Chorsingen in Weißrussland
von Nadeschda Buntsewitsch, Musikwissenschaftlerin
Die Kunst der weißrussischen Berufschöre ist hoch entwickelt. Es gibt sieben große Chorgruppen im Lande, die vom Staat finanziert werden. Sie alle singen oft im Ausland, wo sie jedes Mal viel Lob einheimsen, neue Angebote für Konzertreisen und kreative Mitarbeit bekommen und Preise bei hochangesehenen ausländischen Festivals und Wettbewerbe gewinnen.
Jeder dieser Chöre hat seinen eigenen Charakter, seine eigene Klangfarbe und sein Lieblingsrepertoire. Wenn man es genau betrachtet, entstand solche Spezialisierung nicht aus grundsätzlichen Erwägungen auf Seiten der jeweiligen Chorgruppe – sie erwuchs aus den Verhältnissen innerhalb der Konzert- und Theaterinstitutionen, denen sie angeschlossen sind. Gleichzeitig bemüht sich jeder Chor aber darum, sein Repertoire zu erweitern und, im Rahmen der Möglichkeiten, die Vielfalt der Stile, in denen er zu Hause ist. Deshalb finden wir eine Tendenz, die als allen gemein betrachtet werden darf: Vielseitigkeit in der Programmgestaltung und die Fähigkeit, Werke verschiedener Formen und Stile professionell vorzutragen. Die Klassiker des 19. Jahrhunderts liefern immer noch die beliebtesten Stücke in den Programmen.
Der Chor des nationalen akademischen Bolschoi Theaters für Oper und Ballet der Republik Weißrussland (www.belarusopera.by) spezialisiert sich, wie zu erwarten, auf das Bühnenrepertoire mit etwa 30 Werken, die gut ausgebaute Chorpartien aufweisen. Zu diesen zählen solch anerkannte Choropern wie “Prinz Igor” von A. Borodin, “Boris Godunov” und “Khowanschina” von M. Mussorgski, “Nabucco” und “Aida” von G. Verdi und Ballett-Aufführungen der Bühnenkantate “Carmina Burana” von C. Orff. Der Chor wird seit seiner Gründung 1993 von Nina Lomanowitch geleitet. Sein Personal erfreut sich nennenswerter Erneuerung durch Absolventen der weißrussischen staatlichen Akademie für Musik, von denen viele schon während ihrer Studienzeit eine praktische Ausbildung am Theater absolvierten. Die Konzerte des Chores sind ebenfalls beliebt – sowohl a capella als auch mit Orchester. Eine gute Werkauswahl, die komplizierte Chorstücke mit einschließt, Konzertaufführungen von Opern, die nicht auf dem Theaterspielplan stehen – all diese Faktoren tragen zu dem ständig steigenden Niveau eines ohnehin schon hochrangigen Berufschores bei. Die Größe der Gruppe (sie besteht aus 70 Sängern) hindert den Chor nicht daran, sich eines homogenen Klanges und perfekter rhythmischer Präzision zu erfreuen, und sie trägt zum Klangfarbenreichtum bei. Darüber hinaus macht sie es auch möglich, dass die Gruppe in sehr unterschiedlichen Kombinationen von Chor- und Solistengruppen auftreten kann, je nachdem, was verschiedene Opernpartituren brauchen.
Während seiner 70-jährigen Geschichte hat der staatliche akademische Chor der Republik Weißrussland, der nach G. Schirma benannt ist (www.philharmonic.by) seinen kreativen Weg mehrmals geändert. Er wurde 1939 als Laienchor gegründet, der weißrussische Volkslieder sang, die der Volksliedforscher und Chorleiter Grigori Schirma gesammelt und bearbeitet hatte Als ihr der Status eines staatlichen Chores verliehen wurde, erweiterte die Gruppe ihr Repertoire. Neben dem reinen Singen begann der Chor nun, eine Tanzgruppe und Instrumentalbegleitung einzusetzen. Heute besteht der Chor ausschließlich aus Chorsängern, aber er gestaltet erfolgreiche Aufführungen mit den besten Orchestern der Welt. Im Repertoire der Gruppe finden wir nicht nur weltliche Standardwerke, sondern auch religiöse Stücke aus verschiedenen Zeitaltern und moderne Werke von weißrussischen Komponisten. Im letzten Jahrzehnt haben sich die Sänger erfolgreich der Form der Oper zugewandt und an Opernaufführungen in anderen Ländern teilgenommen – so “Aida”, “La Traviata” und “Nabucco” von G. Verdi, “Tosca” und “Schwester Angelica” von G. Puccini, “La Somnambula” von V. Bellini, “Fidelio” von L. van Beethoven und “Die Meistersinger von Nürnberg” und “Der Ring des Nibelungen” von R. Wagner. Seit 1987 singt der Chor unter der Leitung einer Vertreterin der Chorschule von St. Petersburg, Liudmila Efimowa. Der Aufführungsstil der Gruppe setzt gern die große Geste und lebhafte Kontraste ein, um die Struktur der Stücke, die sie zur Aufführung bringen, zu betonen.
Der akademische Chor der weißrussischen nationalen staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft (www.tvr.by/rus/musiccol.asp?pr=choir) wurde 1931 gegründet und beschränkte sich in der Vorkriegszeit ausschließlich auf Rundfunksendungen. Zwischen den 1960er und 1980er Jahren bestand seine Hauptaufgabe darin, die Tonfunkarchive ständig mit neuen Aufnahmen von anspruchsvoller weißrussischer Musik und Volksliedbearbeitungen aufzufüllen. In den 1990er Jahren begann diese Gruppe jedoch damit, auch Konzertreisen zu unternehmen. Dieser Chor stand mehr als 40 Jahre lang unter der Leitung des berühmten Victor Rowdo; seit 2008, nach seinem Tod, wird er von Olga Janum angeführt, einer Absolventin der weißrussischen staatlichen Akademie für Musik, die sich auf Chordirigieren und Gesang spezialisiert hat. Heutzutage befindet sich der Chor in einer Phase der kreativen Suche und wendet sich den allerneuesten weißrussischen Partituren zu. Dennoch, wenn man den kaleidoskopischen Charakter des Repertoires des Chores in Betracht zieht, so sind die unübertroffenen Höchstleistungen der Gruppe doch ihre Aufführungen von Kirchenmusik verschiedener Bekenntnisse.
Fast jeder Chor im Lande hat weißrussische Volkslieder im Repertoire, aber der Nationale Akademische Volkschor, der den Namen G. Tsitowitsch trägt (http://belhor.org/), 1952 gegründet, spezialisiert sich wirklich auf dieses Gebiet. Diese Gruppe wurde von dem berühmten Volkskundler und Chorleiter G. Tsitowitsch (dessen 100. Geburtstag kürzlich gefeiert wurde) ins Leben gerufen. Tsitowitsch leitete schon in der Vorkriegszeit einen Dorfchor für Laien, der im Volksstil sang – wobei er den sogenannten “offenen” Klang einsetzte, eine Art des Singens, in der die Vokale so gesungen werden, wie sie beim Sprechen klingen, im Unterschied zum abgerundeten, reduzierten Klang von akademisch ausgebildeten Stimmen. Diese Gruppe verbrachte den überwiegenden Teil ihrer Zeit damit, als kreatives Labor für die Weiterentwicklung des chorischen Volksgesangs des Landes zu fungieren, wobei es im Laufe der Zeit nicht nur spontane Fortschritte gab, sondern diese auch in einer organisierten und professionellen Weise erzielt wurden. G. Tsitowitsch bereitete auch seinen Nachfolger vor: Mikhail Drinewski wurde gleich nach seiner Abschlussprüfung am weißrussischen staatlichen Konservatorium Leiter des Chores. Heutzutage sind viele Mitglieder des Chores Absolventen der weißrussischen staatlichen Universität für Kultur und Kunst, wo die Studenten das Singen von Volksliedern lernen. Abgesehen vom Chor hat die Gruppe auch ein Tanzensemble sowie ein Orchester, in dem Volksinstrumente vertreten sind. Das ermöglicht die Aufführung nicht nur von einzelnen Stücken, sondern auch von kompletten Bühnenwerken. In letzter Zeit ist das Repertoire der Chorgruppe durch akademische a cappella Werke und Bearbeitungen von Liedern bereichert worden. Die bedeutendste Leistung der Gruppe ist aber die Rekonstruktion des Rituals einer weißrussischen Hochzeit, die auf der Grundlage von echten Volksliedern in Zusammenarbeit mit der Volksmusikspezialistin Zinaida Mozheiko und dem Komponisten Jiacheslaw Kuznetsow zusammen gestellt wurde. Chöre, die Volksmusik vortragen, zählen zu den beliebtesten weißrussischen Gruppen im Ausland. Diese Gruppe unternimmt über 70 Gastvorstellungen im Jahr, mit Reisen durch ganz Europa sowie in die Türkei, nach Kanada, China und in andere Länder.
Der Weißrussische Nationale Kammerchor (www.philharmonic.by) wurde 1988 als Ergebnis eines sogenannten “kreativen Wettbewerbs” zwischen zwei Laiengruppen gegründet, aber sein Rivale ging auch nicht leer aus: heute ist dieser eine anderes philharmonisches Ensemble – die Vokalgruppe “Camerata”. Wenn das Augenmerk des Organisators und ersten Dirigenten des Kammerchors, Igor Matukhow, in erster Linie bei sehr alter Musik und der allerneuesten lag, so strebt Natalia Michailowa, die seit 2000 der Gruppe vorsteht, danach, deren Erfahrungsbereich sowohl stilistisch als auch in Bezug auf die Formen der Musik, die zum Vortrag kommt, zu erweitern. Wenn Konzerte mit Kirchenmusik auch stets hervorragend sind, so singt der Chor auch sogar Jazzstücke, und andere Aufführungen können alles zwischen Konzertstücken mit theatralischer Ausgestaltung und unter Einbeziehung von anderen Gruppen und Gastsolisten, bis zu Opernszenen von weißrussischen Komponisten beinhalten.
Die Musikalische “Capella” Sonorus (http://sonorus.by) begann ihr Dasein 1992 in Molodechno, einer Stadt unweit von Minsk, als ein Kammerchor mit eben diesem Namen erschien, bestehend aus Absolventen und Lehrern der Musikschule von Molodechno sowie Leitern von unabhängigen Chören. Der Initiative des Organisators und Dirigenten Alexei Schut ist es zu verdanken, dass die neue Gruppe eine schnelle und erfolgreiche Karriere machte. “Sonorus” – gleich alt wie das junge Weißrussland als Staat (Weißrussland, bis dahin Teil der UdSSR, wurde 1991 unabhängig) – bemüht sich darum, die besten Traditionen der musikalischen “Capellas” wieder zu beleben, die im 18. Jahrhundert weit verbreitet waren, als das Gebiet von Weißrussland Teil des polnisch-litauischen Reiches war,. Heute umfasst die “Capella” einen Chor, Solisten und ein Orchester, was ihr gestattet, vokale und sinfonische Werke, die große Besetzung benötigen, im Repertoire zu haben. Die Gruppe geht oft auf Konzertreisen in ganz Weißrussland, wo sie Bildungsaufgaben erfüllt. Ein wesentlicher Teil ihres Repertoires besteht aus Werken von weißrussischen Komponisten aus verschiedenen Epochen. In letzter Zeit beteiligt sich der Chor auch oft an Veranstaltungen, in denen Musik mit literarischen Darbietungen abwechselt, und sogar an musikalischen Aufführungen, die auf Weltklassikern der Musik und Dichtung, Märchen, Opern und Ballett basieren. Schließlich brachte die Gruppe vor zwei Jahren die Kammeroper “Der kleine Prinz” zur Aufführung, ein Auftragswerk des weißrussischen Komponisten Andrei Mdiwani.
Der Chor des Staatlichen Akademischen Musiktheaters (www.musicaltheatre.by) singt gewöhnlich nicht außerhalb der staatlichen Akademie, außer in Galakonzerten. Dennoch erweckt seine Mitarbeit in Aufführungen und besonders in Musicals Bewunderung. Die Mitglieder des Chores, meist junge Absolventen der weißrussischen staatlichen Akademie für Musik, haben es gelernt, sich so hinreißend gut zu bewegen, dass ihre Gelenkigkeit manchmal das Niveau von Berufstänzern erreicht. Die Leitung des Theaters, die vor kurzem gewechselte, hat sich nicht geweigert, weiterhin musikalische Komödien, klassische Operetten und Musicals auf die Bühne zu bringen, aber sie hat damit begonnen, Wert auf Konzerte der Sänger zu legen, einschließlich des akademischen Bereichs. Diese Tendenz trifft auch auf den Theaterchor zu, der unter der Leitung von Swetlana Petrova singt.
Ein Paradox der weißrussischen Kultur ist ihre riesige Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage. Das Niveau der Berufschöre ist sehr hoch, aber das Interesse des Publikums an ihnen hat dramatisch nachgelassen. In der Zeit der Sowjetherrschaft war das Chorsingen Pflichtfach während der allgemeinen Sekundarschulzeit, und Laienchöre bekamen regelmäßige Zuschüsse. Die Reform des Erziehungswesens führte nicht nur zu einer Verringerung der Singstunden, sondern auch aller Fächer in den Geisteswissenschaften. Abgesehen davon führten neue finanzielle Umstände dazu, dass zahlreiche Laiengruppen sich auflösten, obwohl viele Berufschöre es schafften zu überleben. Heute beginnt sich das Chorsingen der Laien zu erholen, nachdem es schwere Zeiten durchgemacht hat. Orthodoxe und katholische Chöre werden gegründet, Wettbewerbe finden statt – meist mit Kirchenmusik. Aber die Gelegenheiten, zu denen die besten Laiengruppen sich vorstellen könnten, vor allem im Ausland, sind noch begrenzt.
Nadeschda Burtsewitsch ist Musikspezialistin, Mitglied der weißrussischen Union der Komponisten, Fachleiterin an der weißrussischen staatlichen Akademie für Musik, Direktorin der Abteilung für Musik und Musiktheater, Mitglied der Redaktion der Zeitung “Kultur”, ausgezeichnet mit dem Nationalpreis “Für intellektuelle Erneuerung” (1999) und Besitzerin eines Diploms der Kommission der Republik Weißrussland für UNESCO Angelegenheiten (2004). Sie ist Absolventin des weißrussischen staatlichen Konservatoriums (1985) und unternahm dort weitere Forschungsaufgaben (1996). Sie war Mitglied der Musikredaktion des weißrussischen Rundfunks (1994-2002) und hat mit dem weißrussischen Fernsehen und den Redaktionen von landesweiten Zeitungen und Zeitschriften zusammen gearbeitet. Die Autorin hat etwa zehn Dokumentarsendungen verfasst sowie über tausend Rundfunk- und Fernsehprogramme, im Ganzen etwa dreitausend Veröffentlichungen. E-Mail: n-bun@tut.by