... und Tragen Edlen Samen

Eine Erkundung geistlicher Chorsätze von Komponistinnen aus Nordeuropa

 

von T.J.Harper, DMA

 

Im Laufe der Geschichte wurden die komplexeren Aktivitäten wieder und wieder definiert, manchmal als männlich, manchmal als weiblich, und manchmal bezogen die Definitionen sich gleichermaßen auf die Begabungen beider Geschlechter. Wenn eine Tätigkeit, zu der beide Geschlechter hätten in gleichem Maße beitragen können … auf eins allein bezogen wird, geht ihr eine breitgefächerte Eigenschaft verloren.[1]  

                                                                                        – Margaret Mead

 

In dieser Feststellung spricht die renommierte Kultur-Anthropologin Margaret Mead (1901-1978) über eine universelle Herausforderung, die alle Menschen in allen Disziplinen betrifft. In der Chormusik ist Meads „breitgefächerte Eigenschaft“, historisch gesehen, sowohl von der Komposition wie von den nachfolgenden Ausführungen her nicht vorhanden gewesen. Obwohl es eine Reihe von Komponistinnen gegeben hat, die dem Repertoire der Chormusik über die Jahrhunderte hinweg große Werke hinzugefügt haben, wird doch die Mehrheit der heutzutage komponierten, einstudierten und aufgeführten Chorwerke von Männern geschrieben. Noch 1880 urteilte der [amerikanische] Musikkritiker George P. Upton (1834-1919): „Es sieht nicht so aus, als ob Frauen jemals Musik in ihren vollsten und großartigsten harmonischen Formen hervorbringen werden. Die Frau wird immer Empfängerin und Interpretin sein, aber wenig Hoffnung besteht, dass sie Schöpferin sein wird.“[2] Vorausschauend steht es in der Verantwortlichkeit von Chören, für außergewöhnliche Chorkompositionen sowohl von Männern wie Frauen einzutreten und sie ausfindig zu machen.

In den letzten Jahrzehnten hat die Zahl von Komponistinnen rund um den Erdball bedeutend zugenommen. Während man kurzsichtig annehmen könnte, dass die Tradition der Chorkomposition sich einfach dadurch weiterentwickelt, dass es mehr Komponistinnen gibt, kann man doch nicht übersehen, dass es in diesem Gebiet auf Gleichwertigkeit hinausläuft. Drei dieser Künstlerinnen, die sich in der Vorhut dieses Trends befinden und die Landschaft der geistlichen Chorkomposition mit ihrer einzigartigen Vision bereichern, sind Kristina Vasiliauskaitė (aus Litauen), Agneta Sköld (Schweden) und Maija Einfelde (Lettland). Die Glaubwürdigkeit, die sich in der Musik dieser Komponistinnen ausdrückt, entsteht aus einem klar definierten persönlichen Glauben und der sozio-politischen Unterdrückung, die sie in ihrer jeweiligen Heimat erlebt haben. Diese Künstlerinnen bereichern und repräsentieren das Entstehen einer Werkgattung überzeugender geistlicher Chormusik, die zu der „breitgefächerten Eigenschaft“ der Chorkunst beiträgt.

 

Kristina Vasiliauskaitė (* 1956 in Vilnius, Litauen)

Kristina Vasiliauskait

Kristina Vasiliauskaitė stammt aus einer großen Musikerfamilie und hat sich zu einer der produktivsten Komponistinnen geistlicher litauischer Chormusik entwickelt. Sie studierte Musikwissenschaft bei Jadvyga Čiurlionyte (1974/75) und Komposition bei Eduardas Balsys (1975-1980) an der Litauischen Musikakademie. Nach ihrem Akademie-Abschluss wurde Vasiliauskaitė zur Redakteurin der Musikprogramme am Litauischen Rundfunk und Fernsehen (LRT/LTV) ernannt (1980-1983). Sie unterrichtete an der M.K.Čiurlionis-Kunstschule und wurde 1993 zur Leiterin der Klavierausbildung an der Ąžuoliukas-Musikschule in Vilnius bestimmt; dort begann sie 1996 auch Komposition zu unterrichten. 1998 wurde ihr der Titel Senior Teacher von Litauen verliehen..

Die einzigartige Qualität des Kompositionsstils von Kristina Vasiliauskaitė hat sie zu einer der führenden Komponistinnen ihrer Generation gemacht. So sind ihre Kompositionen Porcupine’s Home, A Breath, Snowflakes Talk, Let’s Sing Alleluia und From Your Hands als erstklassig anerkannt. Im Jahr 2001 errang sie internationale Anerkennung durch ihr Magnificat, das beim vierten jährlichen ’Juozas Naujalis-Kompositionswettbewerb für Geistliche Musik’ den Ersten Preis bekam.

Die Chormusik von Kristina Vasiliauskaitė ist unvergleichlich in ihrer lyrischen Wärme, die sie aus der Beachtung eines leicht zugänglichen harmonischen Stils mit üppigen Klangstrukturen bezieht. Der Chordirigent Rolandas Aidukas beschreibt ihre Musik so:

„Der musikalische Stil von Vasiliauskaitė besteht aus einem Wechsel zwischen diatonischen Tonarten und verschiedenen chromatischen Ausweichungen und Modulationen. Die durchsichtige und filigrane musikalische Textur ihrer Kompositionen enthüllt eine schöne Melodik, die von romantischer Bewegung durchatmet ist. Ihre Partituren erfreuen ästhetisch und nehmen das Ohr und das Verständnis vielfältiger und im Alter sehr unterschiedlicher Hörer gefangen. Ihre Vokalsätze zeigen eine enge Beziehung zwischen dem liturgischen Text und der Musik, einem natürlichen Einfallsreichtum und Klarheit der Form.“[3]

Dieser „natürliche Einfallsreichtum“ wird klar im ganzen fünfsätzigen Magnificat spürbar, das mit gemischtem Chor, Flöte, Oboe, Trompete und Orgel besetzt ist. Kristina Vasiliauskaitė verwendet verschiedene Dur-Tonarten, ein gemächliches Tempo (moderato maestoso) und tonale Beweglichkeit in gleichen Notenwerten, die „der Melodie Noblesse und Stabilität“ verleihen, wie die Musikwissenschaftlerin Daiva Tamošaitytė zu recht beobachtet. Geballte Energie begleitet jede steigende Folge von Halbton-Phrasen, die letztendlich die tonale Landschaft bis zum Ende des Satzes erweitern und angemessenen Platz für den freudigen Text “My soul doth magnify the Lord“ (Meine Seele erhebt den Herrn) bereiten. (Beispiel 1)

 

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Vasiliauskaitė, Magnificat, mvt. 1, Lithuanian Music

Beisp. 1   Kristina Vasiliauskaitė, Magnificat, 1. Satz; Litauische Musikinformation www.mic.lt

 

Werkauswahl

Stabat Mater (2006) – SATB, Fl, V, Va, Vc, Kb, Org,  Manuskript*

Magnificat (2005) – SATB, Fl, Ob, Tp, Org,  Manuskript*

Nine Motets of the Good Friday (2005)– SATB,  Manuskript*

Mass in Honour of St. Cecilia (2003) – SATB a cappella,  Manuskript*

The Canticle of the Sun by St. Francis of Assisi (1997) – SATB Doppelchor a cappella,  Manuskript*

Missa Brevis in Honorem Beatae Mariae Virginis (1992) – SATB a cappella,  Santa Barbara Music

Publishing SBMP 265-268

*Leihweise erhältlich bei Lithuanian Music Information www.mic.lt/en/classical/persons/works/139

 

Agneta Sköld (*1947 in Västerås, Schweden)

Agneta Sköld

Auch Agneta Sköld entstammt einer Musikerfamilie und wird zumeist als Mitglied der neueren [lutherischen] Schwedischen Liturgischen Bewegung begriffen. Sie studierte an der Königlichen Musikakademie in Stockholm und graduierte mit den Schwerpunkten Musikerziehung, Orgelspiel und Chormusik. Hauptberuflich sang sie 1967-1976 im Schwedischen Rundfunkchor sowie im von Eric Ericson geleiteten Stockholmer Kammerchor. Nachdem sie an der Ingesund-Musikakademie (Musikhögskolan Ingesund) in Arvika (Värmland) Musiktheorie gelehrt hatte, folgte 1991 die Berufung zur Dirigentin des Mariakören und als Hilfsorganistin an die Kathedrale von Västerås. Im Jahr 1998 ehrte man sie mit dem Titel Schwedischer Chorleiter des Jahres.  2006 wurde Agneta Sköld zur Musikdirektorin und Organistin der Västerås-Kathedrale berufen.

Um ihrer Kunst zu besserem Verständnis und zur Anerkennung zu verhelfen, erhielt Agneta Sköld zahlreiche Forschungsstipendien. Für ihre kompositorischen Leistungen wurde sie mit hohen Auszeichnungen belohnt, darunter 2003 die Johannes Norrby-Medaille sowie eine Königliche Medaille aus der Hand von Carl XVI. Gustaf von Schweden.

Agneta Skölds Gloria ist ein beglückender Ausdruck von Freude und Glauben; es gab der Komponistin in Zeiten persönlicher Not ein Zeichen von Hoffnung. Die unnachgiebige Stärke dieser Komposition ist durch echten Ausdruck und Überzeugung gekennzeichnet. Agneta Sköld verwendet zum Aufbau eine motivische Schichtung, die die Musik zusammen mit den Sechzehntel-Ostinati durch allmähliche Steigerung der Struktur und rhythmischen Agogik vorantreibt.  (Beispiel 2)

 

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Sköld, Gloria, Walton Music HL08500321

Beisp. 2   Agneta Sköld, Gloria, Walton Music HL08500321

 

Werkauswahl

Corpus Christe Carol (2004) – SATB,  Gehrmans musikförlag, GE 10623, Stockholm

There is no Rose (2004) – SATB, Gehrmans musikförlag, GE 10553, Stockholm

Magnificat (1990) – SSAA, Hf oder Kl/Vc,  Sveriges Körförbund / Gehrmans musikförlag, SK 8877, Stockholm

Kyrie / Gloria (1990) – SSAA, Kl,  Sveriges Körförbund/Gehrmans musikförlag, SK 8656, Stockholm / Walton, USA, HL08500321

Go Crystal Tears – SSAATTBB,  Gehrmans musikförlag, GE 11510, Stockholm

Jubilate Deo – SATB,  Gehrmans musikförlag, GE 10624, Stockholm

 

Maija Einfelde (*1939 in Valmierā, Lettland)

Maija Einfelde

Schon im frühen Kindesalter wurde Maija Einfelde an die Musik herangeführt. Ihr Vater war Orgelbauer und ihre Mutter die örtliche Organistin. Mit ihrer musikalischen Ausbildung begann sie an der Alfrēds Kalniņš-Musikschule in Cēsīs und setzte sie fort am Jāzeps Mediņš-Musikkolleg in Riga. Komposition studierte sie bei Jānis Ivanov am Lettischen Staatskonservatorium und schloss das Studium 1966 ab. Im Jahr 1968 begann sie zu unterrichten: Komposition und Musiktheorie an der Alfrēds Kalniņš-Musikschule in Cēsīs, dem Jāzeps Mediņš-Musikkolleg, der Emīls Dārziņš-Musikschule und an der Abendschule von Rīdze.

Zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen erhielt Maija Einfelde für ihren ursprünglichen Kompositions-Schwerpunkt, Musik für Chöre und Kammerensembles. 1997 gewann sie den Barlow Foundation Composition-Wettbewerb mit At the Edge of the Earth. Im selben Jahr erhielt sie auch den Großen Lettischen Musikpreis. 1999 bekam sie den Kulturpreis der Lettischen Republik. Im Jahr 2000 wurde ihr der Copyright’s Infinity Award der Lettischen Autorenvereinigung verliehen. Mit ihrer Komposition Maija Balāde (Mai-Ballade) für vier Klarinetten und achtstimmigen gemischten Chor hatte sie großen Erfolg auf dem Rostrum der UNESCO International Council’s Competition. 

Im Kompositionsstil von Maija Einfelde zeigt sich eine reine Kraft, die über vordergründige Dissonanz und Schärfe weit hinausweist. Ihre Musik scheint dagegen der Hinnahme und allzeit greifbaren Bestätigung des Leidens und der Schmerzen kundig zu sein, die alle erdulden müssen. Inese Lūsiņa fasste in der lettischen Tageszeitung Diena (Der Tag) das Werk von Maija Einfelde so zusammen:

„Von Kindheit an hat sich das harte Leben der Komponistin in wertvoller Kunst niedergeschlagen, charakterisiert durch bohrenden Schmerz bis auf die Knochen, in einer Art, auf die ein Westlicher, der einen gewissen europäischen Wohlfühlstandard erwartet, nicht vorbereitet sein wird. Es ist ein hellsichtiger Traum um kleine Dinge, der sich einem vom Leben verwöhnten und an angenehme Umgebungen gewöhnten Dirigenten nicht erschließen wird. Sie offenbart ein Lettischsein, das sich nie als primitiv erweist. Im Prinzip ist dies ein neuer Zugang zur menschlichen Stimme, welche mit großer Sicherheit eine Kultiviertheit zeigt, die nicht rein akademisch ist.“[4]

At the Edge of the Earth wurde 1996 komponiert. Das viersätzige Werk fußt auf dem Werk Der gefesselte Prometheus des griechischen Tragödiendichters Aischylos aus dem 5. Jahrhundert. Sehr eigenständig ist der Beginn von Pie zemes tālās. Der zurückhaltende Kontrapunkt, der im Grunde die Dynamik erzeugt, verleugnet nie das bedeutungsschwere Gewicht des Aischylos-Textes: „Zum fernen Saum der Erde sind wir nun gelangt, zur Skythenstraße, menschenöder Wüstenei.“[5]  (Beispiel 3)

 

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Einfelde, Pie zemes tālās (At the Edge of the Earth)

Beisp. 3   Maija Einfelde, Pie zemes tālās (Zum fernen Saum der Erde)

 

Die jüngste Komposition von Maija Einfelde, Lux aeterna, gewährt einen Einblick in etwas, was man als einen bedeutsamen Aufbruch aus dem „harten Leben“ einer Komponistin ansehen könnte, die einmal sagte: „Das Leben ist nicht schön, so dass ich schöne Musik schreiben könnte.“[6]  In diesem neuen Werk, das der Communio der Missa pro defunctis, der Requiem-Messe entnommen ist, führt Einfelde eine Qualität von Ausgewogenheit und Beherrschtheit ein, die der vereinheitlichenden und gemeinschaftsbildenden Botschaft dieses Teils der Requiem-Messe entspricht. Gegen Ende des ersten Chorabschnitts weitet sich der Klang zu zwölf Stimmen bei … quia pia es  und die Allgemeingültigkeit des Textes wird ab dem largo mit einer wogenden rhythmischen Verlangsamung gekoppelt – das erinnert an die Aussage der Musikwissenschaftlerin Baiba Jaunslaviete, die dies als Einfeldes „besondere Neigung zum Meer“[7] kennzeichnete. Der Text wird mit aller Vorsicht behandelt, dennoch lässt sich die Tiefe des Ausdrucks nicht verleugnen.  (Beispiel 4)

 

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Einfelde, Lux aeterna (manuscript)

Beisp. 4   Maija Einfelde, Lux aeterna (Ms)

 

Werkauswahl

Lux Aeterna (2012) – Manuskript

Cikls ar Friča Bārdas dzeju (3 Gedichte von Fricis Bārda) (2003) – SATB a cappella,  Musica Baltica MB0061

Ave Maria (1998) – SATB, Org,  Musica Baltica MB0059

Psalm 15 (1998) – SSAAATTBBB a cappella,  Musica Baltica MB0564

Pie zemes tālās (At the Edge of the Earth) (1996) – SSSAAATTTBBB a cappella,  Musica Baltica MB0356

Ave Maria (1995) – SSAA, Org,  Musica Baltica MB0060

 


[1] Margaret Mead, Male & Female: A Study of the Sexes in a Changing World, (New York: William Morrow & Company, 1949), pp. 345-346.  dt.: Mann und Weib. Das Verhältnis der Geschlechter in einer sich wandelnden Welt (Frankfurt/M.: Ullstein, 1992)

[2] Carl E. Seashore, “Why No Great Women Composers?” Music Educators Journal, March 1940: 21, 88; und George P. Upton, Woman in Music (Boston: James R. Osgood, 1880)

[3] Rolandas Aidukas, Musica Sacra: Sacred Choral Works by Kristina Vasiliauskaitė, Anmerkungen entnommen dem CD-Heft, ins Englische übersetzt von Vytenis M. Vasyliunas, aufgeführt vom „Atlieka choras Vilnius“.

[4] Inese Lūsina, Maija Einfelde: Latvian Composers. Einführungstext aus der CD, Compact Disc

[5] zitiert nach der dt. Übersetzung von Johann Gustav Droysen; Berlin: Bethge, 1832

[6] Baiba Jaunslaviete, 20th Century and the Phenomenon of Personality in Music, 39th Baltic Musicological Conference: Selected Papers. Riga: Latvijas Komponistu savientba, Musica Baltica, 2007, S. 19-28

[7] ibid.

 

 

T. J. HarperT.J. Harper ist Leiter aller Choraktivitäten und Betreuer des Secondary Music Education curriculum an der Providence-Universität in Providence, Rhode Island (USA). Er ist Dirigent der drei Chöre des Kollegs, außerdem leitet er Kurse in Dirigieren, Ergänzenden Chorpraktiken, Angewandtem Dirigieren sowie in Gesangsmethodik. Dr. Harper erhielt den Grad eines Doctor of Musical Arts (mit Auszeichnung) von der University of Southern California. Das Interesse von Dr. Harper richtete sich auf tiefergehende Erforschung des Einflusses der NSDAP auf deutsche Chormusik und auf die Musik von Hugo Distler. Seine Dissertation mit dem Titel Hugo Distler and the Renewal Movement in Nazi Germany (2008) konzentriert sich auf die Problemlage von Hugo Distler zwischen seinem persönlichen Empfinden und seinen politischen bzw. beruflichen Pflichten der Partei gegenüber. Dr. T.J. Harper ist Mitautor von Student Engagement in Higher Education: Theoretical Perspectives and Practical Approaches for Diverse Populations  (Routledge, 2008). eMail: harper.tj@gmail.com

 

Übersetzung aus dem Englischen von Klaus L Neumann, Deutschland