Bolivien: von den Vorfahren zur Lebendigen Gegenwart
José Lanza Salazar
Bolivien ist im Hinblick auf seine Vorfahren ein reiches Land. Seine Jahrtausende alte Geschichte macht es zum Urahnen vieler anderer amerikanischer Nationen. Bei den immer tieferschürfenden historischen Studien tritt nicht nur eine Zivilisation zutage, sondern derer mehrere voller lokaler Besonderheiten, sowie andere, die sich über die gewaltige Andenregion ausgedehnt und Gebiete beeinflusst haben, die heute zu den Nachbarstaaten gehören.
Da es im “Herzen Amerikas” liegt, besitzt es die ganze geographische Vielfalt unseres Subkontinents mit Ausnahme des Meeres, von den Anden über die fruchtbaren Täler bis zur Tiefebene des Amazonasurwalds. Dazu hat es zwei Regionen von großer ethnographischer Bedeutung, den Titicaca-See und die Yungas, ein von Afro-Bolivianern bewohntes Gebiet.
Diese Vielfalt hat Bolivien einen unvergleichlichen folkloristischen Reichtum mit einem weiten Spektrum an Musik, Tanz und Kochkunst beschert. Jedes Gebiet hat bei seinen einheimischen Instrumenten, Melodien, Rhythmen und Tänzen markante Besonderheiten, was auf die Volks- und populäre Musik verschiedener Nachbarländer großen Einfluss hatte.
Bolivien hat keine „Bühnen und Schaufenster“folklore, sondern lebt seine Musik, lebt seinen Tanz, lebt sein Kunsthandwerk und lebt seine Küche. Es beschränkt sie nicht auf Schaukastenbühnen oder Ausstellungs- und Verkaufsvitrinen.
Die Entwicklung von instrumentalen Musikensembles sowie Vokal- und Tanzgruppen ist seit längerem in ständigem Aufschwung, und man kann sagen, dass Bolivien zu den Ländern gehört, die die meisten künstlerisch hochrangigen Ensembles aufweisen.
Trotz dieses musikalischen Reichtums ist Chormusik in Bolivien relativ neu. Sie begann in den frühen 50er Jahren mit einem Chor in La Paz und ein paar weiteren Versuchen in anderen Städten. Aber erst Mitte der 60er Jahre, mit der Gründung der Sociedad Coral Boliviana, des Coro Santa Cecilia in Santa Cruz und der Universitätschöre von Sucre und Oruro, wird diese Entwicklung allmählich spürbar, und mittlerweile kann man sagen, dass es im Lande eine echte chorische Vielfalt gibt.
Die Sociedad Coral Boliviana war an fast allen Aufführungen der großen Opern und Operetten beteiligt, die seit 1972 in Bolivien aufgeführt wurden, und sie hat bei den größeren symphonischen Chorkonzerten, die in den vergangenen vier Jahrzehnten in Bolivien veranstaltet wurden, eine entscheidende Rolle gespielt. Ihr Repertoire an „a cappella“-Musik ist breit gefächert und reicht von Madrigalen der Renaissancezeit bis zur zeitgenössischen Musik, wozu auch Volks- und populäre Musik mehrerer europäischer und amerikanischer Länder zählt. Sie hat auch Werke in ungewöhnlichen Kombinationen aufgeführt, wie z.B. Chor mit heimischen Instrumenten, Chor mit Sologitarre, Chor mit Klavier und Schlagzeug, Chor mit Rockband, Chor mit Trommeln, und anderes mehr.
Gerade die Hinwendung des Chors zur Rock-Chormusik war ein voller Erfolg bei jungen Leuten, die vorher niemals in ein Chorkonzert gegangen wären. Im letzten Jahrzehnt ist er zu Ehren von Queen, den Beatles, Pink Floyd und ABBA aufgetreten und hat Konzerte unter der Bezeichnung “Rock Choir Celebration” aufgeführt, mit einer Auswahl von Stücken aus der ganzen Rockgeschichte. Er hat auch eine Reihe von Tonaufnahmen gemacht, die auf CDs und Kassetten erschienen.
Der Erfolg und das Prestige, das über vier Jahrzehnte erreicht wurde, rief den Neid des früheren Kultusministers hervor, der einen politischen Eingriff in die Sociedad Coral Boliviana vornahm, indem er den seit über 40 Jahren tätigen Träger und Leiter, Maestro Joseph Lanza, zum Ausscheiden zwang. Angesichts dieses Missbrauchs sind 75 % der Mitglieder der Chöre Estable und Juvenil ausgetreten und haben Maestro Lanza gebeten, sie zu leiten, um so den Erfolg, der sie während ihrer ganzen künstlerischen Laufbahn ausgezeichnet hatte, fortzusetzen.
Von Juli letzten Jahres bis heute hat er mit seinen vier Chören – den beiden schon erwähnten und den Kammerchören “Vox Juvenæ” und “Voces de Oro” (für ältere Teilnehmer) vier verschiedene Konzertzyklen aufgeführt. Die Konzertsäle, in denen er auftrat, waren stets brechend voll mit einem enthusiastischen und liebevollen Publikum, das so seine Unterstützung für diese makellose künstlerische Karriere zum Ausdruck bringen wollte.
Die Universidad Real hat ihre Türen für die Proben der Gruppen geöffnet, ganz unabhängig und ohne jede Verbindung zum bolivianischen Staat, dessen offizielle Künstlergruppe sie während fast 29 Jahren (1981-2009) waren.
Im Juli 2009 hat Maestro Lanza eine Sammlung von vier Ausgaben der “Música Coral Paceña” vorgestellt, die von der Kulturabteilung der Stadtverwaltung von La Paz gefördert wurde. Sie enthält einen kleinen Teil des Repertoires der “a cappella”-Chormusik, die er über fast vier Jahrzehnte aufgeführt hatte. Seine Liebe zu dieser Tätigkeit hat ihn zur Herausgabe dieser Sammlung bewogen mit der Absicht, künftigen Generationen von Chorleitern und Choristen eine Auswahl an Música Paceña in Arrangements und Fassungen für Chorgesang zu hinterlassen, die von führenden heimischen Musikern in der Hoffnung erstellt wurden, dass sie von allen Chören des Landes benutzt wird und auch die Chöre befreundeter Nationen anregt, bolivianische Chormusik in ihr Repertoire aufzunehmen.
José Lanza Salazar war Leiter des Orquesta Municipal de Cámara von La Paz, der Coros de la Universidad Mayor von San Andrés, der Academia Nacional de Policías, des Colegio Alemán “Mariscal Braun” der Universidad Católica Boliviana, der Escuela Militar de Ingeniería sowie Gastdirigent des Orquesta Sinfónica Nacional. Während seiner diplomatischen Tätigkeit in Costa Rica (1987-1988) leitete er den Coro Sinfónico Nacional. Als er 1989 nach Bolivien zurückkehrte, übernahm er die Leitung der SCB (Sociedad Coral Boliviana), und im März 2010 gründete er den Coral Juvenil. Email: joselanzasalazar@gmail.com
Aus dem Spanischen von Reinhard Kißler