CD-Rezension: Homelands Vol. 1 – Ensemble Cythera

CD-Rezension von T. J. Harper, D. M. A.

Homelands Vol. 1 – Ensemble Cythera
Volume I – Hungary to Germany
Mihály Zeke, Dirigent
Marie Vermeulin, Klavier
Registriert in der Abtei Marienmünster, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
(2020, 60’ 34”)
www.ensemblecythera.com

                    

Der französische Rokoko-Maler Jean-Antoine Watteau führte mit seinem Werk “Pilgerfahrt nach Cythera” im 18. Jahrhundert eine neue Art der Malerei ein, die als “La fête galante” bekannt wurde, eine allegorische Darstellung des Werbens und Verliebtseins. Dieser Stil konzentrierte sich auf die Wiederbelebung von Farbe und Bewegung in der Malerei, die vor allem in den bukolischen und idyllischen Szenen der pseudo-amourösen Vergnügungen der Zeit zum Ausdruck kamen. Für den Titel dieses Gemäldes war die griechische Insel Cythera ein treffend gewähltes Ziel, denn sie war der Geburtsort der Gottheit Aphrodite, der Göttin der Liebe. In ähnlicher Weise wählte der Dirigent Mihály Zeke dieselbe Insel als idealen Namensgeber für den neu gegründeten, paneuropäischen Kammerchor, der in seiner zeitgenössischen Wiederbelebung von Chorklangfarben den “höchsten Standard an technischer Qualität und leidenschaftlicher Ausdruckskraft” als Repräsentation der eigenen Liebe zur Chormusik anstrebt. Die Liebe zur Chormusik und die leidenschaftliche Ausdruckskraft, die das Ensemble Cythera verkörpert, sind eng mit dem griechischen Begriff der prágma oder dauerhaften Liebe verbunden, die sich durch tiefe Hingabe auszeichnet.

Die kulturelle Landschaft eines Volkes ist tief in der Vergangenheit verwurzelt und reicht oft über die aufgezeichnete Geschichte hinaus. Im Laufe der Zeit werden diese Ursprünge durch orale Traditionen innerhalb einer Kultur durch Sprache oder Gesang bewahrt und von einer Generation zur nächsten weitergegeben, um die Geschichte eines Volkes zu vermitteln, zu definieren und zu bereichern. In Homelands Vol. I zeigt Cythera sein prágma oder tiefes Engagement und seine Hingabe an das sorgfältig kuratierte Repertoire, um zu erkennen, von welch entscheidender Bedeutung unsere Volksgeschichte ist, um dieses Erbe besser zu würdigen und es für das weitere künstlerische Wachstum zu kontextualisieren. Der Musikwissenschaftler und Fellow am französischen Nationalen Zentrum für Wissenschaftliche Forschung, Hervé Audéon, weist scharfsinnig darauf hin, dass “… eine Volkskultur mit einer anspruchsvollen Dimension zu versehen, bedeutet, sie zu stärken und ihre Weitergabe zu ermöglichen, indem sie in eine Tradition eingebettet wird, die die Limitierungen ihrer natürlichen Grenzen überschreitet.” Einmal überschritten, wird die musikalische Tradition, die von einer “anspruchsvollen Dimension” geprägt ist, mehr als ein Mittel zur Bewahrung der Vergangenheit. Sie bestätigt unsere kollektive Identität und erlaubt uns, mit Klarheit und zielgerichtet zu kommunizieren, um den Wert unserer gemeinsamen, partnerschaftlich verbundenen Zukunft zu verstehen.

Homelands Vol. 1 ist eine außergewöhnliche und ambitionierte Debütaufnahme von Cythera unter der erfahrenen künstlerischen Leitung von Mihály Zeke. Diese Aufnahme enthält Werke von Zoltán Kodály (1882-1967), Béla Bartók (1881-1945), Antonín Dvořák (1841-1904) in Bearbeitungen von Leoš Janáček (1854-1928), Arnold Schönberg (1874-1951) und Johannes Brahms (1833-1897).  Die wahre Stärke dieser Aufnahme liegt in der Auswahl wichtiger, aber selten gespielter Kompositionen in Kombination mit traditionelleren Eckpfeilern dieses breiten Genres, die ein eklektisches, aber thematisch homogenes künstlerisches Statement abgeben. Dieses Album ist tatsächlich ein ständiger Dialog zwischen Tradition und Moderne, zwischen mündlich überlieferter Musik und geschriebener Chormusik. Bei näherer Betrachtung ist der Hörer eingeladen, die vom künstlerischen Leiter Mihály Zeke sorgfältig vorgenommene Einteilung des Repertoires in drei verschiedene, aber miteinander verbundene Kategorien zu genießen: Extern, intern objektiv und intern subjektiv.

  • In der ersten Kategorie ist das Externe in Mátrai képek (Mátra-Bilder) von Zoltán Kodály vertreten. Dieses Werk ist ein umfassender Blick auf die Weite des Landlebens, aber aus der Perspektive eines Touristen, der von außen auf das vielfältige und abwechslungsreiche Kommen und Gehen des Volkslebens und der Menschen darin schaut.
  • In der zweiten Kategorie arbeitet das intern Objektive als eine eklektische Serie von intimen Porträts des Landlebens, von Individuen, Herzensangelegenheiten und Verlust. Die hier vertretenen Werke stammen aus zwei Sammlungen von Volksliedern von Béla Bartók: Magyar népdalok (Ungarische Volkslieder), und Négy tót népdal (Vier slowakische Volkslieder). Es folgt eine Reihe von Liedern von Antonín Dvořák, bearbeitet von Leoš Janáček: Šest moravských dvojzpěvů (Sechs mährische Duos).
  • Die dritte Kategorie schließlich, das Innere Subjektive, betrachtet die intime Ausdehnung des Volkslebens durch die Augen des Gemeinschaftsmitglieds. Hier verbinden sich Herzensangelegenheiten, Glaube und Seele mit einer stillen Reflexion über die tugendhafte Natur der Zugehörigkeit und darüber, was es bedeutet, “zu Hause zu sein” (An die Heimat). Die Werke, die diese dritte Kategorie repräsentieren, sind Drei Volkslieder von Arnold Schönberg und Volkslieder von Johannes Brahms.

Ein überzeugender Aspekt dieser Aufnahme ist die Fähigkeit des Ensemble Cythera, jede Interpretation umzusetzen, ohne sich der Komposition künstlich aufzudrängen. Vielmehr wird auf den individuellen Charakter und den Geist eines jeden Werkes eingegangen und den Kompositionen gestattet, für sich selbst zu sprechen und die Intentionen der Komponisten authentisch zu vermitteln. Die emotionale Echtheit in jeder Aufführung zieht den Zuhörer in die pastorale und oft intime Natur jeder Handlung hinein, anstatt ihn auf Distanz zu halten. Der künstlerische Leiter, Mihály Zeke, vermittelt souverän die Klarheit des Textes und des emotionalen Inhalts, ohne das Gleichgewicht der Aufführungskraft oder den erzählerischen Bogen von den einfachsten bis zu den komplexesten Szenen zu vernachlässigen. Die gesamte Aufnahme zeichnet sich durch ein einheitliches Klangbild aus, das von einem unglaublich hohen Maß an Verständnis, Sensibilität und technischer Fertigkeit der Sänger zeugt.

Besondere Erwähnung verdient die Pianistin Marie Vermeulin, die auf einem 1896er Steinway in Bartóks Négy tót népdal (Vier slowakische Volkslieder), den Šest moravských dvojzpěvů (Sechs mährische Duos) und An die Heimat von Brahms zu hören ist. Vermeulin, die ihr Studium am Conservatoire National Supérieur Musique et Danse de Lyon (CNSMD de Lyon) absolviert hat, erreicht in jeder Aufnahme eine bemerkenswerte Farbe, Phrasierung, Energie und Sensibilität. Die Kraft ihrer Begleitung geht einher mit technischer Finesse in perfekter Zusammenarbeit mit den Sängern.

Mihály Zeke © Gergely Máté Oláh

Cythera ist ein europäischer Kammerchor, der 2019 von Mihály Zeke nach seinen Jahren als Leiter von Arsys Bourgogne gegründet wurde. Cythera wurde aus dem Wunsch heraus geboren, ein neues Ensemble mit internationaler Besetzung zu erschaffen, das für neue Formen der künstlerischen Zusammenarbeit offen ist. Die Größe des Ensembles variiert je nach Projekt um etwa 24 Sängerinnen und Sänger. Der Chor hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Publikum die beste Chormusik, alte wie neue, näher zu bringen und strebt dabei nach höchster technischer Qualität gepaart mit leidenschaftlichem Ausdruck. Die Sängerinnen und Sänger von Cythera, die wegen ihrer einzigartigen künstlerischen Persönlichkeiten ausgewählt wurden, zeichnen sich sowohl durch hohe individuelle Fähigkeiten als Solisten innerhalb eines breit gefächerten Repertoires als auch durch ihre Fähigkeit aus, zu einem homogenen Klangbild zu verschmelzen.

Mihály Zeke gründete Cythera im Jahr 2019. Er arbeitet regelmäßig mit Orchestern wie La Fenice, Pulcinella und dem Orchestre Dijon Bourgogne sowie mit Accentus und dem Ungarischen und Hellenischen Rundfunkchor. Derzeit unterrichtet er in Tübingen und in Stuttgart, wo er auch das Sinfonieorchester und den Chor der Universität leitet. Als leidenschaftlicher Musiker begeistert er sein Publikum mit mitreißenden Aufführungen und erwirbt sich den Ruf einer musikalischen Kapazität, die gleichermaßen im symphonischen Repertoire, in der Oper und in der Neuen Musik bewandert ist.

Homelands Vol. 1 wurde vom 28. Februar bis 1. März 2020 in der Abtei Marienmünster, Nordrhein-Westfalen, unter der künstlerischen Leitung von Mihály Zeke und Piotr Furmanczyk aufgenommen. Homelands ist als eine Pentalogie von Aufnahmen geplant, mit einem Panorama des Chorrepertoires, das auf Volksmelodien aus ganz Europa beruht, neu interpretiert von den bedeutendsten Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts.

 

 

J. Harper ist außerordentlicher Professor für Musik, Leiter der Chorabteilung und Vorsitzender des Fachbereichs Musik an der Loyola Marymount University in Los Angeles, CA. Er leitet die drei Chorensembles der Universität sowie Kurse in Dirigieren, Chormethoden, Dirigieren und Gesang. Dr. Harper erhielt den Doktortitel in Musikwissenschaften von der University of Southern California, wo er mit Auszeichnung abschloss. www.harpertj.com

 

 

Übersetzt aus dem Englischen von Wolfgang Saus, Deutschland