Dirigenten, die nicht dirigieren können: Die Rolle von Emotionen und das Überwältigtsein beim Dirigieren

Von Aurelio Porfiri, Chordirigent und Lehrer
Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Riskowski, Deutschland

 

Wenn wir darüber nachdenken, was ein Dirigent tut, können wir die Art und Weise beobachten, wie er oder sie die Hände bewegt, seine Gesten sowie die Auswirkungen seiner oder ihrer dirigentischen Fähigkeit analysieren. Und sicherlich sind wir uns bewusst, dass Musik Emotionen ausdrückt, und wir versuchen zu ergründen, auf welche Weise der Dirigent dem Publikum diese “Emotionen” des von den Sängern gesungenen Notentextes zu vermitteln vermag. Wir halten selten inne, um über diese Aufgabe der Kanalisierung von Emotionen nachzudenken, die der Dirigent leisten muss, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen; wir betrachten es als selbstverständlich und denken nicht an mögliche Nebeneffekte. Aber ein “emotional berührender Dirigent” zu sein, kann eine herausfordernde Aufgabe darstellen, und zuweilen bekommt die Emotionalität des Dirigenten Oberhand über die rationale Seite und gefährdet nicht nur das Ergebnis eines Konzertes, sondern bringt auch die Gesundheit des Dirigenten und die des Publikums in Gefahr.

Manch einer mag es seltsam finden, darüber zu sprechen, aber dennoch gibt es diese Symptome bei Dirigenten (und Schauspielern, Tänzern und so weiter), und wir können sie nicht verleugnen. Wenn ein Dirigent vor einem Chor oder Orchester steht, leben viele Gefühle und Emotionen, unüblich in seinem Alltag, im Hirn und der Seele auf. Unser Unterbewusstes, dieser mysteriöse Teil unseres Selbst, wird mit Gefühlen angefüllt, die wir kaum kontrollieren können. Dieses wurde unlängst im Buch eines italienischen Psychiaters beschrieben: „Das Unbewusste ist nicht nur dasjenige, das Freud beschrieb, jenes, das in sich eine zweite Realität birgt, die von den Bedürfnissen der Gattung (Sexualität und Aggressivität) genährt wird; es ist auch der Abgrund unseres inneren Seins, dessen Grund wir niemals erreichen werden, wie Heraklit feststellte, und auf das nicht nur Schelling, sondern auch Augustinus und Pascal lückenhafte Lichtstrahlen warfen.“ (Borgna 2015, 57, in Übersetzung des Autors).

Dies war bereits in einem berühmten Buch von Ernst Jünger erhalten, in dem er den Menschen als Baum beschrieb: blühend und verschwenderisch oben, und unten in den Fängen brutaler Kräfte (Der bisher unveröffentlichte E. Jünger 2014). Ich wollte schon immer mehr über die „brutalen Kräfte“ wissen, die am Werk sind, wenn ein Dirigent in der Musik versunken ist, die er aufführt. Für manche Dirigenten (vermutlich die Mehrzahl) ist es möglich, diese starken Emotionen zu kontrollieren, für andere ist es das nicht. Für gewöhnlich bringt dieses Phänomen des Taumelns infolge emotionalen Stresses diverse andere Effekte mit sich: das häufigste ist Bauchweh (ein Problem, das in den meisten Fällen mit dem Reizdarm zu tun hat, einem der häufigsten Probleme für sensible Menschen). Es ist höchst unschön, während einer Aufführung von diesem Problem ereilt zu werden, aber wir müssen feststellen, dass der Reizdarm recht häufig ist und natürlich nicht nur ein Problem von Künstlern, sondern auch von vielen anderen Menschen ist, die ein stressreiches Leben führen. Ein guter Arzt kann Behandlungsmöglichkeiten vorschlagen, die die Symptome unterdrücken.

Eine andere Schwierigkeit, die mit Emotionalität verbunden ist, tritt in Form einer Panikattacke auf. Das ist heikel, und es ist schwer damit umzugehen. Ein Freund, ein recht bekannter Dirigent (dessen Name hier aus persönlichen Gründen nicht genannt wird) erzählte mir, was passiert, wenn man eine Panikattacke während einer Aufführung bekommt: „Auf einmal spürst du ein Unbehagen, dein Herz fängt an, schneller zu schlagen und dein Körper und deine Beine werden schwach. Dein Körper gibt dir das Gefühl, dass du gleich ohnmächtig wirst, und wenn es nichts gibt, das du ergreifen kannst, um die Angst zu bezwingen, die dich bezwingen will, musst du weiter deine Hände bewegen und dirigieren, während dein Geist gleichzeitig angestrengt darüber nachdenkt, wie das Chaos in deinem Gehirn gestoppt werden kann. Manchmal halten diese Symptome nur ein paar Minuten an, und du kannst dich wieder auf die Aufführung konzentrieren anstatt auf dich selbst.“ Ja, das klingt furchtbar und ist doch alles andere als selten: Panikattacken sind in der Tat recht häufig und heutzutage gibt es zahlreiche Wege, mit ihnen umzugehen und den Schwierigkeiten, die sie im Leben und im professionellen Leben verursachen, entgegenzutreten. Es gibt auch Bücher, die Erfahrungen von Menschen beschreiben, die mit diesen Aspekten fertigwerden müssen (nicht alle diese Bücher sind hilfreich, aber die Tatsache, dass es so viele Veröffentlichungen gibt, zeigt uns, wie gegenwärtig das Thema ist).

Und es gibt auch gute Nachrichten: neben der Tatsache, dass es Behandlungen für dieses Problem gibt: viele berühmte Menschen müssen mit Panikattacken umgehen und sind immer noch berühmt und in ihrer Profession sehr erfolgreich. Wenn Sie ein wenig nachforschen, werden Sie Namen von sehr populären Entertainern, Schauspielern und Personen des öffentlichen Lebens finden, die mit diesem Problem kämpfen und ihre Popularität trotzdem halten. Selbstverständlich sind wir Musiker (und Dirigenten) eine sichere Zielscheibe für diese Probleme (Reizdarm, Panikattacken etc.), weil wir eine große Verantwortung haben und auch weil Musik per se emotional ist, denn sie ist eine emotionale Sprache. Es gibt kein einfaches „Rezept“ für die Vermeidung dieser Probleme, man muss einfach akzeptieren, dass es sie gibt und erfahrenere Leute um Hilfe im Umgang damit bitten. Der erste Eindruck ist natürlich entmutigend, und man könnte sich außerstande fühlen, seine professionelle Karriere fortzusetzen, aber das muss nicht sein. Also kann das Wissen um dieses Phänomen uns helfen, Solisten in unserem Chor oder Ensemble zu beraten, die häufig ähnliche Probleme haben, auch wenn sie manchmal nur episodisch auftreten.

Wir sollten nicht überrascht über diese Probleme sein: wie oben in der Passage über das Buch von Eugenio Borgna zitiert, ist unser inneres Wesen ein Abgrund, den wir nur bis zu einem bestimmten Punkt ergründen können. In dem Moment, in dem wir feststellen, dass wir nicht die absolute Kontrolle haben, müssen wir die Initiative ergreifen und mit dem Problem umgehen, ohne uns entmutigen zu lassen. Viele Menschen mit ähnlichen Problemen haben verschiedene Lösungen ausprobiert und viele haben den Kampf gewonnen. Und diese Angelegenheiten können uns helfen, uns mit unseren Begrenzungen und Schwächen besser zu verstehen und uns selbst in einem anderen Licht zu sehen, indem wir vielleicht das Bild der vollständig sicheren Persönlichkeit aufgeben, aber über uns selbst auf eine Art und Weise Aufschluss geben, die glaubwürdiger und wahrer ist.

 

Quellen

  • Borgna E. (2015). Il Tempo e la Vita. Mailand: Giangiacomo Feltrinelli Editore.
  • Jünger E. (2014). La Battaglia come Esperienza Interiore. Prato: Piano B Edizioni.

 

Aurelio Porfiri ist Chormusikdirektor und Composer-in-Residence an der Santa Rosa Schule in Lima (Macao, China), Musikdirektor an der „Our Lady of Fatima“-Mädchenschule (Macao, China), Gastdirigent des musikpädagogischen Fachbereichs des Shanghaier Musikkonservatoriums (China), und Künstlerischer Leiter der Herausgeber Porfiri & Horvath (Deutschland). Seine Kompositionen wurden in Italien, Deutschland und den USA veröffentlicht. Er schrieb mehr als 200 Artikel zu Themen rund um die Chor- und Kirchenmusik. Er hat fünf Bücher geschrieben. Email: aurelioporfiri@hotmail.com