Chorisches „Aussingen“ — Die Tradition auf den Kopf gestellt

Von Tim Seelig, Chorleiter und Lehrer
Übersetzt aus dem Englischen von Florian Sievers, Deutschland

 

Sind Sie auch der immer gleichen alten Einsingübungen überdrüssig? Wir alle sind es. Also, beginnen wir neu – mit einem brandneuen Ansatz.

Viel wurde diskutiert, ob es notwendig sei, vor jeder einzelnen Chorprobe ein Einsingen zu machen, wie wir es gelernt haben. Diese Debatte gibt es, seit es Chöre gibt.

Führt das Einsingen uns wirklich zu unserem wirklichen Ziel, oder ist es nur verschwendete Zeit, nur weil unser Chorleiter es gemacht hat?

Was wir wirklich brauchen, sind effektive, effiziente Aus-singen [Bem. d. Übers.: Originalbegriff im Englischen: warm-down. Es findet sich wahrscheinlich keine vollauf zutreffende deutsche Übersetzung. Um den Unterschied und die Gegensätzlichkeit zur herkömmlichen Praxis des „Einsingens“ trotzdem zu verdeutlichen, wird in diesem Artikel vom „Aussingen“ gesprochen]! Es ist weder unsere Aufgabe, noch haben Sie wirklich die Zeit, um Ihre Sänger einzusingen.

Zunächst eine Warnung: Dieser Artikel ist nicht für euch Heilige, die noch vor der Schule um 7:30 Uhr Chorprobe haben oder in frühen Gottesdiensten singen. Dieser Artikel ist für jeden, der einen Chor leitet, der nach Mittag probt!

Die Wahrheit ist, dass die meisten Leute ihre Stimme täglich nutzen, entweder bei der Arbeit, im Spiel, oder zuhause. Wenige Menschen kommen zu unseren Proben mit einer total frischen, ungenutzten Stimme. Was sie getan haben ist jedoch sprechen und nicht singen.

Es gibt ein bekanntes Sprichwort aus der alten italienischen Schule: Si canta come si parla (Man singt wie man spricht). Das könnte nicht weiter weg sein von der Wahrheit.

Hier ist das Problem (und eines, welches jeder Sprachtherapeut betont und für Sie bereithält):

Wenn wir normal sprechen,

  1. achten wir selten auf Haltung.
  2. atmen wir fast nie oder nutzen den Atem nie richtig.
  3. sprechen wir in zu tiefem Register.
  4. sprechen wir nicht deutlich und nutzen nicht unsere Artikulatoren.

Einfach gesagt: Im täglichen Sprachumgang sind wir faul. Das wird nicht beim Singen funktionieren – oder beim Sprechen. Unser Anliegen ist, dass die Angewohnheiten, die unsere Sänger beim Sprechen sieben Tage die Woche nutzen, vor dem Singen umgekehrt werden in einem kurzen Aussingen.

Wenn man sich die vier Defizite in unseren Sprechmustern anschaut, ist es die perfekte Kur, die schlechten Angewohnheiten umzukehren, die Ihre Sänger nutzen, wenn sie nicht in Ihrer Gegenwart sind. Es beschreibt einen sehr klaren und prägnanten Weg der Durchführung.

Man braucht keine lange, komplizierte Aneinanderreihung von Einsingübungen. Andererseits sind es Anweisungen, die Sie als vielleicht einziger Stimmbildner, den viele Ihrer Sänger je hatten, mit Ihren Sängern teilen. Das kann durch Aussingen, Nachahmungslernen oder mittels Ausschnitten aus dem Repertoire geschehen, das Sie proben wollen.

Die absolut wichtigste Sache, die wir gleich zu Anfang des Aussingens machen, ist simpel: die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Unsere Sänger kommen aus ihrem hektischen, vollen Alltag, der sie immer wieder vor Aufgaben stellt, auf die sie nicht vorbereitet sind. Es ist entscheidend, dass sie solche Ablenkungen und den Ballast an der Tür zum Probenraum ablegen.

Wenn wir bewusst die vier schlechten Manieren umdrehen, die vorher aufgelistet wurden, werden wir auf ein sehr einfaches Aussingen kommen. Diese Schritte sollten immer in derselben Reihenfolge geleistet werden:

  1. Lassen Sie die Sänger sich bewegen, dehnen, massieren, interagieren, springen, rennen, drehen und als wichtigstes: Zeigen Sie ihnen, wie sie richtig stehen! Lassen Sie sie zurückkehren zu ihrer alltäglichen Körperhaltung. Dann lassen Sie sie – bei „drei“ – „euer Instrument fürs Singen halten“. Sie werden überrascht sein – wie die Sänger auch – wie sie reagieren.
  2. Laden Sie sie ein, zu atmen. Erinnern Sie sie, dass wir im täglichen Leben nur einen Bruchteil unseres Lungenvolumens nutzen. Wir brauchen mehr fürs Singen. Zeigen Sie ihnen, wie sie diesen Extraluftspeicher finden. Dann lassen Sie sie eine Melodie singen, während sie auf ihrem Zeigefinger blasen. Das lässt sie sich daran gewöhnen, den Atem zu nutzen, anstatt die Stimmlippen an der Luft verhungern lassen, wie wir es so oft beim Sprechen tun.
  3. Wenn sie angenehm singen, steigern Sie ihren Ambitus in die Höhe. Lassen Sie sie eine schöne Phrase singen aus der Musik, die geprobt werden soll. Dann schieben Sie genau diese Phrase immer um einen Halbton höher, erlauben Sie ihnen, ihre Stimmbänder zu dehnen. Gehen Sie zwei oder drei Halbtöne höher und lassen Sie jedes Mal Zeit zur Muskelentspannung. Wenn sie zur Originaltonart zurückkehren, wird es sich entspannt anfühlen!
  4. Lassen Sie die Sänger einen Textauszug aus dem Repertoire übertrieben flüstern – ohne die Stimmbänder zu benutzen. Sie werden fühlen, wie die Konsonanten und die Nutzung des Vokaltraktes eine Verbindung zum Zwerchfell und zu den Bauchmuskeln braucht. Dann lassen Sie sie diese Phrase singen. Sie werden über das Ergebnis verblüfft sein. Zum Spaß können Sie die Sänger auffordern, die Phrase mit einem Bleistift zwischen den Lippen zu singen. Sie werden sehen, wie faul sie waren. Wir sind keine Bauchredner!

Als ich in der Schule war, habe ich Maschinenschreiben gewählt. Vielleicht haben Sie das auch getan. Das erste, was ich lernte, war die Grundreihe [engl.: home row]. Wie Sie wissen, war die Grundreihe genau das, was sie impliziert. Es ist der Platz, wo Ihre Finger ruhen – wo sie am bequemsten liegen. Natürlich bewegen sich Ihre Finger über die Grundreihe hinaus und erreichen alle möglichen tollen Dinge, aber sie kommen oft wieder zurück. Da sind sie verankert und angenehm. Am Beginn wären ihre Finger irgendwo anders verloren.

Ihre Sänger sollten wissen, wo ihre „Grundreihe“ ist. Was heißt das? Lassen Sie sie irgendeine Note in einem Akkord singen, den Sie ihnen geben. Der sollte so perfekt sein, wie sie es können. Dann formen Sie ihn, färben ihn, beschreiben ihn. Dieser perfekte Klang sitzt im Ohr Ihres Bewusstseins. Sie müssen genug vokale/chorische Pädagogik kennen, um ihnen klar zu kommunizieren, wie sie den Klang erreichen können, den Sie wollen. Das ist die Grundreihe.

Es gibt ein paar Dinge, die ich mit der Grundreihe probieren möchte.

 

DYNAMIK

Die erste Dynamik heißt Messa di voce. Lassen Sie ihre Sänger einen Vokal Ihrer Wahl singen, fangen Sie an mit “ah”. Lassen Sie sie pianissimo beginnen, bis zum fortissimo crescendieren, und dann zurück. Während sie das tun, zählen Sie mit Ihren Fingern von 1 bis 8 und zurück zur 1. Dann lassen Sie sie von ihrer kinästhetischen Erinnerung ausgehend eine 3, eine 5, vielleicht eine 1, dann eine 8 singen. Ich benutze keine Dynamikbezeichnungen mehr. Ich bezeichne sie mit Nummern. Es gibt einfach zu viele Variablen wenn ich sage: „Ich hätte diese Stelle gerne im piano.“ Das bedeutet verschiedenes für verschiedene Leute. Aber eine 3 ist eine 3 für jeden im Chor. Und, wenn Sie Probleme haben, den Chor wegen Besetzungsfragen in eine klangliche Balance zu kriegen, können Sie die Bässe bitten, immer bei 6 als ihrer Grundreihe zu singen, die Tenöre bei 4, die Alte bei 5 und die Soprane bei 1 (Scherz!). Das wird enorm helfen, wenn eine Stimmgruppe ständig lauter ist als eine andere. Lassen Sie sie eine Nummer weniger singen.

Übung: Bauen Sie es von unten auf. Starten Sie mit einer Dynamik von 7 im Bass, und jede Stimmgruppe weiter oben singt eine Stufe weniger bis zur 4 im Sopran. Voila! Kehren Sie es zum Spaß um. Bässe singen eine 4, bis nach oben, wo die höchsten eine Dynamik von 7 singen. Dieser Akkord wird wegen der Schwere in der Höhe nie gut klingen.

 

KLANGFARBE

Basstonlautsprecher (BL, engl.: woofer)/Hochtonlautsprecher (HL, engl.: tweeter) Dies ist Resonanzkorrektur – nicht deren Einstellung. Man kann nicht wirklich einen Ton “platzieren”.

Der HL ist vorne – der Mund mit den harten Oberflächen wie dem harten Gaumen und den Zähnen. Der BL ist der Rachen und die weichen Oberflächen. Wählen Sie einen Ton aus. Lassen Sie Ihre Sänger ihren Zeigefinger vertikal vor ihrem Mund platzieren. Lassen Sie sie sehr weit vorne singen, dünn und hell „ah“. Lassen Sie sie ihren Finger zum Kiefer und dann zum Ohr bewegen. So wie sie das tun, werden sie ihren Rachen (BL) öffnen und die Resonanz im Mund (HL) vermindern. Der erste Klang ist „zu hell“. Der letzte Klang ist „zu dunkel“. Der gemischte Klang – in der Mitte – ist „genau richtig“. Ich benutze überhaupt keine Farbbegriffe mehr. Ich nutze mehr Basstonlautsprecher (BL, engl.: woofer)/Hochtonlautsprecher (HL, engl.: tweeter). Das funktioniert bestens.

Übung: Bauen Sie wieder vom Grund auf. Beginnen Sie mit mehr HL in der tieferen Stimmen, sich entwickelnd zu mehr BL in den höheren Lagen. Dann, zum Spaß, drehen Sie es um. Lassen Sie die tieferen Stimmen mehr BL und die hohen mehr HL benutzen. Sie – und die Sänger – werden sofort feststellen, dass so kein Zusammenklang möglich ist.

Zusammengefasst haben Sie nun ein bisschen über das alte Prinzip „Man muss den Chor vor der Probe 15 Minuten einsingen – egal welches Repertoire geübt wird oder was auch immer los ist“ nachgedacht.

Singen sollte so natürlich zu unseren Sängern kommen wie das Sprechen. Sicher soll es genau so natürlich sein, aber nie so einfach! Stellen Sie sicher, dass jedes Element der Anweisung, das Sie nutzen, einfach zu verstehen ist und – am wichtigsten – einprägsam. Die Sprechgewohnheiten Ihrer Sänger werden sich auch verbessern.

Viel Glück mit Ihrem Aussingen!

 

 

Dr. Tim Seelig leitet den San Francisco Gay Men’s Chorus (Schwuler Männerchor San Francisco) und ist weiterhin gefragter Gast auf der ganzen Welt. Er ist ehemaliger Leiter des Turtle Creek Chorale in Dallas, Texas, den er 20 Jahre lang dirigierte. Seelig hat vier Abschlüsse, darunter der Doctor of Musical Arts Abschluss und ein Diplom vom berühmten Mozarteum in Salzburg, Österreich. Er hat sieben Bücher und DVDs über Chortechniken herausgebracht. Er hat seit 1991 jährlich in der Carnegie Hall und im Lincoln Center dirigiert. Als Sänger hat er Uraufführungen von John Corigliano, Conrad Susa und Peter Schickele (P.D.Q. Bach) gesungen, war bei seinem Europa-Debüt 1. Bariton an der Schweizer Nationaloper und gab sein Solokonzert-Debüt in der Carnegie Hall. Er hält den Guiness Weltrekord für das Dirigat des längsten Chorkonzertes in der Geschichte (über 20 Stunden) und trug die olympische Flamme. Seine Aufnahmen haben die Billboard Top Ten Charts erreicht und kürzlich erst erhielt er den Independent Music Award für I Am Harvey Milk. Er wurde außerdem portraitiert in zwei PBS Dokumentationen, von welchen eine den Emmy für die Beste Dokumentation gewann. Bekannt für seinen Enthusiasmus und seinen Sinn für Humor, sagt das Grammy Magazine: „Dr. Seelig verhilft Eklektizismus zu neuen Höhen.“ Das Fanfare Magazine schreibt: „Er bringt Amateursänger dazu, eine große Aufmerksamkeit zu erreichen durch exzellente Aufführungen von anregendem, frischem Repertoire.“ Die New York Times nennt Seelig einen „ausdrucksstarken Musiker“ und das Fort Worth Star Telegram sagt: „Seelig nimmt ein großes Stück vom Schinken.“ Er ist verheiratet mit Dan England und ist der stolze Großvater von Clara Skye. Email: tgseelig@mac.com