Der Chilbury Ladies’ Choir, Roman von Jennifer Ryan

Veröffentlicht bei Crown, ISBN 9781101906750

Rezensiert von Gillian Forlivesi Heywood, Übersetzerin, Herausgeberin und ehemalige ICB-Koordinatorin für englische Texte

Der Chilbury Ladies’Choir ist – passend zum Titel – ein chorisches Werk, in dem Sinn, dass die Geschichte von einer Anzahl verschiedener Stimmen erzählt wird, einzelne Handlungsstränge, die sich zu einem vollständigen Bild zusammenfinden. Die Geschichte entwickelt sich über Tagebücher, Briefe, Telegramme, Zeitungsberichte und Notizen, die am schwarzen Brett des Rathauses hängen.Das Dorf Chilbury, nahe der englischen Südküste, ist erfunden, aber der historische und geografische Rahmen sind real. Das Buch beginnt im März 1940, bald nach dem Beginn des 2. Weltkriegs, zu einer Zeit, als der Krieg weit weg von England schien und die Briten ihn den „Scheinkrieg“ nannten, weil kaum etwas zu passierte. Jedoch kommt diese Situation zu einem dramatischen Ende, als die Deutschen in Frankreich einmarschieren und die Soldaten der Alliierten aus Dunkerque, das die Briten Dunkirk nennen, evakuiert werden. Von diesem Moment an wird die Geschichte viel düsterer.

Aber lassen Sie uns zum Anfang zurückkehren. Das Buch beginnt mit einer am Rathaus ans schwarze Brett gehefteten Notiz, mit der der Vikar die übrig gebliebenen Dorfbewohner darüber informiert, dass, nachdem alle Männer in den Krieg gezogen sind, der Chor aufgelöst wird. Frau Brampton-Boyd ( üblicherweise, zu ihrem Ärger, von den Anderen kurz “Frau B.“ genannt ) kommentiert es prompt ‚ Bloß‚ weil die Männer in den Krieg gezogen sind – deshalb müssen wir den Chor auflösen? Und das genau zu einer Zeit, da wir ihn am dringendsten brauchen!‘

Diese Bemerkung spiegelt den Geist der Novelle: die ersten Samen der Revolte der Frauen des Dorfes und die Bedeutung des Chors und der Musik in einer Zeit der Angst und Sorgen.

Die Novelle ist mit sehr unterschiedlichen Charakteren besetzt. Die autokratische Frau B., die sanfte melancholische Frau Tilling, die Winthrop-Schwestern Venetia und Kitty. Venetia ist achtzehn Jahre alt, blond und schön; Kitty ist dreizehn und möchte Sängerin werden, wenn sie älter ist. Bei den Winthrops lebt noch Silvie, ein zehn Jahre altes jüdisches Flüchtlingsmädchen aus der Tschechoslowakei, das ein tragisches Geheimnis hütet, das erst gegen Ende der Geschichte aufgedeckt wird. Zu den anderen Personen gehören Angela Quail, die Tochter des Vikars und gute Freundin von Venetia, die wir durch Venezias Briefe und Bemerkungen anderer Dorfbewohner kennenlernen; nach Kittys Ansicht ist sie schamlos und unmoralisch. Außerdem wird uns Brigadier Winthrop vorgestellt, ein zutiefst unangenehmer Charakter, ein grausamer Tyrann, Vater von Venetia und Kitty; und die Hebamme, Fräulein Edwina Paltry, eine absolut skrupellose Frau, die Geld braucht und die zu allem bereit ist um es zu bekommen. Zusammen mit Brigadier Winthrop brütet sie ein grausames Komplott aus, um dem Brigadier zu dem zu verhelfen, was er sich am meisten wünscht: einen Sohn, um den Sohn zu ersetzen, der gerade getötet wurde, und um sein Gut Chilbury Manor und die Ländereien zu sichern, die nur an männliche Nachfolger vererbt werden können. Eine Schlüsselperson in der Novelle ist Fräulein Primrose Trent, bekannt als Prim, eine Musikdozentin aus London, die nach Chilbury gezogen ist, um an der nahegelegenen Universität zu unterrichten. Als sie von Kitty hört, dass der Chor aufgelöst wurde, teilt sie Frau B.s Reaktion und sagt: ‚Nun, das ist nicht gut, nicht wahr! Einen Chor abschaffen. Besonders in einer Zeit wie dieser!‘ Wieder sehen wir die Bedeutung eines Chors und der Musik in sorgenvollen Zeiten.

Die Geschichte entwickelt sich und bringt Drama, Tragödie, Geheimnis und sogar Romantik mit sich. Stück für Stück fangen die Frauen des Dorfes an, sich zu behaupten, erkennen ihre Fähigkeiten und ihre Bedeutung und fangen an, sich zu fragen, warum sie es zugelassen haben, dass die Männer in ihrem Leben sie bevormundet haben, anstatt ihren eigenen Verstand zu trainieren. Prim gründet den Chor, der sich jetzt Chilbury Ladies’ Choir nennt, neu und bringt damit Frauen von sehr unterschiedlichem Alter und Status zusammen: die Lady vom Gut, die Ladeninhaberin, eine Krankenschwester und eine Hebamme, eine Sekretärin, zwei Schulmädchen und die Dorflehrerin: der Chor macht sie alle gleich. Gemeinsam entdecken sie die Freude am gemeinsamen Singen wieder, ‚indem wir alle Sehnsüchte, unsere Sorgen und unsere tiefsten Ängste heraussangen‘.

Eine Frau im Dorf, Frau Poultice, sieht ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden, als ihr Sohn in Frankreich getötet wird. Erschüttert und mit gebrochenem Herzen scheint sie die Kraft zu sprechen verloren zu haben und spricht mit niemandem mehr, aber die Frauen vom Chor überreden sie, mit zum Chor zu kommen, in der Hoffnung sie fände Trost in der Musik. Prim übt mit ihnen einen Gregorianischen Choral‚ ‚für die Trauer um die Toten‘, und sie singen ihn im Kreis sitzend und sich an den Händen haltend. Frau Tilling kommentiert das in ihrem Tagebuch, wie ‚…Singen uns zusammenbringt. Da waren wir, jede in ihrer eigenen kleinen Welt mit ihren eigenen Problemen – und dann plötzlich schienen sie sich aufzulösen, und wir erkannten, dass (wir) dies hier durchleben, indem wir uns gegenseitig unterstützen, das ist es, was zählt‘.

Silvie, das Flüchtlingskind, erinnert das an „sitzende shiva“, das jüdische Trauerritual als ihr Großvater starb, und an den Trauergesang Kaddish. Sie singt ihn Kitty vor, die ihn aufschreibt; Silvie meint, dass sie ihn vielleicht für die arme Frau Poultice singen könnten. Die Autorin erinnert uns hier an die immense Kraft der Musik, eine universelle Sprache, die durch Berührung mit unserer gemeinsamen Menschlichkeit alle Unterschiede von Kultur, Religion und Nationalität überwinden kann. In einem anderen Auszug aus ihrem Tagebuch beschreibt Kitty das Singen des ‚Lacrimosa‘ aus dem Requiem von Mozart als ein Ertrinken in‚ einem riesigen Ozean von Leid‘ bis sie, die Überlebenden, am Ende stärker als vorher wieder auftauchen.

Jennifer Ryan lässt einen die sehr reale Angst vor der Invasion deutlich spüren, die die Menschen dort nahe der Südküste Englands in dieser Zeit hatten. Wir, die Leser fünfundsiebzig Jahre später, wissen natürlich, dass das niemals passierte; England wurde nicht besetzt. Aber damals war das eine sehr reale Bedrohung, und Jennifer Ryan lässt uns die Ängste der Dorfbewohner spüren. Frau Tilling schreibt in ihr Tagebuch, ‚(Ich fürchte) dass wir   unser Land verlieren, unsere Kultur, unsere Freiheit, unser eigenes Selbst… und es wird nichts mehr übrig bleiben. Wir werden hohle Skelette sein.‘ Gleichzeitig aber bringt sie als Gegengewicht zu dieser Angst etwas launisches komödienhaftes, als die Frauen des Dorfes zusammenkommen, um zu diskutieren, wie sie, im Falle eines Falles, eine Invasion abwehren wollen. Zu den improvisierten Waffen gehören eine Tischlampe, ein Schürhaken und eine dreistufige Etagere! Frau Tilling hat ein Luftgewehr, das ihrem Mann gehörte (obwohl sie keine Ahnung hat, wie man damit umgeht), und Frau Quail, die Frau des Vikars, behauptet, sehr geschickt im Umgang mit einem Küchenmesser zu sein. Den Frauen fehlt es mit Sicherheit nicht an Mut.

Eine Tragödie trifft das Dorf, als ein Flugzeug eine Bombe abwirft und Tod und Zerstörung bringt. Bei dem darauf folgenden Begräbnis trägt, in Ermangelung von Männern, der Chilbury Ladies’ Choir selbst den Sarg eines ihrer geliebten Mitglieder in einer wunderbar dramatischen und bewegenden Szene. Sie singen ‚Abide With Me‘ auf dem Weg von der Tür zum Altar, ihre Stimmen wie ‚eine aufsteigende weiße Taube im unaufhörlichen Tumult des Krieges‘.

Zwei Dinge unterscheiden diesen Roman von anderen ähnlichen Büchern. Erstens, die Authentizität: sie ist lebhaft und direkt, und kaum überraschend, wenn man erkennt, dass es Erinnerungen an tatsächlich Geschehenes von Jennifer Ryans Großmutter und ihre Geschichten aus der Kriegszeit waren, die das Buch inspirierten. Und zweitens zieht sich der Chor durch die Geschichte wie ein Silberfaden durch einen Gobelin: ein Ort der Zuflucht und Gemeinschaft, der Ort, an dem die Frauen Kraft zum Durchhalten finden, trotz der Tragödien und Schwierigkeiten, die sie bedrängen; der Ort, wo sie zusammenkommen um Freude und Leid, Hoffnungen und Ängste zu teilen und diese Gefühle durch Musik auszudrücken. Eine Gruppe von Frauen wie sie unterschiedlicher nicht sein können, vereint in ihren Herzen und Gedanken, wie nur Musik vereinen kann, aufgerichtet durch ihre Kraft.

Es ist Prim überlassen, die wahre Bedeutung von Musik zusammenzufassen:

‚Musik trägt uns aus uns selbst heraus, weg von unseren Sorgen und Tragödien, hilft uns, in eine andere Welt zu sehen, einen größeren Zusammenhang. All jene Kadenzen und Akkordwechsel, jeder einzelne lässt dich eine andere Facette der Herrlichkeit des Lebens sehen.’

Jennifer Ryan wuchs in der Grafschaft Kent in Südostengland auf; sie lebt jetzt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Washington D.C. Sie hat dieses Buch ihrer Großmutter und ‚den Frauen an der Heimatfront‘ gewidmet, die ihre Inspiration waren.

 

GILLIAN FORLIVESI HEYWOOD kam in der Nähe von Manchester in England zur Welt. Sie hat einen Abschluss (Honours Degree) in Italianistik von der Universität Reading. Sie lebte viele Jahre lang in Italien, zuerst in Mailand, wo sie an einer der besten Universitäten Englisch unterrichtete, und dann in Rimini an der Adriatischen Riviera. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter, Enkel (Zwillinge) und zwei äußerst verwöhnte Katzen. Sie hat immer als übersetzerin gearbeitet und weiter Englisch gelehrt, hauptsächlich für Berufstätige. Eine Zeit lang leitete sie ihre eigene Sprachschule. Sie übersetzt immer noch gerne und arbeitet hauptsächlich auf dem Gebiet der Geschichte (vor allem der lokalen Geschichte) und der Kunst. Oft wird sie damit beauftragt, Besucherinformationen für Kunstausstellungen zu übersetzen. In ihrer freien Zeit singt sie in einem Laienchor (zusammen mit ihrem Gatten), geht in Konzerte und ins Theater, liest und n.ht. Oder sie macht lange Spaziergänge in der Umgebung oder am Meer entlang. Sie ist auch aktives Mitglied und ehemalige Vizepräsidentin der örtlichen Seniorenuniversität. Sie reist gerne und ist immer auf dem Sprung für neue Reiseabenteuer. E-Mail: new.linguist@yahoo.it

 

Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Uhlig, Deutschland