Chor-Unternehmungen
Der 12. Internationale Kammerchor-Wettbewerb Marktoberdorf
Von Graham Lack, Komponist und beratender Redakteur des ICB
Die Kühe im Allgäu sind grau. Nicht schwarz-weiß oder rot-braun, sondern schiefergrau – mit einer rosa Nuance. Die Aussicht scheint ihnen zu gefallen. Bald kommen die Ausläufer der Bayerischen Alpen in Sicht und der Zug fährt in Marktoberdorf ein: eine Stadt, die sich vom Bahnhof aus ausbreitet – die 70er Jahre wahren architektonisch gesehen ein düsteres Jahrzehnt. Eine spitz zulaufende Straße führt uns vorbei an einer antiquierten Pizzeria und durch einladende Weiden zum MODEON, einer 1983 fertiggestellten Mehrzweck-Konzerthalle, dem Austragungsort des 12. Internationalen Kammerchor-Wettbewerbs Marktoberdorf 2011.
Die Chöre haben gute Tageseinnahmen, das beweisen die langen Schlangen am Fenster – rätselhafterweise „Cash“ genannt –bei den Übersetzungen wurde etwas übersehen.. Ich tauchte mit meinem 18 €-Ticket auf. Mitte Juni versammelte sich hier ein Dutzend Ensembles, um sich fünf Tage lang im Gesang zu messen, auf dem zentralen Platz zu summen, Tagesausflüge zu unternehmen mit Auftritten in dem einen oder anderen bergigen Ort, morgens früh aufzustehen zum morgendlichen gemeinsamen Gesang und für ein oder zwei Gläschen, dem Gottesdienst zu Pfingsten seine Musik zu liefern, als Flashmob im örtlichen Supermarkt aufzutauchen, um Beethoven aufzuführen, die Sponsoren mit besonderen Gesangs-Events zu unterhalten, Liederabende zu geben, und immer noch fit zu sein für die allabendliche spontane Darbietung im Bierzelt.
2011 gab es im Wettbewerb zwei Kategorien: A – Gemischte Chöre und B – Frauenchöre. Diese waren, in der Reihenfolge ihres Auftritts im ersten Durchgang:
Jerusalem Academy Chamber Choir, Israel; Cantabile, Regensburg, Deutschland; Coro Entrevoces, Havana, Kuba; University of Louisville Cardinal Singers, USA; molto cantabile, Luzern, Schweiz; University of the East Chorale, Manila, Republik der Philippinen; der Kammerchor der Hochschule für Musik Detmold, Deutschland; St. Jacobs Ungdomskör, Stockholm, Schweden (die gemischten Chöre); und (die Frauenchöre) VokalArs, Madrid, Spanien (mit einem Tenor obendrein); der Female Choir of Kiev Glier Institute of Music, Ukraine; Kamerkoor Cantate Venlo, Niederlande, und der Female Choir of Estonian Choral Conductors, Tallinn, Estland.
Die Anforderungen waren sehr hoch. Jeder Chor klang wie ein Gewinner. Und jeder von ihnen nutzte das obligatorische Werk, Rhapsodia von Joseph Gabriel Rheinberger, um dem Publikum wie der Jury dabei zu helfen, sich eine differenziertere Meinung zu bilden. Aber am Ende eines langen Tages begannen andere Faktoren, eine Rolle zu spielen: z. B. welche Stücke in der eher gnadenlosen Akustik des MODEON am besten gelingen.
Einige Chorleiter hatten der kalkulierten Auswahl des Repertoires Priorität gegeben und andere wollten die künstlerische Fertigkeit ihrer Chöre demonstrieren, sei es Alte Musik, romantische Vertonungen oder zeitgenössische Werke, komme was wolle. Ein aufmerksames Publikum am ersten Tag, man achtete gewissenhaft auf alles …. Silentium, die Stimmung wurde nur durch das Verlangen der Ansagerin Monika Schubert verdorben, es tausend Menschen nahe zu legen, mitten im Konzert Morgengymnastik zu machen – nun, mitten im Wettbewerb. Sicherlich zeigte jeder Chor seine speziellen Stärken und gab Anlass zur Diskussion beim Kaffee im Foyer des MODEON. Man fragte sich – wie gewöhnlich – ob die Meinung des Publikums mit der der Jury übereinstimmte. Die Mitglieder der Jury wurden ebenso aus der ganzen Welt eingeladen: Tigren Hekekyan (Armenien), Gudrun Schröfel (Vorsitzende, Deutschland), Jon Washburn (Canada), Marina Batič (Slowenien), Chen Yun Hung (Taiwan), Ana Maria Raga (Venezuela) und Anders Eby (Schweden).
Man hatte die Qual der Wahl in der bestechenden Vertrautheit des Abends, mit Konzerten in nahe gelegenen Kirchen, die nicht aus Eitelkeit oder Gottesfurcht, sondern aus Handwerkerstolz erschaffen wurden: Ottobeuren, Kaufbeuren, Kempten, Altenstadt, Seeg, Nesselwang, Wildpoldsried sowie in Marktoberdorf selbst. Ich fuhr mit zur Basilika von St. Michael in Altenstadt: 18:00 Uhr, noch genug Zeit, um zum Abendessen die paar Kilometer einen Pfad entlang zu einer gastfreundlichen Gaststätte zu latschen. Aber als einziger nicht eingeladener Gast bei den Hochzeitsfeierlichkeiten des Dorfs fühlte ich mich deplatziert. Apropos Altenstadt, das Gebäude stammt aus dem 12. Jahrhundert und hat eine liebevolle Restaurierung genossen, seine großräumige, aber nicht sonore Akustik war perfekt für die Chöre aus Jerusalem, Madrid und Stockholm. Nur ein volles Haus von vielen.
Die Zäsur im Ablauf des Wettbewerbs war der Wechsel vom Pflichtprogramm in die frei gewählten Programme in der zweiten Runde. Temperament und Timbre herrschten vor, unterdrückten aber nicht die größten Vorzüge jeder Gruppe. Wir erlebten dann den kernigen Klang des Jerusalem Academy Chamber Choir unter der Leitung von Stanley Sperber, die Regelmäßigkeit der Linienführung von Cantabile unter Matthias Beckert, lebendige Strukturen von Coro Entrevoces unter der Leitung von Digna Guerra Ramírez, die Gravität der University of Louisville Cardinal Singers unter Kent Hatteberg, den feinen Gesang des molto cantabile von Andreas Felber – nomen est omen, die virtuose Deklamation des University of the East Chorale unter Anna Tabita Abeleda-Piquero, die feine Phrasierung des Kammerchors der Hochschule für Musik Detmold unter der Leitung von Anne Kohler, die energische Offensive des St. Jacob’s Ungdomskör unter Mikael Wedar, die dem Klang von VokalArs innewohnende und von der Leiterin Nuria Fernández Herranz geförderte Nostalgie, die dem Female Choir of Kiev Glier Institute of Music unter Dion Ritten eingeimpften reichen Texturen, das pragmatische Musizieren des von Dion Ritten geleiteten Kammerchors Cantate Vento und schließlich die Urtümlichkeit des Female Choir of Estonian Choral Conductors unter Andrus Siimon und Onne-Ann Rosvee.
Die Menschen strömten hinaus ins Foyer, schütteten Zucker in ihren Kaffee. Erschöpfte Diskussionen brachten neue Kameradschaften und ließen alte Streitigkeiten wieder entflammen. Die Diskussion konzentrierte sich weniger auf Repertoire und Stil sondern mehr auf Präsentation und den Wunsch, in jedem Werk eine Geschichte erzählt zu bekommen. War das eine hingebungsvolle Dressur oder eine von Herzen kommende Aufführung?
Die Wettbewerbs-Veranstaltungen setzten jede Form von zeitlicher Ordnung außer Kraft. Den Kunden der örtlichen Bank wurde mit A-capella-Kunst eine unerwartete Freude bereitet. Und für die Einkaufenden im „Einkaufszentrum Forum Allgäu“ war es eine große Überraschung, als ein Flash Mob von ca. 400 Sängern das Zentrum stürmte. Sie besetzten die Rolltreppen, lehnten gefährlich an den Geländern der Galerie, bevor es losging mit „Freude schöner Götter Funken“. Eine verblüffende Ablenkung für diejenigen, die gerade Obst und Gemüse einkauften.
Den Kammerchor-Wettbewerb in Marktoberdorf gibt es bereits seit circa zwanzig Jahren, und er ist in letzter Zeit gereift, seine bescheidenen Anfänge vor langer Zeit sind in einen Mantel der Professionalität gehüllt. Kaum hat ein Konzert stattgefunden, kann bereits eine Aufnahme auf CD oder DVD von der festivaleigenen Bild- und Tonfirma, Audio•Video•Aktuell GbR, erworben werden. Das Foyer des MODEON wird während der Konzerte zur Public Viewing Area, sodass Chöre, die auf ihren Auftritt beim Wettbewerb warten, die Auftritte mitbekommen und Zuspätkommende nicht viel verpassen. Ferngesteuerte Kameras geben die Programme, ein wenig nervtötend, weiter.
Der Wettbewerb selbst wird unterstützt vom Ministerium für Kultur und Medien der Bundesrepublik Deutschland, dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst; dem Landkreis Ostallgäu; der Stadt Marktoberdorf, dem deutschen Auswärtigen Amt; dem Goethe-Institut, der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände e.V. und vielen anderen aus privaten und öffentlichen Sektoren.
Wie Dolf Rabus, Wettbewerbsleiter und Vize-Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände, es ausdrückt: „Seit 1989 kommen hier Top-Chöre aus der deutschen und internationalen Chorszene zusammen, und Marktoberdorf ist ein Synonym für die anspruchsvollsten Musik-Levels bei internationalen Wettbewerben geworden und ist nun ein Ort für den Austausch von Experten-Meinungen und Erfahrungen, sowie für fortgeschrittenes Training“. Er fügt hinzu, dass die Organisation „dankbar für die großzügige Unterstützung von dezentralisierten kulturellen Aktivitäten“ seitens der deutschen und bayerischen Behörden ist.
Beim diesjährigen Wettbewerb berichteten sieben deutsche Radiosender vom Geschehen, welches 15 Konzerte, vier Gottesdienste, zwei Wettbewerbs-Runden, ca. 5000 Besucher, 60 Ehrengäste aus der Welt der Chormusiker, eine Ausstellung der Verleger mit eselsohrigen Alben, 17 CDs (7 Doppel-CDs) und 17 kommerziellen DVD-Produktionen und einer Welt-Premiere, The Dancer, von Vic Nees. Die örtliche Presse berichtete mehr als ausreichend.
Die absoluten Gewinner waren Coro Entrevoces (1. Platz gemischte Chöre und Publikumspreis) und der Female Choir of Kiev Glier Institute of Music (1. Platz Frauenchöre). Dass ein professioneller Chor – aus Havanna – das meiste Lob ernten würde, ist nicht überraschend, sie proben täglich vier Stunden, und seine bezahlten Mitglieder sind Teil eines Chors, der vom kubanischen Staat unterstützt wird.
Fast eine Woche schwand dahin, mit Musizieren auf den Bergspitzen und Marktplätzen, in den Konzerthallen und Kirchen und, unerbittlich, im Festzelt. Improvisation und gute Laune lagen in der Luft. In dem Gewühl balgten sich Vocalive, ein Rock-Pop-Chor, mit dem Geschrei.
Das Klirren von Biergläsern nahm ab: Ich hatte den brodelnden Massen des Zelts den Rücken gekehrt. Nun Eintritt erlangen in das geheimnisvolle Hotel Sepp, ein Etablissement, dem es anscheinend an Personal mangelt. Das Lautsprechersystem genügte. Aber in den frühen Morgenstunden muss meine Stimme ein bisschen mürrisch geklungen haben: „Graham Lack hier, ich bin in Zimmer Nr. 74“. „Ja und?“ kam die verdrießliche Antwort.
Graham Lack studierte Komposition und Musikwissenschaft am Goldsmiths’ College und am King’s College, an der Londoner Universität (BMus Hons, MMus), Musikpädagogik an der Universität von Chichester (State Certificate), zog 1982 nach Deutschland um (Technische Universität Berlin, Doktorarbeit). Er hatte einen Lehrauftrag in Musik an der Universität von Maryland, leitete die Symposien Contemporary Finnish Music (Universität von Oxford, 1999) und das erste internationale Symposium der Komponisten-Institute (Goethe-Institut, 2000), and trägt zu Groves Dictionary und Tempo bei. Seine a cappella Werke umfassen Sanctus (Queens’ College Cambridge), Two Madrigals for High Summer, Hermes of the Ways (Akademiska Damkören Lyran), und einen Zyklus für die King’s Singers, Estraines, aufgenommen bei Signum. Der Philharmonische Chor München gab Petersiliensommer in Auftrag, der Münchner Bach-Chor Gloria (Chor, Orgel, Harfe). The Legend of Saint Wite (SSA, Streichquartett) gewann 2008 einen Preis der BBC. REFUGIUM (Chor, Orgel, Percussion) wurde vom Trinity Boys Choir in London im Jahr 2009 uraufgeführt. Die jüngsten Werke umfassen Wondrous Machine für den Multi-Percussionisten Martin Grubinger, Five Inscapes für Kammerorchester und Nine Moons Dark für großes Orchester. Premieren der 2010-11er Saison umfassten das Streicher-Terzett The Pencil of Nature (musica viva, München), A Sphere of Ether (für Young Voices of Colorado) und einen Lobgesang, The Angel of the East. Zukünftige Projekte bleiben ein First Piano Concerto für Dejan Lazić und The Windhover (Violine solo und Orchester) für Benjamin Schmid. Er ist korrespondierendes Mitglied des Institute of Advanced Musical Studies King’s College London, regelmäßiger Teilnehmer an ACDA (American Choral Directors Association)-Konferenzen. Er wird verlegt bei: Musikverlag Hayo, Cantus Quercus Press, Schott Music, Josef Preissler, Tomi Berg. Email: graham.lack@t-online.de
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Wolf, Köln
In Category A the prizes went to Coro Entrevoces Havanna (Achievement Level I: excellent performance at an international level, 1st Prize); University of Louisville Cardinal Singers, and S:t Jacobs Ungdomskör Stockholm (Achievement Level II: very good performance at an international level, 2nd Prize and 3rd Prize respectively); Kammerchor der Hochschule für Musik Detmold, molto cantabile Lucerne, Cantabile Regensburg, Jerusalem Academy Chamber Choir, and University of the East Chorale, Manila (Achievement Level III: good performance at an international level). In Category B the awards were as follows: Female Choir of Kiev Glier Institute of Music (Achievement Level I: excellent performance at an international level, 1st Prize); Female Choir of Estonian Choral Conductors, Tallinn (Achievement Level II: very good performance at an international level, 2nd Prize); Kamerkoor Cantate Venlo The Netherlands, and VokalArs Madrid (Achievement Level III: good performance at an international level). The Special Prizes included Best Interpretation of a Religious Choral Work (University of Louisville Cardinal Singers, for Salve Regina by Herbert Howells); Pro Musica Viva Maria Strecker Daelen Conductor’s Prize for the Best Interpretation of a Contemporary Choral Work (Mikael Wedar, S:t Jacobs Ungdomskör, for We Know Not Where the Dragons Fly by Mattias Sköld), Walter & Charlotte Hamel Foundation Hanover Prize for the Best Interpretation of a Romantic Choral Work for Female Choir (Female Choir of Kiev Glier Institute of Music, for Sergey Taneyev’s Adeli), Special Prize of the Carl Orff Foundation Diessen am Ammersee for the Best Interpretation of a Choral Work Premiered at the 2011 Competition (Kamerkoor Cantate Venlo, for one of a kind, The Dancer by Vic Nees). The Audience Prize went to Coro Entrevoces. |