Chormusik und soziales Handeln

Von María Guinand

„Es ist ganz offensichtlich, dass die Musik als Sozialisationsfaktor anzuerkennen ist, denn sie vermittelt die höchsten sozialen Werte wie Solidarität, Harmonie, Rücksichtnahme, und sie besitzt die Fähigkeit, die Menschen zusammenzubringen und die sublimsten Gefühle auszudrücken“ (José Antonio Abreu) 1  

In unserem lebendigen Alltag haben wir es mit ständigen und schwindelerregenden Änderungen zu tun. Einerseits sind wir Zeugen wichtiger Entdeckungen und Fortschritte in Technik, Wissenschaft, Medizin, Kunst, Erziehung usw., die zum Wohlergehen der Menschheit beitragen; andererseits beobachten wir aber auch ängstlich die dauernden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Turbulenzen. Innerhalb dieser Dynamik voller Gegensätze und Spannungen fragen wir uns, die wir uns der Chormusik widmen, immer wieder, wie wir unser Handeln und Bemühen gestalten müssen, um auf die heutige Welt, die Entwicklung einer Gemeinschaft oder eines Kollektivs wirkungsvoll Einfluss zu nehmen.

In diesen Zeilen ist es nicht möglich, eine so umfassende und komplexe Frage ausführlich zu behandeln, aber wir können einige Gedanken und Konzepte durchspielen, die uns helfen können, Antworten und Wege zur Steuerung unseres Handelns zu entdecken.

Wir stellen fest, dass die Chormusik im Lauf der Geschichte bei den verschiedensten religiösen oder sozialen Aktivitäten von Gemeinschaften gedieh, wobei sie in vielen Fällen ein Mittel zur Weitergabe von Ideen, Werten und transzendentalen Vorstellungen war. Wir als Chorleiter, Gesangslehrer oder Chorsänger sind uns bewusst, dass unsere Kunst einen ganz besonderen Stellenwert hat, da sie auf Werten gemeinschaftlicher und persönlicher Entwicklung basiert und daher einen wirkungsvollen Beitrag zur Lösung der sozialen Probleme liefert, die in unserem 21. Jahrhundert zu unzähligen Spannungen und Konflikten führen. Als gemeinschaftliche Werte des Chorgesangs betrachten wir Solidarität, Teamarbeit, Toleranz, den Einklang mit der Umgebung und das Gefühl der Zugehörigkeit; und als Werte persönlicher Entwicklung: Disziplin, Selbstbewusstsein, Konzentration, Sensibilität und Kreativität. Wenn all dies mit der Suche nach Schönheit durch künstlerische Exzellenz einhergeht, geschieht das großartige Wunder, das wir in wenigen denkwürdigen Augenblicken unseres Daseins als Musiker und musikalische Leiter erfahren.

 

María Guinand leading El Sistema, a Venezuela's national music-education program
María Guinand leading El Sistema, a Venezuela’s national music-education program

Das Thema Soziales Handeln ist zu einem wichtigen Motto geworden, um die Arbeit vieler künstlerischer, edukativer und sportlicher Verbände zu leiten und sinnvoll zu gestalten in Ländern, in denen die sozialen Konflikte auf Armut und Exklusion beruhen. Aber es ist auch ein wichtiges Diskussionsthema und Sorge in der Unternehmer- und Wirtschaftswelt, da der Begriff der sozialen Verantwortung Teil der Jahresplanung vieler Unternehmen ist. Vor kurzem drückte sich Kofi Annan, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen, so aus:

‚In einem Moment, in dem die Unternehmen einen Großteil ihrer Zeit darauf verwenden, dem Eindruck entgegenzuwirken, sie seien für viele Übel dieser Welt verantwortlich, würde ein größeres Engagement im Kampf gegen die Armut zeigen, dass die Unternehmen Teil der Lösung sind‘ 2

Die Denkweise des Chorleiters José Antonio Abreu, Gründer des „Systems von Jugendorchestern und -chören Venezuelas“, hat weltweit viele Musikverbände dazu animiert, sich mit Begeisterung und Überzeugung für die Inklusion und Rettung von Kindern und Jugendlichen durch die Musik zu engagieren. Eine seiner Prämissen ist: ‚Ursprünglich war die Kunst von Minderheiten für Minderheiten, dann wurde sie zu einer Aktivität der Minderheiten für eine Mehrheit; heute, in unserem Jahrhundert, muss die Kunst von Mehrheiten für die Mehrheit sein‘ 3

Wenn wir über diese Idee nachdenken, stellen wir fest, dass die Chormusik schon seit dem 19. und während des 20. und 21. Jahrhunderts ein Raum der Mehrheiten für Mehrheiten war. Es gibt viele Beispiele von Chören, Festivals und Chorverbändern, die durch ihr Werk und Vermächtnis zur sozialen Inklusion beigetragen haben. Heutzutage ist die Musik vor allem in Afrika und Lateinamerika als Faktor sozialer Veränderung in vielerlei Initiativen präsent, und im Vorderen Orient dient der Chorgesang als Brücke zur Vereinigung von Völkern, die im Widerstreit liegen.

Nun lautet die Frage, die wir uns stellen, folgendermaßen:

‚Wie kann die Chormusik zu einem noch mächtigeren Werkzeug werden, um Integration und soziale Inklusion zu fördern?‘

Es ist in jedem Fall von grundlegender Bedeutung, dass wir unsere Aktivität im Rahmen von Aktionen unternehmerischer sozialer Verantwortung oder innerhalb staatlicher sozialer Programme einbringen, und deshalb ist es wichtig, dass unsere Verbände selbst als künstlerische und soziale Unternehmungen erfolgreich sind. Als Künstler können wir keine Zugeständnisse an das Mittelmaß eines Umfelds machen, das uns oftmals dazu bringt, das ‚Einfältige‘ oder die ‚Vermassung‘ zu suchen, um so leichter Anhänger für unsere Sache zu gewinnen. In dieser Hinsicht müssen wir kreativ sein und neue pädagogische Ideen sowie attraktive Repertoires entwickeln; zusätzlich haben wir in Bezug auf unsere Arbeit und deren Ergebnisse anspruchsvoll zu sein, um unserer Kunst, der Musik, treu zu bleiben.

Um zu einer sozial erfolgreichen Unternehmung zu werden, müssen wir als Leiter und Förderer allerdings einige Parameter im Auge behalten:

  • Innovation bei den künstlerischen und pädagogischen Vorhaben, die als Transformation traditioneller Praktiken zu verstehen sind‘…
  • ‚Die Nachhaltigkeit unserer Aktionen, was von der Schaffung von Institutionen abhängt, die sich der Aufrechterhaltung unserer Initiativen im Rahmen einer Partnerschaft gegenseitigen Nutzens mit öffentlichen und privaten Sektoren widmen‘…
  • ‚Die vorgesehenen Aktivitäten sollten außerdem eine unmittelbare soziale Auswirkung haben, d.h., in direkter Zusammenarbeit mit den durch sie Begünstigten entwickelt werden, wobei die Ergebnisse in messbarer und nachprüfbarer Form zu dokumentieren sind.‘
  • ‚Der Grad der Reichweite und Ausdehnung der Initiative über ihr anfängliches Umfeld hinaus, und ihre Reproduzierbarkeit in anderen Regionen, alles auf der Ebene interinstitutioneller Kooperation.‘ 4

Es gibt viele Räume, in denen wir operieren können, um aus unseren Chören erfolgreiche künstlerische und soziale Vereinigungen zu machen, die es ermöglichen, unsere Aktivitäten innerhalb der Gemeinschaft und in Verbindung mit öffentlichen und privaten Sektoren auf kreativere und aktuellere Weise zu entwickeln.

Wir leben in einer komplexen Welt voller Wettbewerb, wo oft genug Ungerechtigkeit, Intoleranz, mangelnde Freiheit und Exklusion vorherrschen, und all dies weist auf eine unsichere Zukunft für die neuen Generationen hin. Wir haben jedoch die große Chance, Teil eines gemeinschaftlichen Handelns zu sein, das darauf ausgerichtet ist, immer mehr Kindern und Jugendlichen durch den Chorgesang zu einem würdigeren Leben in Freiheit und Hoffnung zu verhelfen, so dass auch sie einen Raum haben, in dem sie ihre Träume verwirklichen können.

 

[1] ‘Tocar y Luchar’ (Film)

2 http://atamayon.blogspot.com/2014/01/el-foro-de-davos

3 ‘Tocar y Luchar’ (Film)

4 ‘Criterios de selección para el ‘Emprendedor del Año’’. Schwab Foundation for Social Entrepreneurship. [bei: www.schwabfound.org/colombia/criteria.htm]

 

María Guinand, Chorleiterin, Universitätsprofessorin, Pädagogin und Leiterin nationaler wie internationaler Chorprojekte, hat sich auf die lateinamerikanische Chormusik des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisiert. Sie hat 1998 den ‘Kulturpreis’ (1998) der Stiftung Inter Nationes, 2000 den ‘Robert Edler Preis für Chormusik’ und 2009 den Helmuth Rilling Preis gewonnen. Mit der Cantoría Alberto Grau erhielt sie sechs Preise bei den Wettbewerben von Neuchâtel und Arezzo (1989), und mit dem Orfeón Universitario Simón Bolívar gewann sie bei der Chorolympiade, die 2000 in Linz durchgeführt wurde, drei Goldmedaillen. Zurzeit leitet sie die Schola Cantorum de Venezuela und die Coral Fundación Empresas Polar und ist künstlerische Leiterin des FSCV und Beisitzerin bei der IFCM. Von 1976 bis 2009 hat sie als assoziierte Direktorin der Montajes Sinfónico Corales eng mit ‚El Sistema‘ zusammengearbeitet. Email: maria_guinand@yahoo.com

 

Übersetzt aus dem Spanischen von Reinhard Kißler, Deutschland