Kanons aus ganzem Herzen: Ein näherer Blick auf Abbie Betinis‘ Kontrapunkt
Peter Steenblik, Chordirigent und Dozent
Abbie Burt Betinis (geb. 1980) ist eine der führenden Komponistinnen der amerikanischen Chormusik des 21. Jahrhunderts. Mit nur 36 Jahren ist ihr kompositorisches Oeuvre umfangreich und vielfältig. Bereits 2009 wurde sie in einer Ausgabe der International Choral Bulletin über Werke junger Komponisten hervorgehoben. Inzwischen wurde deutlich, dass sich Abbie Betinis ihren Schwerpunkt und festen Platz im Chorrepertoire erarbeitet.[1] Als zweifache McKnight Artist Stipendiatin ist Betinis Juniorprofessorin für Komposition an der Concordia University-St. Paul, Composer in residence für „The Schubert Club“ (eine Position, die sie für 12 Spielzeiten innehatte), und ihr Werkverzeichnis enthält über 60 Auftragswerke. Die New York Times beschreibt ihre Musik als „einfalls- und melodienreich“.[2] Matthew Culloton, der Direktor von „The Singers“, einem international renommierten Chorensemble aus Minnesota, sagte, „Betinis Musik … ist wegen ihrer Originalität, ihrer kompositorischen Technik und der musikalischen Ernsthaftigkeit beachtenswert“. Sie ist nicht länger eine ‚aufkommende‘ Komponistin, sondern eine, deren Karriere der gleichen Tradition angehört wie die von Dominick Argento, Stephen Paulus und Libby Larsen.[3]
Betinis wuchs in einer musikalischen Familie in Anherst Junction, Wisconsin auf – inmitten von Farmen und Wäldern, ca. 35 km südöstlich von Stevens Point.[4] Im Alter von drei Jahren hielt sie beim Kanon-Singen auf einer Autofahrt mit ihrer Familie stolz ihre eigene Stimme – ein Ereignis, an das liebevoll als „Erwachsenwerden“ in einer Familie, die reich an musikalischer Tradition ist, erinnert wird. [5]
Teilweise ist es diesem Aufwachsen zuzuschreiben, dass eine der liebsten Kompositionstechniken Betinis, die ihr ganzes Repertoire beeinflusst, der Kanon ist. Das Einbeziehen von kanonischen Strukturen stellt eine tiefe Verbindung her zwischen Betinis ganz eigener Seele und der Musik, die sie komponiert. Von einer ihrer Kompositionen sagte sie:
„Ich liebe das [Kanon]-Singen so sehr, dass ich sie anscheinend im Schlaf schreibe! Ich wachte mit diesem in meinem Kopf auf, als die Sonne an einem herrlichen Herbsttag durch mein Fenster strahlte“[6]
Ihr veröffentlichtes Werkverzeichnis enthält fünf Kanons: Be Like the Bird (fünfstimmig, 2009), Come In, Come In! (vierstimmig, 2011), Lumen (bis zu vierstimmig, 2012), Morning Round (vierstimmig, 2013), und Table Grace (bis zu achtstimmig, 2007). Auf den ersten Blick sind ihre Kanons ziemlich einfach, aber bei eingehenderer Betrachtung entdeckt man etwas Komplexeres; diese Kanons können überraschend bewegende Konzertstücke sein. Sie ermutigt die Ausführenden, alternative Konzertformationen auszuprobieren. Zu einem dieser Kanons gibt es beispielsweise eine Reihe von Ausführungsvorschlägen. Einige empfehlen, dass Sänger im Abstand von zwei Takten beginnen sollen, so als würde man den Kanon Row, Row, Row Your Boat singen. Andere Vorschläge ermöglichen, das Stück ausgehend vom Unisono zur Drei- oder Fünfstimmigkeit zu entwickeln. Weitere Vorschläge kennzeichnen Pause-Takte, welche ein Ergebnis, mehr vergleichbar mit Steve Reichs Phase Patterns als das von einem üblichen Kanon zu erwartenden, zur Folge haben. In Betinis Händen ist ein Kanon eine viel komplexere und auditiv stimulierende Kunstform.
Bei einer diesbezüglichen Diskussion hat Betinis den Kanon als eine Quelle der Stärke inmitten vielfältiger Versuche bezeichnet. Obwohl noch jung, hat sie drei Anfälle von Morbus Hodgkin in den letzten 19 Jahren überlebt, was schließlich zu einer kompletten Knochenmarkstransplantation im Jahr 2010 führte. Während dieser Zeit schrieb sie Be Like the Bird, ein Kanon auf dem Text von Victor Hugo “Sei wie der Vogel, der bei seinem Fluge kurz sich niederlässt auf schwankenden Zweigen und fühlt, wie sie nachgeben unter ihm – und der doch singt, wissend, dass er Flügel hat” Ihr Großvater war Geistlicher; sie fand diesen Text nach seinem Tod in einer seiner Predigten eingelegt. Über die Umstände, welche diese Komposition begleiteten, schreibt sie:
“Ein Kanon ist eine Melodie, die ihre EIGENE Harmonie hat. Du kannst einen Kanon nicht allein singen und all seine Harmonien hören. Du musst ihn mit anderen Menschen gemeinsam singen um wirklich zu hören, wie die Melodie ihr eigenes harmonisches und rhythmisches Gerüst erstellt. Ich dachte, dass dies die passende Metapher war, um durch harte Zeiten zu kommen. Ich glaube, jeder von uns hat seine eigene Lebensmelodie, etwas Eigenes, das wir in die Welt tragen können – aber wenn das Leben schwer wird, ist diese Melodie schwer zu hören. Manchmal ist es nötig, dass unsere Freunde einstimmen, einer nach dem anderen, und diese Melodie mitsingen, damit wir hören können, wie stark sie ist und wie sie uns aufhelfen kann. Oder – wie das Zitat sagt – uns Flügel geben kann.
“Ich wusste nicht, dass ich “Be Like the Bird” so sehr für mich selbst brauchen würde, als ich es schrieb. Ein paar Freunde kamen zu Besuch und wir sangen um das Klavier und bekamen die Harmonien richtig hin… Am nächsten Morgen gingen wir zur örtlichen Radiostation und nahmen es auf. Drei Monate später erhielt ich meine dritte Krebsdiagnose. Und da wurde die Melodie für mich wie zu einem Mantra… etwas das ich singen konnte, wann immer ich Angst verspürte. Derzeit bin ich gesund, doch … wenn ich in mich gehe, stelle ich mir alle meine Freunde vor, die einstimmen und mit mir singen”[7]
Betinis Kanongebrauch endet nicht bei den fünf verlegten Beispielen, sondern kann in vielen ihrer Werke bemerkt werden. So beginnt beispielsweise Hail, Christmas Day! (SSA oder SATB, 2003) mit einem einstimmigen Vers, entwickelt sich zu einem polyphonen Abschnitt, um dann einen dreistimmigen Kanon anzustimmen. Eine Coda führt das Werk zur Schlusssteigerung. Ebenso endet The World Made New: Eleanor Roosevelt’s Evening Prayer (SATB, 2012) in einem Kanon und mit dem Hinweis für die Sänger: “wähle Dein eigenes Abenteuer”[8]
Andere Werke in Betinis Werkverzeichnis enthalten weniger offensichtliche Kanonbeispiele, schließen aber diese Form in großen Abschnitten ein. Der erste Satz von Carmina mei cordis (SATB, 2004) enthält einen komplexen Doppelkanon. In diesem Abschnitt stellen Sopran und Tenor die gleiche Melodie im Abstand von zwei Schlägen vor, während Alt und Bass einen Kontrapunkt auf den Zwischenzählzeiten bieten (BEISPIEL 1). Ausgedehnte kanonische Abschnitte findet man auch in Psalm 126: A Song of Ascents (SATB, 2003), Bar Xizam (SATB, 2007), Spell of the Elements (SATB, 2007), Chant for Great Compassion (SSAA, 2008), und jüngst in Betinis exquisitem Auftragswerk für die ACDA A Blessing of Cranes (SSAA, 2015), eine Vertonung des Textes “Never a thought of thinking, only this weaving…” welches vornehm das Thema der gemeinschaftlichen Heilung schildert.
Eines von Betinis kraftvollsten und bekanntesten Werken ist From Behind the Caravan: Songs of Hâfez (SSAA, 2007). Über dieses Werk sagte Betinis aus: „Ein Kanon ist die perfekte Kompositionstechnik für einen Großteil dieser Dichtung“[9]. Im zweiten Satz benutzt Betinis beispielsweise den Kanon als ein Mittel, um sich von der originalen Struktur des ghazal-Textes zu entfernen und dessen poetische Bedeutung zu erweitern, wenn ein vierstimmiger Kanon bei den Worten Qam ma-khor, ey del (erleide keine Qual, o Herz) auftaucht. Betinis kompositorisches Können wird besonders deutlich, wenn sie selbst mitten im Kanon eine weitere Ausweitungs-Ebene einzieht. Als Verneigung vor der Sufi-Mystik benutzen die Außenstimmen einen textlosen Seufzer, sich damit erneut mit der göttlichen Macht verknüpfend und den Grad des Schmerzes vertiefend, während alle Stimmen sich gleichzeitig eines thematischen Materials bedienen, das nicht Teil des originalen Kanons ist. (BEISPIEL 2) In diesem Moment ist es klar, dass der Chor teilnahmsvoll den Hörer in einen akustischen Mantel der Tröstung hüllt – das klagende Herz besänftigend.
Neben den offensichtlichen Beispielen können kanonartige Figuren in vielen von Betinis Werken gefunden werden. Solche Beispiele schließen ein: Songs of Smaller Creatures (SATB, 2005), In the Bleak Midwinter (SATB, 2006), und The Mirthful Heart (SSA, 2012).
Weiterhin findet man in ihrem gesamten Oeuvre eine signifikante Häufung von Stimmkreuzungen – ein Nebeneffekt, der sich aus ihrer eindringlichen Beschäftigung mit kanonischen und kanonähnlichen Führungen ergibt.
“Ich liebe das Spiel mit Stimmkreuzungen in meinen melodischen Ideen… Einige meiner erfolgreichsten Stücke sind meiner Meinung nach einfach zweistimmige Kontrapunkte in Umkehrung oder dreistimmige Kontrapunkte, die sich letztendlich auf der ganzen Seite ausbreiten“[10]
Betinis Werke sind voller solcher Elemente. Ein Dirigent, der mit Betinis Kompositionsstil weniger vertraut ist, mag versucht sein, die Stimmkreuzungs-Elemente zu ignorieren und deshalb Korrekturen in der Partitur anzubringen. Man muss jedoch verstehen, dass Betinis Stimmkreuzungen höchst absichtlich einsetzt. Während ihrer Studien als Stipendiatin der European American Musical Alliance in Paris, Frankreich, entwickelte Betinis ein kompositorisches Vokabular und ausgeprägtes Verständnis für Kontrapunkt, das tiefgreifend ihre Entscheidungen bezüglich Stimmführungstechniken beeinflusst. Dies wird deutlich in einer Technik, welche sie dort erlernte: einstimmiger Kontrapunkt – die Idee, dass ein Publikum in stufenweiser Fortschreitung hört und dass jeder Sprung größer als eine große Sekunde das Ohr des Hörers hin zieht zu einem Neubeginn des melodischen Materials. In dieser Weise zu komponieren führt zu häufigen, absichtlichen Stimmkreuzungen. Diese Kreuzungen, die man anfangs als ungelenk empfinden mag, sind wo immer möglich zu beachten. Betinis ist sich als Sängerin der Stimmfarben, die sich durch Tessitura und Stimmsitz ergeben, sehr bewusst.[11]
Dr. Elroy Friesen, Director of Choral Studies an der University of Manitoba und als Dirigent an frühen Aufführungen von Betinis Werken beteiligt, sagt bezüglich dieser Frage:
“Eine Komponistin, insbesondere eine wie Abbie, weiß verflixt genau wie ein erster Alt im Vergleich zu einem zweiten Sopran in einem typischen Chor klingt. Daher würde ich damit nie herumspielen. Es ist eine Frage der Stimmführung. Ich kann nicht erkennen, wie Korrekturen [ihre Werke] vereinfachen könnten.”[12]
Da ihr Repertoire mit Kanons, kanonartigen Führungen und dem Nebeneffekt dieser Praktiken vollgestopft ist, muss jeder Sänger und Dirigent, der sich mit Betinis Musik beschäftigt, die tiefere Bedeutung dieser Techniken verstehen. Außerdem sind weitergehende Überlegungen bezüglich des Textes in diesen Passagen gerechtfertigt. Derzeit ist es ausreichend zu sagen, dass Betinis eine einfallsreiche Komponistin ist, die den Kanon reflektiert, häufig textgezeugt und jederzeit ernsthaft einsetzt.
Bibliography
- Betinis, Abbie. Morning Round (program notes). Abbie Betinis Music Co.: Saint Paul, 2013.
- Culloton, Michael. “Jocelyn Hagen and Timothy Takach: An Introduction to Their Choral Music and a Study of Their Positions Within a Lineage of Minnesota-Based Composers.” DMA diss., North Dakota State University, 2013. ProQuest (AAT 3557360).
- Kozinn, Allan. “Romanticism, Tone Paintings and Modern Takes on Folk Tunes.” The New York Times, May 27, 2011, sec. C. http://www.nytimes.com.
- Spurgeon, Debra, editor, Conducting Women’s Choirs. Chicago: GIA Publications, 2012.
- Wanyama, Shekela. “Nothing Off-Limits: An interview with composer Abbie Betinis.” International Choral Bulletin 28:2 (2009): 39-41.
- Rothrock, Stanley H., II. “The Choral Music of Abbie Betinis: A Prospectus of the Composer’s Output Through December 31, 2008.” DMA diss., University of Minnesota, 2009. Unpublished.
Peter Steenblik ist Direktor der Chorabteilung der University of West Florida und Chordirektor des Pensacola Opera Chors. Er erhielt einen Doktortitel an der University of North Texas, wo er Chorleiter eines 90-köpfigen Frauenchores war. Er hat einen Master und Bachelor für Chorleitung und Chorpädagogik der University of Utah, und war zehn Jahre lang Direktor der Chorabteilung an der Jordan High School (Utah). Dr. Steenblik war Vorsitzender der Chorabteilung der Utah Music Educators Association (2010-2012) und Mitglied des Vorstandes der Utah ACDA. Seine Studenten wirkten bei Konzerten des Mormon Tabernacle Choir, des Women’s Chorus of Dallas, der Utah Symphony, des Ballet West, der Pensacola Opera und des Pensacola Symphony Orchestra mit. www.petersteenblik.com, email: psteenblik@uwf.edu
Übersetzt aus dem Englischen von Stefan Schuck, Deutschland
[1] Shekela Wanyama, “Nothing Off-Limits: An interview with composer Abbie Betinis,” International Choral Bulletin 28:2 (2009).
[2] Allan Kozinn, “Romanticism, Tone Paintings and Modern Takes on Folk Tunes,” The New York Times, May 27, 2011, http://www.nytimes.com/.
[3] Michael Culloton, “Jocelyn Hagen and Timothy Takach: An Introduction to Their Choral Music and a Study of Their Positions Within a Lineage of Minnesota-Based Composers” (DMA diss., North Dakota State University, 2013), 79, 96-97, ProQuest (AAT 3557360).
[4] Stanley H. Rothrock, II, “The Choral Music of Abbie Betinis: A Prospectus of the Composer’s Output Through December 31, 2008” (DMA diss., University of Minnesota, 2009), 3, Unpublished.
[5] Abbie Betinis, e-mail message to the author, June 12, 2015.
[6] Abbie Betinis, Morning Round, (Abbie Betinis Music Co.: Saint Paul, 2013).
[7] Abbie Betinis, e-mail message to Jennah Delp, Artistic Director of iSing Silicon Valley, June 04, 2015.
[8] Abbie Betinis, The World Made New: Eleanor Roosevelt’s Evening Prayer, (Abbie Betinis Music Co.: Saint Paul, 2012).
[9] Abbie Betinis, e-mail message to the author, June 12, 2015.
[10] Debra Spurgeon, ed., Conducting Women’s Choirs (Chicago: GIA Publications, 2012), 171.
[11] Abbie Betinis, in-person interview with the author, February 26, 2015.
[12] Elroy Friesen, interview with the author, June 2, 2015.