Das Chorleben in Island

Von Sigurður Sævarsson, Sänger und Komponist
Übersetzt aus dem Englischen von Willi Stegemeyer, Deutschland

 

Der erst Chor entstand in Island in der Zeit um 1850: Eine Gruppe fortschrittlicher Denker fand, dass es für die Wiedergeburt des Landes wichtig sei, dass Isländer aufhörten mit der alten Tradition des Singens von Sprechgesang und Quintengesang (eine überlieferte Tradition bei der in parallelen Quinten gesungen wurde) und sich stattdessen moderneren Liedformen zuwenden sollten.

Dieser erste Chor wurde von Studenten und Lehrern der “Lærði Skólinn” gegründet, der damals einzigen Schule für höhere Bildung im ganzen Land. Innerhalb kurzer Zeit dominierten Männerchöre die Musikszene des Landes; man sah in ihnen die Verkörperung des Nationalstolzes und des nationalen Strebens nach Unabhängigkeit. Der erste Frauenchor wurde im Jahr 1918 gegründet. Bis dahin hatten Frauen nur in einer Handvoll gemischten Chören gesungen, die meistens für besondere Anlässe wie den Besuch des dänischen Königs oder in den Kirchen gegründet wurden.

Heute hat Island etwa 328.000 Einwohner, und die Chormusik war zu keiner anderen Zeit so weit verbreitet und so ambitioniert. Die meisten der fast zweihundert Chöre, die heute aktiv sind, führen jährliche Weihnachts- und Frühlingskonzerte durch – einige sogar darüber hinaus Konzerte zu Ostern und zu besonderen Gelegenheiten. Viele dieser Chöre reisen regelmäßig ins Ausland, meistens nach Europa oder Nordamerika, aber auch in die nähere Umgebung rund um Island.

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Mótettukórinn

Ausbildung der Sängerinnen und Sänger

In der Anfangszeit war Unterricht im Singen selten. Einige wenige vielversprechende Stimmen erhielten Unterrichtsstunden von einer Handvoll Gesangslehrer in Island. Für eine weitere Ausbildung war Europa das Ziel, aber nur, wenn ein vielversprechender Student finanzielle Unterstützung von Förderern bekam. Einige dieser Studenten schafften glänzende Karrieren und sangen an den größten Opernhäusern der Welt. Andere kamen nach Island zurück und unterrichteten hier – und mit der Zeit hatte Island eine große Gruppe gut ausgebildeter Sängerinnen und Sänger.

In jedem Jahr lernen etwa 300 Menschen Singen. Natürlich wird es nicht jeder bis auf eine Opernbühne schaffen oder ein Solist oder Lehrer werden, aber in den vergangenen Jahren ist eine Gruppe von professionellen Chorsängern gegründet worden, die hauptsächlich bei Begräbnissen singt. Viele dieser Sänger singen außerdem an der Isländischen Oper, die normalerweise zwei Produktionen pro Jahr auflegt. Eine große Zahl aus dieser gut ausgebildeten Gruppe singt außerdem in einem oder mehreren von Islands ambitionierten Kammerchören. Ein Beispiel für den Erfolg solcher Chöre ist Melodia unter der Leitung von Magnús Ragnarsson, der kürzlich mit viel Beifall an der ‘Bela Bartók Choral Competition’ im ungarischen Debrecen teilnahm. Der Chor errang gemeinsam mit einem Tschechischen Chor den zweiten Platz in der Kategorie Kammerchöre. Melodia wurde auch ausgewählt, um in der Kategorie Grand Prix zu singen. Ein anderer bedeutender Chor ist Schola Cantorum, gegründet 1996 von Hörður Áskelsson, dem Kantor von Islands größter Kirche, Hallgrímskirkja – der Kirche von Hallgrímur in Reykjavík. Dieser Chor erhielt im In- und Ausland viele Preise und viel Lob und Anerkennung. Der Chor veröffentlichte fast 10 CDs, die viele Werke enthalten, die speziell für diesen Chor komponiert wurden.

Ein weiteres Beispiel für Chöre, die eigens für sie komponierte Musik aufführen, ist der Kammerchor Hljómeyki, geleitet von Marta Guðrún Halldórsdóttir, und auch die Hamrahlíð Chöre, gegründet und geleitet von Þorgerður Ingólfsdóttir. Viele dieser Spitzenmusiker des Landes sangen als Teenager im Chor der Hamrahlíð School. Dieser Chor reiste weit und erhielt überall ungeteiltes Lob.

Aus der langen Liste müssen drei weitere Chorleiter erwähnt werden. Zunächst

Ingólfur Guðbrandsson, einer der passionierten Pioniere des Chorgesangs des 20. Jahrhunderts. Ingólfur – der Vater von Þorgerður, der schon oben genannt wurde – gründete im Jahr 1958 Pólýfónkórinn, und dieser Chor führte sowohl in Island als auch auf seinen vielen Auslandsreisen viele der größten Chorwerke auf.

Zu erwähnen ist auch Jón Stefánsson, Organist und Chordirektor an der Church of Bishop Guðbrandur, Langholtskirkja, in Reykjavík. Stefánsson hat an dieser Kirche viele Chöre gegründet und geleitet. Dazu gehörten Kinderchöre, Mädchenchöre und auch der gemischte Chor, und er hat mit diesen viele große Chorwerke aufgeführt.

Schließlich ist noch der Opernsänger Garðar Cortes zu erwähnen, der die Isländische Oper sowie die Reykjavík Academy of Singing and Vocal Arts gegründet hat. Nachdem er die Leitung der Oper abgegeben hatte, gründete er den Isländischen Opernchor, der neben vielen anderen Projekten jährlich Mozarts Requiem aufführt – ein mitternächtliches Konzert mit Orchester im Kerzenschein am Todestag des Komponisten, bei dem die Aufführung des unvollendeten Werkes genau in dem Moment anhält, an dem der Überlieferung nach der Komponist starb. Für alle, die jemals eine dieser Aufführungen erlebt haben, ist es eine sehr eindrucksvolle Erfahrung.

Aufführungen von den meisten der genannten Chöre finden Sie auf YouTube.

 

kammerkór Hallgrímskirkju, Schola cantorum
kammerkór Hallgrímskirkju, Schola cantorum

 

Hallgrímskirkja – die Kirche von Hallgrímur

Wenn man die Choraktivitäten in Island betrachtet, muss man die große Bedeutung der Hallgrímskirkja in Reykjavík erwähnen. Das Gebäude selbst überragt alle anderen Gebäude der Stadt, und ich behaupte, dass die dortigen Choraktivitäten alle anderen Choraktivitäten Islands ebenfalls überragen.

Mótettukórinn – der Motettenchor der Hallgrímskirkja – ist der zentrale Chor der Kirchengemeinde und wurde 1982 von Hörður Áskelsson gegründet, der oben schon genannt wurde. Der Chor erhielt viele Auszeichnungen – zuletzt im September 2014 beim Chorwettstreit Cançó Mediterrània in Spanien, wo der Chor drei Preise erhielt und außerdem als bester Chor des Wettstreites gewählt wurde. Dieser Chor hat viele große Werke der Chorliteratur aufgeführt und darüber hinaus neue Werke bekannt gemacht sowie ausländische und heimische Favoriten vorgetragen. Neben seinen Aufgaben im kirchlichen Dienst gibt der Chor durchschnittlich zehn Konzerte jährlich.

Wie schon vorher erwähnt, ist der Kammerchor, die Schola Cantorum, auch an der Hallgrims-Kirche angesiedelt. Dieser Chor gibt jährlich etwa zwanzig Konzerte und zusätzlich in den Sommermonaten Mittagskonzerte an jedem Mittwoch, und diese Konzerte werden von großen Touristengruppen besucht, die die Kirche besichtigen. Erwähnt werden muss auch die Veranstaltungsreihe „Internationaler Orgelsommer“, ein Sommerfestival mit über 40 Konzerten isländischer und internationaler Gast-Organisten. Letztlich und nicht weniger wichtig ist das Kirchenkunst-Festival – eine alle zwei Jahre in der Kirche durchgeführte Veranstaltung. Das nächste Festival dieser Art wird vom 14. bis zum 23. August 2015 stattfinden. Die Konzerte werden die Erstaufführung von Händels Oratorium “Solomon” auf isländischem Boden sein. Außerdem werden weitere Konzerte mit verschiedenen musikalischen Stilrichtungen stattfinden – und das Finale des Festivals wird das sogenannte „Hymn-Falls“ (Sálmafoss) bilden, das als Teil der Reykjaviker Kulturnacht durchgeführt wird. Viele Chöre aus dem ganzen Land sind zu diesem Marathon eingeladen, der vom Mittag bis in die Nacht dauert. Diese Veranstaltung wird von vielen tausend Gästen besucht werden, die während des Tages kommen und gehen können. Diese Veranstaltung beinhaltet auch Aufführungen von neuen Liedern, die hierfür speziell bei Dichtern und Komponisten in Auftrag gegeben wurden.

 

Isländische Chorliteratur

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde sehr viel Chormusik in Island komponiert. Zu Anfang schrieben die Komponisten nationalistische Literatur. Das war nicht überraschend, denn zu dieser Zeit waren die Isländer stark beeinflusst von der nationalen Freiheit und der Liebe zu ihrem Land, die ja auch den Anstoß für die Gründung der ersten Chöre in Island gab. Das erste bedeutende isländische Chorwerk wurde im Jahr 1930 aufgeführt, eine Kantate, die die eintausend Jahre rühmte, die seit der Gründung des Althing, der ältesten parlamentarischen Institution der Welt, vergangen waren. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, den der Organist und Komponist Dr. Páll Ísólfsson gewann. Die Kantate besteht aus zehn Sätzen und wurde für gemischten Chor, Solist und Orchester geschrieben. Für diesen Anlass wurde ein Festival-Chor gegründet, der aus 100 Personen bestand. Die Aufführung wurde vom Komponisten geleitet. Der Autor ist glücklich darüber, dass er vor zwanzig Jahren an einer Aufführung dieses Werkes mit dem isländischen Opernchor unter der Leitung von Garðar Cortes teilnehmen konnte. Ich kann mich nicht an ein anderes Chorwerk erinnern, das mit so vielen Steigerungen gefüllt war, und ich fühlte mich, als stände ich am Strand und würde eine große Welle beobachten, die an die Küste gekracht war; das Werk explodierte förmlich mit einer passionierten Liebe zu diesem Land. Viele weitere große Werke wurden seitdem komponiert, viele Oratorien und geistliche Werke. Dabei darf man natürlich nicht die Vielzahl kleinerer Werke vergessen, die den Weg in die Herzen der Isländer gefunden haben. Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass bei einem normalen Chorkonzert im Frühling die Mehrzahl der vorgetragenen Lieder aus Island stammt.

Weil Island so viele hervorragende und enthusiastische Chordirektoren hat, die bereit und in der Lage sind, neue Literatur auszuprobieren, sehen sich isländische Komponisten in der Verantwortung, Chorliteratur für sie zu schreiben. Die Komponisten wissen, dass die ausgezeichneten Aufführungen, bei denen ihre Werke vorgestellt werden, sie antreibt, auf diesem Weg weiter zu machen. Die Anzahl isländischer Komponisten, die ausschließlich Chormusik komponieren, ist nicht so groß, aber sie sind überaus produktiv, sodass in jedem Jahr 20 bis 30 neue Werke hinzukommen. Daneben gibt es auch noch Komponisten von Instrumentalwerken, die hin und wieder ein oder zwei Chorwerke schreiben!

Das Iceland Music Information Centre (ICEMIC) ist der richtige Platz, wenn man isländische Chormusik kennen lernen oder sie kaufen möchte. ICEMIC wurde 1968 von der Gesellschaft der isländischen Komponisten für die Veröffentlichung und Verbreitung isländischer Musik gegründet. Das Zentrum archiviert Manuskripte, und mittlerweile wurden alle Werke isländischer Komponisten gescannt und sind entweder in digitaler Form verfügbar oder werden nach Bedarf gedruckt. ICEMIC wird bald einen eigenen Online-Shop eröffnen, und auf der Website www.mic.is findet man Informationen über die Musik. Anfragen können an itm@mic.is geschickt werden – ich empfehle Ihnen, den exzellenten Service des ICEMIC zu nutzen.

 

Nachwort

Natürlich ist die isländische Chortradition kein Unikat mehr. Die Menschen verfolgen mit Interesse, was anderswo in der Welt passiert, sie reisen, und viele haben im Ausland studiert und haben die Chormusik außerhalb Islands kennen gelernt. Aber unterscheidet sich isländische Musik irgendwie von anderer Musik? Ich kann diese Frage nicht beantworten. Sie, lieber Leser, müssen sich ein Urteil bilden. Es gibt viel isländische Musik im Internet, auf YouTube und anderen Portalen. Einige isländische Chorwerke findet man in Online-Shops wie Amazon und iTunes, aber auch auf isländischen Webseiten. Ich empfehle Ihnen, sich dort umzusehen und vielleicht die Antwort auf meine Frage zu finden!

 

Sigurður Sævarsson studierte Gesang in seiner Heimatstadt Keflavík, bevor er zur New Music School in Reykjavík ging. Im Jahr 1994 setzte er seine Ausbildung in Gesang und Komposition an der Boston University fort, wo er in beiden Disziplinen 1997 den Master Degree erhielt. Als Komponist konzentrierte sich Sigurður vornehmlich auf Chorwerke und Opern. Sein Oratorium, die Hallgrímur’s Passion, wurde 2010 von der Schola Cantorum und dem new-music ensemble Caput unter der Leitung von Hörður Áskelsson aufgezeichnet und im gleichen Jahr als CD veröffentlicht. Es wurde für die Icelandic Music Awards als beste CD im Bereich der klassischen und modernen Musik nominiert. Im folgenden Jahr veröffentlichte er eine zweite CD mit dem Chor Hljómeyki, der seine “Missa Pacis” aufführte. Zurzeit arbeitet Sigurður an mehreren neuen Chorwerken und an einer dritten Oper. Auf seiner Website www.sigurdursaevarsson.com können Sie Beispiele seiner Musik hören und weitere Informationen erhalten. Email: s@sigurdursaevarsson.com