Schönheit jenseits der Unterschiede

Der 12. internationale Kammerchorwettbewerb Marktoberdorf

 

Von Tim Koeritz

 

Wettbewerb, aber auch Begegnung untereinander, das ist nun schon zum 12. Mal das Ziel des Internationalen Kammerchor-Wettbewerbs Marktoberdorf, der vom 10. bis zum 15. Juni stattfand und diesmal die Kategorien der gemischten Chöre  und der Frauenchöre berücksichtigte. Im ländlichen Allgäu hat sich seit Jahren dieses besondere Chorzentrum gebildet, das zum internationalen Mekka der Chormusik aufgestiegen ist. Hier trifft sich die internationale Chorszene und diskutiert die Entwicklungen in der Chormusik. Für Chorkenner weltweit ist Marktoberdorf ein klingender Name. Der direkte Hörvergleich unterschiedlicher Klang- und Interpretations-Ideale ist spannend. Und immer wieder fragt man sich: Kann eine Jury, auch und gerade weil sie aus verschiedenen Ländern stammt, die Qualitäten der Chöre entdecken, auch hinter manch ungewohnten lokalen Vokal- und Stimmfärbungen bzw. Gesangstraditionen? Diesmal kamen die Juroren unter dem Vorsitz der deutschen Gudrun Schröfel aus Schweden, Venezuela, Taiwan, Slowenien, Kanada und Armenien. Das slowenische Mitglied der Jury, Martina Batič kommt hierbei zu einer vielleicht überraschenden Erkenntnis: „Man staunt über die verschiedenen Farben der Chöre, die ja aus verschiedenen Ländern kommen. Die Jury kam diesmal sogar von verschiedenen Kontinenten. Aber wir sind uns alle interessanterweise einig, was schön ist oder was uns berührt oder was uns zu Herzen geht“. 

Diskussionsstoff gibt es naturgemäß bei Interpretationsunterschieden und der Frage nach der Stiltreue. Da ist es vergleichsweise problematisch, wenn beispielsweise der hervorragende kubanische Chor Entrevoces aus Havanna ein Pflichtwerk der deutschen Romantik, Joseph Gabriel Rheinbergers Rhapsodie singen musste. Trotz ausgezeichneter Stimmtechnik und hohem Können muss auch ein solcher Chor an der genauen Vokalfärbung der deutschen Sprache scheitern. Frieder Bernius, einer der profiliertesten Chordirigenten in Deutschland und Kenner der Szene, der privat in Marktoberdorf war, will hier keine Gnade walten lassen: „Mir fällt es schwer, zu sagen, ja warum soll ich jetzt ganz liberal auch eine ganz andere Sicht von so einem Rheinberger akzeptieren. Ich finde, dass man das nicht sollte. Genauso wenig, wie man es als Europäer bei einem kubanisches Stück leicht hat oder wie beim ersten Stück im Frauenchorwettbewerb. Da wurde ein Stück von Rachmaninow gesungen. Man kann das nur machen, wenn man ein bisschen was von der Interpretationstradition der Russen oder der Kubaner kennt und wenn man den Klang der Sprache sehr gut kennt. Dies ist meine Meinung.“

Beim Rheinberger-Pflichtstück lagen, wen wundert’s, die deutschen Chöre vorn, vertreten durch den Chor Cantabile Regensburg unter der Leitung von Matthias Beckert und den Kammerchor der Hochschule für Musik, Detmold, geleitet von Anne Kohler.

Die Detmolder sangen den Rheinberger schließlich nicht perfekt, aber doch am angemessensten. Dennoch belegten sie „nur“ Platz 4. Ungewöhnlich viele der Chöre beider Kategorien landete diesmal in Marktoberdorf in der untersten Stufe III, „international gut“.  Dazu muss man wissen, dass es die weiteren Bezeichnungen „international sehr gut“, Leistungsstufe  II gibt und „international hervorragend“, Leistungsstufe I. Für die höchste Stufe muss eine bestimmte Mindestpunktzahl erreicht werden.

Unterm Strich war es ein mäßiger Jahrgang, wie Gudrun Schröfel eingestehen musste: „Die Qualität war gut, aber im Vergleich zu den Jahren davor hatten wir eben in der Leistungsstufe I international hervorragend“ früher doch mehr Chöre. Man hofft eigentlich, dass sich das im Laufe der Jahre auch wieder ein bisschen dahinentwickelt.“ Diese Leistungsstufe erreichte bei den gemischten Chören schließlich der kubanische Chor Entrevoces aus Havanna, dessen Klangsubstanz einfach die beste war. Dieser Chor hat zugleich die besten Bedingungen. Er probt täglich vier Stunden. Ist dies dann noch ein Laienchor, wie es das Reglement vorsieht? Hier gibt es wie so oft deutliche Verzerrungen bei Wettbewerben wie diesem. Andere Chöre setzen sich weniger aus beruflich mit Musik befassten Sängerinnen und Sängern zusammen und proben, weil sie ihren Berufen nachgehen müssen, nur einmal pro Woche, am Abend, wenn die Konzentration eigentlich schon verbraucht ist. Viele Chöre sind deswegen schon auf projektweises Proben umgestiegen.

Die Bedingungen sind immer schon die Voraussetzungen gewesen für hervorragende Leistungen in Marktoberdorf. Und wieder einmal lagen auch deshalb einmal mehr ein US-amerikanischer und ein schwedischer Chor mit vorn. In Leistungsstufe II „international sehr gut“ ordneten sich hinter den Kubanern die University of Louisville Cardinal Singers aus Kentucky mit einem zweiten Preis und der St. Jacobs Ungdomskör aus Stockholm mit einem dritten Preis ein, ein Chor dessen Sängerinnen und Sänger alle zwischen 19 und 25 Jahre alt sind, optimale Bedingung für eine Stimmhomogenität, die der Leiter des Ensembles Cantabile Regensburg so beschreibt: „Man hört aus diesem Chor, dass besonders die Frauen, über längere Jahre zusammen gesungen haben. Die verschmelzen in einer Form, wo man denkt: sind das jetzt Schwestern oder haben die alle die gleichen Eltern. Das ist wirklich ein Gefühl fürs zusammen Singen, das mich unglaublich beeindruckt hat in der Form.“ Diesem schwedischen Chor fehlt eigentlich nur noch eine gewisse Reife und Durchbildung der Stimmen. In Schweden steckt ein ganzes Ausbildungssystem hinter diesen Top-Leistungen, wie der Leiter Mikael Wedar erklärt: „In Schweden bzw. in Stockholm haben wir diese besondere Art der musischen Bildung, die nach ihrem Begründer, „Adolf-Fredrik-Musikklasse“ heißt. Seit ungefähr 70 Jahren gibt es dieses System der Musikklassen. Die Kinder beginnen im Alter von 10 Jahren, in Klasse vier. Dann haben sie sechs Jahre, in denen sie miteinander singen. Und sie singen viel, also in etwa sechs oder sieben Stunden in der Woche. Natürlich haben sie auch alle anderen ‚normalen‘ Fächer. Und danach hoffen wir, dass sie auf das Musikgymnasium gehen, an dem ich arbeite.“ Man hört ja in jedem Chor auch immer sofort den stimmlichen Ausbildungsstand der einzelnen Stimmen. Und man hört, wie am Gesamtklang eines Chores gearbeitet wird. Das Geheimnis eines optimalen Chorklanges ist eigentlich kein Geheimnis, sondern erklärt sich für Kent Hatteberg, den Leiter des amerikanischen Chores, im Grunde ganz einfach: „Es sind im Grunde drei Dinge, um die es geht: Die Intonation, die Vokalbildung und die Dynamik. Wenn die Dynamik und die Vokalfarben der Sänger untereinander sehr ausgeglichen sind und wenn Quinten und Terzen sauber intoniert werden, dann kann man eine wunderbare Balance und Homogenität erreichen. Trotzdem sollen die Stimmen nicht alle gleich klingen. Es geht mir ja gerade um die Vielfalt der Farbgebung, doch eben mit gutem Ausgleich der Vokale, Dynamik und Intonation. Und so entsteht einfach ein sehr homogener Klang.“

Die reine Klangqualität, aber auch Artikulationsfähigkeit und Stimmtechnik waren es dann auch, die den ukrainischen Chor vom Glière-Musik-Institut aus Kiew mit großen Abstand auf Rang 1 brachten in der Wertung und zu ihrem 1. Preis und der Einstufung „international hervorragend“ führte. Eindeutig war auch das Urteil der Jury-Vorsitzenden Gudrun Schröfel: „Das ist einfach ein Chor, der eine tolle Klangsubstanz hat, total ausgeglichen in allen Registern, auch super verblendet, der auch von der Chortechnik her in der Lage ist, ein richtiges Legato zu singen, was wir selten gehört haben auf diesem Wettbewerb, und der natürlich auch sehr anspruchsvolle Werke gemacht hat.“

 

 

CWN_Marktoberdorf_Festival_2_Tim_KoeritzTim Koeritz, 1965, in Stade geboren, studierte zunächst Musik mit dem instrumentalen Hauptfach Klavier sowie Geschichte für das Lehramt an Gymnasien in Hannover und Freiburg im Breisgau. Nach seinem Referendariat in Hildesheim und dem zweiten Staatsexamen schloss sich ein zweijähriger Aufbaustudiengang Rundfunkmusikjournalismus am Institut Lernradio der Musikhochschule Karlsruhe an, das er 1998 mit dem Diplom abschloss. Seit 1998 arbeitet und wohnt er in München. Von hier aus arbeitet er freiberuflich als Hörfunkjournalist für verschiedene ARD-Rundfunk-Anstalten (u. a. für den BR, WDR, die Deutsche Welle und Deutschlandradio Kultur). Sein Schwerpunkt liegt neben der zeitgenössischen Musik, auf dem Gebiet der Chormusik. Zu seiner Arbeit als Musikjournalist gehört ferner das Verfassen von Programmheft-Texten. So arbeitet er z. B. für die Theatergemeinde Augsburg und deren Konzertreihe „Philharmonische Matinee“ sowie deren sommerliche Open-Air-Veranstaltung „Konzerte im Fronhof“. Seit dem Jahr 2000 singt er im via-nova-chor München, ein Chor, der sich auf die zeitgenössische Chormusik spezialisiert hat. Ehrenamtlich engagiert er sich dort seit September 2007 als erster Vorsitzender des Vereins der Freunde des via-nova-chores e.V. Dies umfasst Aufgaben im Bereich des Fundraisings, Sponsorings, Marketings, der Öffentlichkeitsarbeit und der Konzertorganisation. Musikpädagogisch arbeitet Tim Koeritz seit dem Jahr 2005 als Dozent an der Münchner Volkshochschule. Dort gibt er Kurse zur Musiktheorie und Musikgeschichte, sowie Einführungen in die Konzerte der Münchner Philharmoniker. Ferner ist er in München freiberuflich als Klavierlehrer tätig. Email: tim.koeritz@t-online.de