Ein internationales Chorprojekt in St. Petersburg: Boris Abaljans Workshop
Alexandra Makarowa, Chorleiterin
Ende August 2016 fand in St. Petersburg der 2. Internationale Workshop für Chorleitung unter der Leitung von Professor Boris Abaljan vom staatlichen Konservatorium St. Petersburg statt. Boris Abaljan ist Träger der Auszeichnung “Geehrter Künstler Russlands“. Die Meisterklasse wird vom Musikkonservatorium Rimski-Korsakow, an dem Professor Abaljan seit über 40 Jahren lehrt, und vom Kammerchor Festino organisiert.
Boris Abaljan
Russischer Chorleiter und Lehrer. Gründer, künstlerischer Direktor und Leiter des Kammerchores Lege Artes.
Unter der Leitung von Boris Abaljan hat der Chor mehr als 20 CDs in Zusammenarbeit mit den Labels Sony Classical, Mazur Media GmbH und der musikalischen Verbindung Northern Flowers aufgenommen. Die Aufnahme von 2 CDs mit alter russischer Musik ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit Musikwissenschaftlern der Abteilung für mittelalterlichen Gesang des staatlichen Konservatoriums Sankt Petersburg. Boris Abaljan ist der Hauptleiter des Chores Gracias. Unter der Leitung von Professor Abaljan nahm dieser Chor an verschiedenen internationalen Wettbewerben im Ausland teil, unter anderem in Süd-Korea.
Die Struktur des Workshops
Dieser Workshop ist ein einzigartiges Projekt der Musikerziehung. Dergleichen findet man sonst weder in St. Petersburg noch in der allgemeinen Chorerziehung in Russland überhaupt. Der erste Workshop fand 2015 statt und bezeugte die Effektivität und Bedeutung dieser Form des Lernens.
Von Anfang an erreichte der Workshop internationales Renommee. In den letzten beiden Jahren kamen die teilnehmenden jungen Chorleiter aus Japan, Polen, Weißrussland und Russland.
Das Programm des eine Woche dauernden Workshops beinhaltet theoretische und praktische Trainingseinheiten. Der theoretische Kurs beinhaltet zwei Unterrichtstage mit Professor Abaljan und zwei Pianisten sowie verschiedene Vorlesungen zur Chorausbildung. Das praktische Programm beinhaltet die Arbeit mit dem Kammerchor Festino während 4 Tagen und die Darbietung eines Abschlusskonzertes. Das Ziel ist eine Verbesserung der professionellen Fertigkeiten auf dem Gebiet der Interpretation und der Analyse der Partitur, der Probenarbeit und Konzertpraxis sowie eine signifikante Erweiterung des Repertoires.
“Wie ich schon gesagt habe, ist es das Ziel, Leute einzuladen, die wirkliches Interesse an diesen Dingen zeigen. Lassen Sie mich das erläutern: Studenten in Chorleitung und junge Chorleiter, die bereits begonnen haben zu arbeiten, haben unterschiedliche Probleme und Fragen. Ich nehme an, Sie werden mit mir einer Meinung sein, wenn ich sage, dass ein Student, der bereits einen Universitätsabschluss hat, “alles weiß“. Nur durch die Praxis werden sich neue Fragen ergeben, und die Meisterklasse kann die Antworten geben. Ein Student, der gerade seinen Abschluss am Konservatorium gemacht hat, hat mehr Antworten, und ein junger Chorleiter hat mehr Fragen. Ich bin tief davon überzeugt, dass die Fragen auftreten werden, wenn Sie mit der Arbeit beginnen, aber während der Ausbildung im Klassenraum mit dem Professor erscheint alles normalerweise klar zu sein.“ (B. Abaljan).
Repertoire
Die Bandbreite der Werke, die das Programm der Meisterklasse beinhaltet, ist repräsentativ für den kulturellen Raum St. Petersburgs als einer Plattform, auf der sich russische und europäische Trends begegnen. Das Repertoire beinhaltet Werke dreier Stilepochen: russischen Gesang des Mittelalters, zeitgenössische Musik von Komponisten aus St. Petersburg und zeitgenössische Musik aus Westeuropa.
St. Petersburg ist die einzige Stadt in Russland, wo das Studium mittelalterlicher Gesangskultur auf einem hohen professionellen Niveau gehalten wird. In Zusammenarbeit mit dem St. Petersburger Konservatorium haben Boris Abaljan und der Kammerchor Lege artes zwei CDs mit alten russischen Gesängen aufgenommen. Die sorgfältige Arbeit des Chorleiters und der Wissenschaftler der Mediävistik haben im Ergebnis zu einem innovativen Aufführungsstil geführt, indem ein tiefes Verständnis der heiligen liturgischen Sphäre eingebunden wurde in die Konzertaufführung auf der Bühne. Russische Musik der vorpetrinischen Zeit (vor Peter dem Großen, Zar von 1682 bis 1725), ist immer noch „terra incognita“, nicht nur für ausländische, sondern auch für russische Künstler. Deswegen stellt die Einführung in sie und die Anweisungen für die Chorleiter einen einzigartigen Teil des Workshops dar. Neben der praktischen Arbeit mit dem musikalischen Material wird den Teilnehmern die Gelegenheit gegeben, Vorlesungen von führenden Experten des staatlichen Konservatorium St. Petersburg über die Geschichte und den Stil des russischen Kirchengesangs und der frühen russischen Polyphonie zu hören.
Zeitgenössische Chormusik von Komponisten aus St. Petersburg war immer ein wesentlicher Bestandteil des Konzertrepertoires vieler führender russischer Chöre. Juri Falik, Sergei Slonimski, Anatoli Koroljow, Alexander Knaifel und Dmitri Smirnow – all diese Namen sind weltweit gut bekannt. Während der Meisterklasse arbeiten die Teilnehmer nicht nur an den besten Beispielen der zeitgenössischen Chormusik aus St. Petersburg, sondern haben auch Gelegenheit, direkt an die Komponisten heranzutreten. Im Jahr 2016 gab es zwei Begegnungsvorlesungen: mit Dmitri Smirnow und Anatol Koroljow.
Die Hereinnahme moderner westeuropäischer Chormusik in das Programm des Kurses ist sehr wichtig, um das Konzertrepertoire der russischen Jugend zu erweitern. Die Teilnehmer der Meisterklasse haben Gelegenheit, neue Namen und interessante Werke zu entdecken, die es ihnen ermöglichen, sich weiterhin und erfolgreicher in die westliche Chorgemeinschaft zu integrieren.
Teilnehmer
Eingeladen zur Teilnahme an dem Workshop sind junge Chorleiter unter 35, Studenten und Graduierte höherer Ausbildungsinstitute mit Erfahrung in Chorleitung.
Dieses Jahr gab es 6 aktive Teilnehmer in der Meisterklasse. Pawel Choina aus Warschau, Elena Klimowa aus Minsk, Christina Piwiwarowa aus Nowosibirsk, Ilja Malafej aus St. Petersburg und Natalja Schelkowskaja und Daniel Tschurilow aus Moskau. Diese jungen Chorleiter wurden ausgewählt aufgrund eines Videos, das sie bei ihrer Arbeit oder bei einem Konzert mit einem Chor zeigt. Zusätzlich zu diesen sechs Aktiven gab es in der Meisterklasse passive Teilnehmer aus Petrosawodsk, Saratow, Jaroslawl, Nischni Nowgorod und Moskau.
“Natürlich kann niemand in einer Woche lernen, was andere über Jahre hin lernen, aber diese Woche führte zu beachtlichen Veränderungen, meist im Sinne der Musik, der methodischen Arbeit mit den Sängern. Es ist sehr schwierig, mit einer Geste das auszudrücken, was der Chorleiter in der Musik hört, daher muss er es mit Worten erklären oder mit der Stimme vorführen.“ (B. Abaljan)
Komponisten
Ein wichtiger Aspekt der Arbeit in der Meisterklasse ist die Begegnung von Chorleitern und Komponisten, deren Werke im Workshop präsentiert werden. Gemeinsame Proben helfen, den Stil und die Idee einer Komposition zu verstehen und die Kreativität des Schöpfers in der Tiefe freizusetzen. Im Jahr 2016 nahmen zwei Komponisten, Dmitri Smirnow und Anatol Koroljow, an den Proben teil. Zusätzlich veranstalteten die Komponisten Kreativtreffen und beantworteten den Teilnehmern alle Fragen von Interesse.
“Ich stelle fest, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen merkwürdigen Trend gab, nämlich wenn die Komponisten und die Darbieter eine Art “Tandem“ bildeten. Zum Beispiel Schostakowitsch – Mrawinski, Swiridow – Tschermuschenko oder Swiridow – Minin, Gavrilin – Minin oder Gavrilin – Tschermuschenko. In diesen Fällen hat der Chorleiter nicht nur zu verstehen, was gesagt wird, sondern auch das, was nicht notiert wird. Ich hatte das Glück, viel mit Dmitri Smirnow, Anatol Koroljow und Juri Falik, Sergei Slonimski zusammenzuarbeiten, sie halfen mir, ihren Stil zu entziffern. Solch eine schöpferische Gemeinschaft kann nicht hoch genug geschätzt werden.“
Zukünftige Workshops
Der nächste Workshop wird Ende August 2017 stattfinden. Anmeldungen werden ab Ende März entgegengenommen. Die Organisatoren planen, das Programm der theoretischen und praktischen Abschnitte zu erweitern und den Studenten in die einzigartige Diversität der russischen Chorkultur einzuführen. Wir hoffen, dass die internationale Meisterklasse von Professor Abaljan ein jährlich stattfindendes Ereignis wird, das Chorleiter aus Russland und aus anderen Ländern zusammenbringt.
Alexandra Makarowa wurde 1986 in Leningrad geboren. 2010 machte sie ihren Abschluss in Chorleitung am staatlichen St. Petersburger Konservatorium Rimski-Korsakow (Klasse von Boris Abaljan), und 2015 beendete sie ihr postgraduiertes Studium am Konservatorium. Sie gewann einen Preis bei einem Wettbewerb in Riga (International Jāzeps Vītols Conducing Competition 2009, den 4. Preis und den Sonderpreis des lettischen Rundfunkchores) und den internationalen Boris-Tewlin-Chorleitungs-Wettbewerb in Moskau (2014, 1. Preis). Seit 2008 leitet sie den Kammerchor Festino (St. Petersburg). 2013 rief sie den Kammerchor der Polytechnischen Universität ins Leben. Alexandra Makarowa hat ebenfalls folgende Chöre geleitet: den Studenten- und Kammerchor des St. Petersburger Konservatoriums, den Kammerchor des Moskauer Konservatoriums, den Studentenchor der lettischen Akademie für Musik, den lettischen Rundfunkchor. Email: makarena-@mail.ru
Übersetzt aus dem Englischen von Manuela Meyer, Deutschland