Veränderungen in der Chorwelt im Laufe der letzten 10 Jahre
Von Marcin Cmiel, Choral Society Lira, Warschau
Übersetzt aus dem Englischen von Andrea Uhlig, Deutschland
Jedes Jahr Ende Oktober findet das internationale Chorfestival Varsovia Cantat (www.varsoviacantat.pl) statt. Ich habe das Glück, seit vielen Jahren Jurymitglied zu sein und freue mich, dass wir im letzten Oktober schon die 10. Auflage eines Festivals erleben durften, das Top-A-Capella-Chöre in die Hauptstadt Polens bringt.
Es war eine großartige Gelegenheit, mit meinen Kollegen eine Zusammenfassung der letzten 10 Jahre zu erstellen. Sie alle sind sehr aktive Jury-Mitglieder und tauschten ihre Meinungen mit mir aus, nicht nur über ihre Erfahrungen in Warschau, sondern auch über viele andere Festivals oder Chorveranstaltungen, an denen sie teilgenommen hatten. Zur Jury gehören Prof. Twardowski (polnischer Komponist), Bernard Gfrerer (Salzburg, Österreich), Agnes Gerenday (Budapest, Ungarn) und Carmen Moreno (Barcelona, Spanien).
Veränderungen in der Einstellung zu Wettbewerb und Konzerten
Varsovia Cantat ist ein Festival, dessen Hauptteil der Gesangswettbewerb ist. Vor zehn Jahren waren die Chöre natürlich daran interessiert, die Preise zu gewinnen – aber für viele war das Hauptziel, an so vielen zusätzlichen Konzerten wie möglich teilzunehmen.
Früher hatten die Organisatoren bei durchschnittlich 18-25 Chören Schwierigkeiten, sie in die 10-12 gemeinsame Konzerte zu „quetschen“.
In den letzten Jahren mit fast 30 Chören pro Auflage wurden nur 4-5 Zusatzkonzerte benötigt. Das bedeutet offensichtlich, dass die Chöre sich jetzt insgesamt mehr auf den Wettbewerb an sich als auf die Aufführungen konzentrieren. Zudem wollten sie früher bei den gemeinsamen Zusatzkonzerten so lange wie möglich singen, 25 – 30 Minuten waren ihnen nicht lang genug. Heutzutage haben einige Chöre jedoch bereits Probleme, ein 20 Minuten-Programm zu singen, und meist wiederholen sie dabei nur ihr Wettbewerbsprogramm. Warum ist das so? Fehlendes Selbstvertrauen?
Aber alle für Varsovia Cantat ausgewählten Chöre sind gute und sehr gute Ensembles, die früher oder später Top-Preise bei vielen Chor-Festivals auf der ganzen Welt gewonnen haben. Aus meiner Sicht ist es für viele Chöre wichtiger zu gewinnen, als den Zuhörern zu begegnen. Dank dieser Tatsache ist das Aufführungsniveau zwar ständig gestiegen – aber geht es beim Chorsingen nur darum, Punkte zu sammeln?
Veränderungen im Repertoire
Ähnlich wie bei der Länge des Zusatzkonzertprogramms versuchten die Chöre vor zehn Jahren, die Wettbewerbszeit zu maximieren und suchten möglichst lange Programme aus. In vielen Fällen lief es darauf hinaus, dass es zu signifikanten Zeitüberschreitungen kam, was bekanntermaßen die Jury nicht glücklich macht. Meiner Meinung nach ist es recht einfach, die Aufführungszeit bei ein paar Proben zu messen. Natürlich kann man sich um 1-2 Minuten verschätzen, aber einige Chöre überschritten die Zeit um 5 oder mehr Minuten. Nun, solche Situationen kommen nicht allzu oft vor, und in der Tat haben wir auch Chöre, die Sorge haben, ob ihr Repertoire nicht zu kurz sei.
Wir beobachteten auch eine leichte Tendenz, dass Chöre häufiger zeitgenössische Musik – egal ob international oder aus ihrem Heimatland – singen und auch mehr Musik aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Darunter sind natürlich viele Aufführungen des allgegenwärtigen Giovanni Pierluigi da Palestrina. Aufführungen von Musik aus dem 18. und 19. Jahrhundert verzeichnen einen leichten Rückgang. Seit dem ersten Festival haben die Chöre aus dem Fernen Osten einen Hang zu Spirituals oder sogenannter Unterhaltungsmusik. Sie waren stimmlich perfekt vorbereitet, hatten jedoch Interpretationsprobleme, die aber nach wenigen Jahren jetzt beinahe verschwunden sind. Später begannen sie mehr und mehr Lieder aus ihrer Heimat zu singen, und überraschenderweise fingen Chöre aus dem Norden und Westen an, mehr und mehr „östliche“ Musik zu präsentieren – darunter auch Stücke, die aus der orthodoxen Kirche stammen. Viele Chöre verstanden gut, dass manche Kompositionen, obwohl schön und sehr bekannt, sich nicht besonders für das Festival eignen, weil sie eher in ein Konzert passen. Die Chöre haben begriffen, dass die Auswahl des Repertoires sehr wichtig ist und die Vielfalt der stimmlichen Möglichkeiten des Chores zeigen sollte. Früher haben Chöre oft schon bekannte Stücke gesungen, aber in vielen Fällen war das die falsche Strategie, da sie sich zu sicher fühlten und in der Folge nicht viel Mühe in die Vorbereitung steckten.
Keine Herausforderung – keine Ergebnisse (neues Repertoire für den Wettbewerb, um das Gehirn der Sänger „auf Trab zu bringen“)!
Veränderungen in der Art der Chöre
Wie allgemein bekannt, sind die meisten Chöre, die an Varsovia Cantat teilnehmen, gemischte Chöre. Vor zehn Jahren bestanden sie im Durchschnitt aus 45 – 50 Sängern. In den letzten Jahren zeigte sich eher eine Tendenz zu Kammerchören. Im Bereich der gemischten Chöre auf hohem Niveau dominieren nach wie vor die Universitätschöre. Immer häufiger bestehen sie nicht mehr nur aus Studenten, sondern auch aus Absolventen und Dozenten. Überraschenderweise steigt die Zahl der reinen Frauen- und Männerchöre, die anfangs Jahr für Jahr weniger wurden, wieder an, und sie erscheinen jetzt häufiger bei Wettbewerben. Das Durchschnittsalter bei Kinderchören ist von 11 – 13 Jahren auf 14 – 15 Jahre gestiegen. In manchen Fällen ist es schwierig, sie noch Kinderchöre zu nennen – sie sollten eher als junge Jugendchöre bezeichnet werden. Die jungen Kinderchöre im Alter von 7 -12 Jahren treten in letzter Zeit selten auf.
Veränderungen im sozialen Leben von Chören
Während des Festivals wird jeder Chor von einem einheimischen Chormitglied oder Freiwilligen begleitet, um dem Chor zu helfen, sich in einer großen Stadt wie Warschau zurechtzufinden. Ich treffe mich nach jedem Festival auch mit diesen Helfern, um das Ereignis zusammenzufassen. Im Vergleich zu den ersten Veranstaltungen genossen die Chöre die Freizeit sehr und bummelten durch die Stadt, so dass sie es kaum zu den Wettbewerben und Zusatzkonzerten schafften. Heute verbringen mehr Chöre ihre Zeit im Hotel mit zusätzlichen Proben, was verständlich ist. Doch man beobachtet das auch nach den Wettbewerben und Konzerten. Natürlich verbringen sie auch Zeit jenseits von Proben, teilen sich dann aber eher in kleine Gruppen, als mit dem gesamten Chor etwas zu unternehmen, und das einzige Foto, das sie von Warschau mitbringen, ist das aus dem Konzertsaal. Sind die Sänger heute weniger gesellig, oder ist das nur eine allgemeine Entwicklung in der Welt?
Wie sich das Publikum verändert hat
Das Publikum, das während des Konzerts sehr wichtig ist, hilft nicht immer während des Wettbewerbs. Das Publikum ist im Verhältnis zu früher ein bisschen bequemer geworden. Es kommen mehr und mehr Menschen zu den Galakonzerten, da es einfacher ist, für zwei Stunden zu kommen und die Besten des Festivals zu hören, statt zehn Stunden während des Gesangswettbewerbs zu verbringen – aber das ist die Gelegenheit, neue oder weniger bekannte Kompositionen zu hören. Für die Gala wählen die Chöre natürlich ein sehr gutes Programm, aber normalerweise doch eher bei Chorliebhabern bekannte Stücke. Das Konzertpublikum am Abend ist ebenso wenig vorhersagbar wie das Wetter, und das Wetter ist unglücklicherweise der wichtigste Faktor.
Bei relativ warmem Wetter kommen sehr viele Besucher, nur wenn es kalt ist oder regnet, kommen weniger. Vor zehn Jahren war das Wetter nicht so wichtig für die Zuhörer – Klimawandel?…
Ich freue mich, dass in den letzten zehn Jahren fast 250 Chöre aus aller Welt zu Varsovia Cantat gekommen sind und das Festival dem A-Cappella-Gesang treu geblieben ist, der für mich die beste Form des Chorgesangs ist – vielleicht nicht so spektakulär wie berühmte Werke mit Orchester, dabei aber die anspruchsvollste und schönste zugleich.
Marcin Cmiel, (Warschau, Polen): Chorleiter und Musiklehrer. Er ist Gründungsmitglied der Choral Society LIRA in Warschau. Von 1997 – 2008 war er stellvertretender Chorleiter der Choral Society LIRA. Seit 2009 ist er ihr künstlerischer Leiter. Er absolvierte sein Studium an der Warsaw Academy of Music bei Prof. Ryszard Zymak. Viele Jahre arbeitete er mit dem Warsaw University Choir, dem Chor der Stefan Wysznski Universität und dem Komponisten Romuald Twardowski zusammen. Er ist seit langem Jurymitglied bei Chorfestivals in Warschau, St. Petersburg und dem Krakau Advent Festival.
Email: mcmiel@poczta.onet.pl