Soziale Einbindung durch gemeinsames Singen: Eine Rückschau auf mehr als 10 Jahre Fayha-Chor, Libanon
Barkev Taslakian, Dirigent, Libanon
Ein paar Fakten und Zahlen bezüglich der Bevölkerung des Libanon
Nach Schätzung der Weltbank (Stand Mitte 2020) beläuft sich die Bevölkerung des Libanon auf 6.825.442 Menschen. Hierin eingeschlossen sind über 479.537 palästinensische Flüchtlinge, die beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für arabische Flüchtlinge aus Palästina (UNRWA) registriert sind, sowie – laut Angaben der libanesischen Regierung – 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge (von denen lediglich 865.500 beim UNHCR registriert sind). Diese Zahlen zeigen laut EU, dass der Libanon den weltweit höchsten Flüchtlingsanteil aufweist. Das Land ist auch als eine multikulturelle Region bekannt mit einer Gesellschaft, die 18 Glaubensgemeinschaften umfasst. Der Umstand, dass all diese Kulturen zusammen auf ein und demselben Territorium leben, kann auf kultureller Ebene sehr bereichernd sein, im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt jedoch eine große Herausforderung darstellen.
Der „Fayha-Chor“ als eine den Libanon – und zwar den ganzen Libanon – repräsentierende Einheit
„Er repräsentiert den Libanon“, erklärt Jacques Vanherle (ehemaliger Präsident von Polyfollia International), indem er Jugendliche aus allen sozialen, religiösen, geografischen … Zugehörigkeiten des Landes vereinige. Der Chor wurde 2003 in Tripoli gegründet, einer Stadt, die in einer der ärmsten Regionen des Mittelmeerraums gelegen und deren Geschichte von Bürgerkriegen und inneren Konflikten geprägt ist. Der Chor wuchs heran, gründete einen Ableger andernorts im Land sowie einen weiteren Ableger in Ägypten und entwickelte sich zu dem weltweit ersten arabischen Chor, der arabische Musik in Bearbeitungen für mehrstimmigen Gesang a cappella repräsentiert.
Nach Reisen durch die ganze Welt und zahlreichen internationalen Auszeichnungen ist der Fayha-Chor für das libanesische Volk das Aushängeschild des Landes geworden, da er die ganze Bevölkerung repräsentiert und das wahre zivilisierte Gesicht der Libanesen und Araber zeigt. Das ist besonders wertvoll, weil die schlechten Nachrichten aus der Region mehr Raum in den Medien zu erhalten scheinen.
Gemeinsames Singen als Mittel für soziale Einbindung
Dem Sing Me In-Projekt zufolge „ist gemeinsames Singen ein sozialer Akt: es geht um das Singen in Gemeinschaft. Gemeinsames Singen kann eine tiefe, emotionale und glücklich machende Verbundenheit schaffen, selbst zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen“.
Alles begann nach dem Libanon-Konflikt 2007 zwischen Fatah al-Islam, einer militanten islamistischen Organisation, und den libanesischen Streitkräften in Nahr El Bared, einem Camp der UNRWA für palästinensische Flüchtlinge in der Nähe von Tripoli im Nordlibanon, als die UNDP an den Fayha-Chor herantrat und diesem das Projekt eines „Lebanese Palestinian Choir“, also eines libanesisch-palästinensischen Chors vorschlug. Dieses Projekt hatte zum Ziel, die friedlichen Beziehungen zwischen den Palästinensern, die in das Camp nach dessen Wiederaufbau zurückkehrten, und der libanesischen Community in fünf um das Camp angesiedelten Dörfern wiederherzustellen.
Auch wenn das Projekt nur zwei Jahre lief, waren die Ergebnisse überraschend, was die Entwicklung der Gruppe in individueller und kollektiver Hinsicht anbelangte. „Der libanesisch-palästinensische Chor war für mich ein Wendepunkt, an dem sich mein Leben um 180 Grad drehte“, erklärt Mubadda Yunes, eine palästinensische Sängerin, die dem damaligen Chor angehörte und bis heute aktives Mitglied des bestehenden Fayha-Chors ist, wie so viele andere, die einst in dem Projekt starteten und dann dem Fayha-Chor beitraten.
Zur selben Zeit erreichte uns eine Anfrage seitens des Regionalbüros der UNESCO in Beirut, einen Kinderchor für Schülerinnen und Schüler staatlicher Schulen und Kinder aus den Camps für palästinensische Flüchtlinge im Libanon zu gründen. Mehr als 10.000 Kinder wirkten darin mit, von denen einige bis zum heutigen Tage dabeiblieben und im Fayha-Chor mitsingen.
Nadia trat im Alter von 19 Jahren dem UNESCO-Chor bei, nun ist sie 29 und singt weiterhin im Fayha-Chor mit. Nadia sagt: „Mein Eintritt in den Chor der UNESCO veränderte mein Leben und machte mich zu der Person, die ich heute bin.“ Aus dem einstigen Flüchtlingskind, das sich alles erkämpfen musste, hat sie sich zu einem erfolgreichen Mitglied ihrer Community entwickelt, das all seine grundlegenden allgemeinen Lebenskompetenzen und Arbeitsfertigkeiten durch den Chor erlernte.
Diese Projekte waren sehr erfolgreich und lieferten großartige Ergebnisse nicht nur auf musikalischer, sondern auch auf sozialer und psychologischer Ebene. Zum ersten Mal in ihrem Leben trugen Kinder und Jugendliche ihre arabischen Lieder auf den größten Bühnen des Landes vor. Für die Mehrheit unter ihnen erfüllte sich damit ein Traum, der ohne den Chor niemals Wirklichkeit geworden wäre.
Unterdessen verfolgte der Fayha-Chor seinen Weg weiter, in Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen Organisationen wie „War Child Holland“, „Norwegian Refugee Council“, „Beit Atfal Assoumoud“, „SOS Kinderdorf“, „Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ)“, „Europäische Union“ und vielen anderen im ganzen Land Chöre zu gründen.
Im Verlauf des Jahres 2015 richteten internationale Organisationen ihren Fokus zunehmend auf syrische Flüchtlinge im Libanon, und so wurden zahlreiche neue Vereinigungen im ganzen Land gegründet, die sich an syrische Kinder und Jugendliche in den über das ganze Land verteilten Camps richteten.
Laut UNHCR „belief sich die Gesamtzahl der registrierten syrischen Flüchtlinge in der Bekaa-Ebene im Libanon auf 339.473 Personen. Somit beherbergt diese Region mit 38,6 % den größten Anteil aller im Land registrierten Flüchtlinge“.
Der Fayha-Chor gründete in dieser Region zwei Chöre für Kinder aus den verschiedenen Lagern für syrische Flüchtlinge: den mehr als 500 Sängerinnen und Sängern zählenden „Sonbola Choir“, der von 2014 bis 2019 bestand, und den seit 2014 bestehenden „Children of Syria Choir“ mit mittlerweile mehr als 300 Mitgliedern.
Jihan aus dem „Sonbola Choir“ war 12 Jahre alt, als sie anmerkte: „Die Probe ist der einzige Ort, der mich an meine Kindheit in den Straßen von Syrien erinnert. Und um auf dem Rückweg von der Probe den Lärm der Bomben in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, blieb mir nichts anderes übrig, als all das zu singen, was wir im Chor gelernt hatten“.
Parallel zu unserem Sonbola-Projekt unterwiesen wir im Rahmen des Projekts „Create Syria“ zehn in verschiedenen Vereinigungen tätige jugendliche und erwachsene syrische Flüchtlinge im Fach Kinderchorleitung, um ihnen die Möglichkeit zu geben, eigene Ensembles in den verschiedenen Zielregionen zu gründen.
Einer der wichtigsten Erfolge, die wir im Zusammenhang mit diesen Kindern feststellen konnten, zeigt sich in deren veränderten Verhalten gegenüber anderen. Bei unserem ersten Zusammentreffen waren sie chaotisch, ungestüm, aggressiv und zeigten kein Interesse an ihrer äußeren Erscheinung. Während der Pausen kämpften sie die ganze Zeit, ließen überall ihren Abfall fallen und liegen und schikanierten sich gegenseitig … Schon sehr bald nach der Aufnahme der Probenarbeit konnten wir erste Fortschritte erkennen: sie hörten auf, pausenlos zu kämpfen und herumzuschreien, sie spielten miteinander, sie reinigten den Probenraum vor dem Verlassen, und sie erschienen sogar frisch geduscht und ansprechend gekleidet in der Probe.
Ein weiteres soziales Projekt des Fayha-Chors ist der „Nagham Choir“. Dieses Projekt zielt darauf ab, Jugendliche aus zwei Gegenden in Tripoli zusammenzubringen, in denen es historische, politische und religiöse Konflikte gibt.
Für einige dieser Projekte wurde dem Fayha-Chor der IMC Music Rights Award 2015 verliehen.
Der Fayha-Chor verfolgt andere ähnliche Projekte, die neben Projekten für Flüchtlinge im Bereich der internationalen Zusammenarbeit mit Partnern wie „Sing Me In“ auf der Website einsehbar sind. Ebenso sind auf unserem YouTube-Kanal Dokumentarfilme über unsere Projekte zu finden.
Barkev Taslakian, geboren 1964 in Anjar, Bekaa, ist ein libanesischer Dirigent und der Gründer, künstlerische Direktor und Leiter des 2003 ins Leben gerufenen Fayha-Chors, des weltweit berühmtesten arabischen Chors (und Preisträgers zahlreicher internationaler Wettbewerbe). Taslakian gilt weltweit als der Pate arabischer Chormusik. Er hat sich als erster darangemacht, den mehrstimmigen arabischen a-cappella-Gesang zu fördern und eine neue Schule für Chorgesang in der Welt zu entwickeln, indem arabische Musik in neuen Arrangements auf internationalem Niveau aufgeführt wird. Er ist Mitglied in vielen nationalen und internationalen Musik- und Chorverbänden wie: the International Federation for Choral Music [Internationale Föderation für Chormusik], the European Choral Association [Europäischer Chorverband], the Arab Choral Network [Arabischer Chorverbund] (Gründungsmitglied), the Lebanese Choral Association [Libanesischer Chorverband] (Gründer und Vorsitzender). Darüber hinaus gründete er mehrere Chöre im Libanon im Rahmen von Projekten zur psychosozialen Unterstützung und zur Förderung des sozialen Zusammenhalts für Kinder, Jugendliche, Flüchtlinge usw. Hierfür wurde er vom Internationalen Musikrat (IMC) mit dem „Five Music Rights Award“, dem Preis für die vom IMC proklamierten „Fünf Musikrechte“, ausgezeichnet. E-Mail: contact@fayhachoir.org
Übersetzt aus dem Englischen von Petra Baum, Deutschland