster Dirigent des großen akademischen Chors „Master of Choral Singing“, ebenso als einer der besten Chöre Russlands bekannt – den Vorsitz der Jury.
Der litauische Komponist und Chorleiter Vytautas Miskinis war einer der Jurymitglieder neben Vertretern aus anderen Ländern wie Angela Morales (Costa Rica), Theodora Pavlovich (Bulgarien), Cao Tongyi (China), Gulmira Kuttybadamova (Kasachstan). Es hat Symbolcharakter, dass viele dieser Musiker einst bei Professor Tevlin studiert hatten und somit direkte Erben und Nachfolger dieser Schule sind.
Zu Beginn seiner Laufbahn erlernte Boris Tevlin die Feinheiten der Chorleitung von Alexander Sveshnikov im Zuge seines Aufbaustudiums. Später leitete Tevlin den „Staatlichen Akademischen Chor Sveshnikov“. Und er wuchs, wie er sagte, durch die Auseinandersetzung mit seinen Studenten. Boris Tevlin verlangte äußerste Präzision und größtmögliche Disziplin von den zukünftigen Chordirigenten. Dies mag der Grund dafür sein, dass seine Schüler weltweit gefragt und beschäftigt sind. Er hielt den Kontakt zu vielen von ihnen aufrecht und verweigerte niemals seine Hilfe und Unterstützung. Wie er immer wieder gerne offenbarte, sind es die jungen Menschen, die die Inspiration und den künstlerischen Impetus in sich tragen. Und die Absolventen von gestern – heute reif, weise und mit Berufserfahrung – nahmen die wohlverdienten Plätze in der Jury des Wettbewerbs ein.
Neben den zwei erwähnten Chören leitete Tevlin über die Jahre eine Reihe von anderen Ensembles, so u.a. den Moskauer Jugend- und Studentenchor, den gemischten Chor der Chorleiter und Meisterdirigenten, den Russisch-Amerikanischen Chor …. Der Komponist und Träger des Ehrentitels „Volkskünstler Russlands“, Alexander Tchaikowsky, sagte: „Alle Chöre, die er leitete oder leitet, zeichnen sich durch eine absolute tonale Genauigkeit aus, einfach perfekt! Sehr sauber! Für ihn liegt darin wahrscheinlich eine der wichtigsten Grundlagen der Chorkunst“ … Diese fokussierte Beachtung der Intonation, die für die Aufführung sehr komplexer moderner Musik von kritischer Bedeutung ist, war eines der Kriterien für die Bewertung der Leistungen der Wettbewerbsteilnehmer und -teilnehmerinnen. Und natürlich auch die Expressivität der Dirigiergestik, die Tiefe des Verständnisses und der Vermittlung des künstlerischen Bildes, die Fähigkeit, den Sängern und Sängerinnen den gewünschten Klang zu entlocken – von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Ersten Internationalen Boris-Tevlin-Dirigentenwettbewerbs wurde erwartet, all diese Fertigkeiten zu zeigen.
Obwohl dieser Wettbewerb zum ersten Male ausgeschrieben worden war, gingen beim Organisationsteam mehr als fünfzig Bewerbungen aus Russland, China, Vietnam, Polen, Schweden, Belarus, der Ukraine, Usbekistan und Kasachstan ein. Nur 29 aus diesem Bewerberkreis wurden ausgewählt und zur ersten Runde des Wettbewerbs zugelassen. 13 Bewerber wurden zur zweiten Runde und nur 8 Bewerber für die Endrunde zugelassen. Neben dem Wettstreit der Vertreter der verschiedenen nationalen Schulen standen sich mit den TeilnehmerInnen aus den beiden größten russischen Kulturzentren – Moskau und St. Petersburg – ernsthafte Rivalen gegenüber, die sich einen wirklich aufregenden Wettstreit lieferten. Als Siegerin ging letztlich eine Teilnehmerin aus St. Petersburg hervor – Alexandra Makarova, und die Entscheidung der Jury deckte sich mit der Meinung des Publikums. Ihre Art der Chorleitung wurde allgemein als die herausforderndste, profundeste und professionellste erachtet.
Der zweite Preis ging an einen Absolventen des Moskauer Konservatoriums – Gleb Kardasevich. Den dritten Preis teilten sich die Moskauerin Maria Chelmakina und der Chinese Wand Chao. Drei weitere russische Teilnehmer sowie Justina Helminska aus Polen erhielten Urkunden.
Das Programm in der Endrunde wies Besonderheiten auf. Jeder Teilnehmer bzw. jede Teilnehmerin sah sich vor die Aufgabe gestellt, eine Komposition zu dirigieren, die nach der zweiten Runde aus einer Reihe von vorab angekündigten zeitgenössischen Werken durch das Los bestimmt wurde. Der Chor hatte natürlich zuvor alle Stücke einstudiert. Die TeilnehmerInnen mussten jedoch ihre eigene Interpretation überzeugend einbringen, um den Sängern und Sängerinnen den Klang zu entlocken, der sich mit ihren Vorstellungen deckte, und dies in einer kurzen Probenzeit von nur 15 Minuten.
Am Ende der dritten Runde wurden diese Werke in das Konzertprogramm der Abschlussgala aufgenommen, bei dem der Kammerchor des Moskauer Konservatoriums zusammen mit den Finalisten auf der Bühne des berühmten Großen Konzertsaals des Konservatoriums auftrat.
Dieses Ereignis kam einer wahren Zelebration der Chorkunst gleich. Die russischen Medien berichteten ausführlich und umfassend über den Wettbewerb. Die Journalisten waren an der Meinung der Teilnehmer und des anspruchsvollen Publikums interessiert und bestürmten geradezu die Mitglieder der Jury bei der Pressekonferenz.
Ein solches Interesse an einem Dirigentenwettbewerb ist kein Kind des Zufalls. Über alle Aspekte, die mit der Entwicklung der Chorkunst im modernen Russland zusammenhängen, wacht die stellvertretende Premierministerin Olga Golodets persönlich. Unter ihrer leitenden Schirmherrschaft wurden die besten Kräfte des Landes gebündelt, selbst die allrussische Chorvereinigung „All-Russian Choral Society – ARCS“ wurde wiederbelebt. Diese Organisation kann auf eine lange und erfolgreiche Geschichte in Sowjetzeiten zurückblicken, kam aber dann zum Erliegen. Die neubelebte ARCS hat nun ihre Aktivitäten dank des Interesses auf höchster Regierungsebene wieder aufgenommen.
Die ARCS wurde geleitet von dem bekannten Dirigenten Valery Gergiev. Die russische Gesellschaft hofft, dass die Wiederbelebung der ARCS die Geburt einer neuen Epoche nationalen Interesses an chorischem Gesang einleitet.
Unter diesen Umständen gewinnt der Beruf des Chorleiters bzw. Dirigenten eine besondere Bedeutung. Das Moskauer Konservatorium besitzt einzigartige Erfahrung und Tradition in der Ausbildung junger Nachwuchsdirigenten. Der Vorsitzende des Organisationskomitees des Ersten Internationalen Boris-Tevlin-Dirigentenwettbewerbs – der Rektor des Moskauer Konservatoriums Alexander Sokolov – gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich der Wettbewerb zu einem regelmäßig wiederkehrenden Event etablieren werde. Momentan ist eine Periodizität von drei Jahren angedacht. Das Moskauer Konservatorium verfügt über die notwendigen Voraussetzungen hierfür. Für die Organisation von Wettbewerben ist die Verwaltungsabteilung Lehr- und Kreativprogramme („Administration for Educational and Creative Programs“) unter der Leitung von Ksenia Bonduryanskaya zuständig. Die von Professor Tevlin begründeten Chortraditionen werden von seinen Kollegen und Kolleginnen im Fachbereich Moderne Chorkunst („Modern Choral Art“) sorgfältig bewahrt. Die Schule Boris Tevlins lebt im Klang des von ihm gegründeten Kammerchors fort. Dieses Ensemble wird nun von seinem Schüler und Nachfolger, dem Dekan der Fakultät der Ausländischen Studenten („Foreign Students Faculty“), Alexander Solovyev, geleitet. Dessen organisatorischem Talent ist es zu verdanken, dass durch Bündelung der Bemühungen vieler Menschen der Traum von Professor Tevlin verwirklicht werden konnte, einen internationalen Dirigentenwettbewerb ins Leben zu rufen.
Aus dem Russischen ins Englische übersetzt von Vitali Gavrouc
Aus dem Englischen Übersetzt von Petra Baum, Deutschland