Verbindung oder Perfektion: können wir beides haben?
von Tim Seelig, Chordirigent und Lehrer
Es ist schon viel geschrieben worden über den Unterschied zwischen “Musik um ihrer selbst willen, also der Perfektion, und der “Musik als Mittel zum Zweck” – nämlich der Verbindung. In vier Jahrzehnten als Sänger, Dirigent und Lehrer habe ich die gesamte Bandbreite der Chormusik erlebt, genau wie es Ihnen ergangen ist. Ich wünsche mir, dass Sie diesen Aufsatz lesen werden, als ob wir ein Gespräch führten – obwohl dies Gespräch eigentlich nur in meinem Kopf statt findet!
Jegliche Verbindung, die wir mit diesem Ding haben, das wir Musik nennen, hat schon vor langer Zeit begonnen – für manche unter uns ist das länger her als für andere. Irgendwann in unserer Jugend begegneten wir dieser Kunstform und kamen zu dem Schluss, dass wir sie weiter verfolgen wollten. Erinnern Sie sich noch an diesen Augenblick? Erinnern Sie sich an den Lehrer, den Dirigenten oder den Kirchenmusiker, denen diese Entscheidung zu verdanken ist? Haben Sie sich je bei ihm bedankt?
Ihre ursprüngliche Entscheidung, sich der Kunst des Chorsingens zu widmen, kam ganz sicherlich wegen einer Verbindung zustande, nicht wegen der Perfektion. Die Sache wird noch interessanter, wenn wir bedenken, dass diese Entscheidung vermutlich nicht von einem Augenblick zum nächsten während einer besonders guten Aufführung fiel, sondern durch den täglichen Kontakt mit jemandem, für den die Musik eine überwältigende Leidenschaft bedeutete. Sie erlebten die Musik als die treibende Kraft im Leben eines anderen und dachten: “Wenn jemand sich so leidenschaftlich einer Sache hingibt, dann möchte ich das in meinem eigenen Leben auch tun.” Es wird solch eine Verbindung gewesen sein, die Sie dazu brachte, sich der Musik und der Chormusik als Lebensaufgabe zu widmen.
Alles, was wir im Singen und in der Chormusik lehren, basiert auf einem weit ausgreifenden Pendelschwung. Nichts ist je schwarz oder weiß. Während er Faktoren aus der Mathematik besitzt, die rationell und logisch sind, so wird er im tiefsten Inneren vom Grau der Reaktion des Gefühls angetrieben.
Wir erreichen unser Endziel – irgendwo in der Mitte – dadurch, dass wir mit verschiedenen Extremen des Spektrums experimentieren. Unter den Gegensätzen, die wir lehren, und die oft verwirrend sind, finden wir:
hell und dunkel
laut und leise
hoch und tief
intensiv und entspannt
Vokale und Konsonanten
Singen mit und ohne Vibrato
Text und Musik
Verbindung und Perfektion
Es liegt an genau diesem Pendelschwung, dass unsere Sänger und Studenten gelegentlich denken, dass wir ein bisschen “komisch” sind. In der einen Woche verlangen wir eine hellere Klangfarbe, in der Woche darauf soll es dunkler sein. In der einen Woche bitten wir um mehr Energie, in der darauf folgenden um mehr Entspannung. In einer Woche betonen wir die Vokale, und in der nächsten die Konsonanten.
Ohne Zweifel wollen wir, dass sie flexibel sind, wenn wir zusammen auf der Suche sind nach der vollkommenen Kombination, wo das Pendel genau in der Mitte ruht – und dabei den geheimnisvollen Klang erzielen, der eigentlich nur in unserem eigenen Kopf wohnt! Wir sagen Dinge wie: “Ich möchte, dass ihr wie EINE EINZIGE STIMME klingt”. Wir vergessen dann allerdings, dazu zu sagen, welcher Stimme sie gleichen sollen …
Dies ist die Frage: “Wie können wir diesen vollkommenen Ruhepunkt finden, genau in der Mitte, wo wir beides haben können – Verbindung und Perfektion”? Aber ist das überhaupt möglich?
Meine eigene Karriere hat sich im Grenzbereich zwischen zwei Welten abgespielt. Ich schätze mich glücklich, dass ich mein ganzes Leben mit Arbeit in der Kirchenmusik und mit Laienchören mit dem Schwerpunkt der “Musik als Mittel zum Zweck” verbringen konnte, während ich gleichzeitig an Hochschulen lehrte, wo das Gegenteil meist der Normalfall ist.
Dies ist also der Ansatz für diesen Artikel: wir versuchen, beide Seiten dieser manchmal beunruhigenden, aber letzten Endes immer hochinteressanten Münze zu betrachten. Natürlich besteht ein Unterschied zwischen dem musikalischen Handwerk und der Musikalität. Unser musikalisches Handwerk ist etwas, das wir unser ganzes Leben lang vervollkommnen. Auf der anderen Seite glauben die meisten Menschen, dass die Musikalität angeboren ist. Kann sie gelehrt werden? Das ist die ganz große Frage.
Im Universitätsbereich zielt man naturgemäß auf die Perfektion – oft zum Nachteil der Musikalität oder der Verbindung. Bücher, Lehrpläne und Konferenz-Workshops sind voller Bemühung um die Musik, als ob sie etwas total Objektives wäre: wie die Mathematik, wenn man es so sehen will. Die subjektive Seite des Musizierens – die Faktoren, die uns einst anzogen – die Verbindung, die Kunst, wird fast vollständig ignoriert. Meist ist dies ein Nebenprodukt, das am Ende eines Lehrgangs behandelt wird, falls etwas Zeit übrig ist, was fast nie der Fall ist, oder etwas, von dem wir schlicht erwarten, dass unsere Studenten es von allein absorbieren.
Es steht außer Frage, dass unsere Aufgabe als Musikerzieher darin besteht, alles zu unterrichten, das in die “Kiste” “musikalisches Handwerk” fällt. Manchmal hauen wir aber diese Kiste aus Steinen heraus, und mit Wänden, die so hoch sind, dass unsere Studenten gar nicht über sie hinaus oder hinweg schauen können. Wir erreichen das mit unseren didaktischen Lehrmethoden – wir sagen unseren Studenten, was sie denken sollen, wenn wir ihnen besser kritische Methodik vermitteln sollten, unsere eigenen Gedanken mit ihnen teilen und sie dadurch selbst denken zu lehren. Das Ergebnis ist eine dürre Wüste – der Versuch, das Unerreichbare zu erzielen: Perfektion.
Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns vorstellten, dass wir alles unterrichten, das sich innerhalb einer Kiste befindet – aber die ist nur mit verblassender Tinte gemalt. Am Anfang sind die Umrisse klar, und die Studenten lernen die Regeln und die Techniken des Musizierens. Dann aber, wenn sie beginnen, ihre eigenen schöpferischen Kräfte und ihre musikalische Ausdrucksfähigkeit zu erkunden, fangen die Linien an zu verschwinden – die Studenten erinnern sich noch deutlich an sie, aber sie haben Raum für ihre eigenen künstlerischen Vorstellungen und Stimmen.
Was mich wirklich beunruhigt ist die Tatsache, dass wir wegen unserer starren akademischen Bemühungen nicht mehr wissen, wo es lang geht: wir haben unsere Verbindungen verloren. Wir haben vergessen, dass unsere Aufgabe darin besteht, Konzepte zu lehren, nicht Klone zu schaffen. Irgendwie haben wir die Erinnerung an diese ersten Augenblicke verloren, wo die Musik uns über das in Worte Fassbare hinaus anrührte und wir einfach keine andere Wahl hatten, als selbst Musiker zu werden.
Könnte dieser Mangel an Verbindung der Grund für den Rückgang der Besucherzahlen in Chorkonzerten sein? Ich bin davon überzeugt. Wir vergrößern unser Konzertpublikum – und ermutigen es zum Wiederkommen – nicht dadurch, dass wir das, was wir anbieten, primitiver machen und unsere Konzertprogramme auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen – ganz im Gegenteil. Ich meine, dass die Antwort darin besteht, dass wir unser Publikum ansprechen, indem wir mit ihm auf jeder möglichen Ebene in Verbindung treten, musikalisch wie emotionell.
In den meisten Situationen im Universitätsbetrieb geht es nicht in erster Linie darum, ein Publikum für ein Chorkonzert anzulocken. Aber es sollte sehr wohl darum gehen. Die Sänger geben viele, viele Stunden daran, die Musik, die wir für sie ausgewählt haben, so gut wie irgend möglich zur Aufführung zu bringen. Warum sollten sie dann nicht wollen, dass jemand kommt, um sich das Endergebnis anzuhören? Was ist an diesem Bild falsch? Chorkonzerte werden zu einer akademische Pflichtübung auf gleicher Ebene wie Examen. Dann verlassen die Studenten uns und treten Stellungen an – sei es in Schulen, Kirchen oder im Vereinsleben – und sie haben keinerlei Erfahrung darin, wie man mit einem Publikum in Verbindung tritt, nicht einmal darin, wie man ein Publikum erst einmal in den Saal bekommt, so dass man das mit dem Verbinden ausprobieren könnte.
Dies muss in unsere Lehrpläne aufgenommen werden. Logos, Marketing, kreatives Programmieren – all das ist unentbehrlich, wenn wir unsere Kunst aufrecht erhalten und verhindern wollen, dass sie das Schicksal der Dinosaurier teilt.
Wie stellen wir Verbindungen her? Alles fängt mit Ihnen selbst an. Erinnern Sie sich noch an das letzte Mal, dass Sie in einem Chorkonzert laut gelacht haben, sich die Tränen abwischten oder einfach einen erhebenden Augenblick der reinen Schönheit und Ergriffenheit erlebten?
Im Leben wie in der Musik brauchen wir genau diese drei Dinge, um Verbindungen aufzunehmen:
Tränen
Lachen
Gänsehaut
Und natürlich kommen diese drei alle durch einen Faktor zustande: liebevolle Zuwendung. [Im amerikanischen Original lebt dieser Absatz von einem Wortspiel: Träne = tear, Lachen – laughter, Gänsehaut = chill bump. Die Anfangsbuchstaben dieser drei Ausdrücke, tlc, sind die gängige Kurzfassung für “tender loving care” – liebevolle Zuwendung. Erklärung der Übersetzerin]
Wir haben uns alle mit der Hierarchie unserer Bedürfnisse befasst, wie sie Abraham Maslow aufzählt. Und wussten Sie, dass die gesamte Liste direkt auf die Chorkunst angewendet werden kann? Zuerst kommt die Physiologie. Wir sind uns alle einig, dass unsere körperliche Reifung und Fähigkeit ausschlaggebend für Erfolg im Singen ist. Mehr darüber später.
Dann kommt das Bedürfnis nach Sicherheit. In der Chorkunst müssen wir uns immer davor hüten, dass wir Sicherheit für unsere Sänger nicht dadurch schaffen, indem wir sie in Roboter verwandeln und ihre Individualität beseitigen. Die wahre Bedeutung von Sicherheit besteht darin, einen Raum zu schaffen, in dem die Sänger sich vollkommen selbst verwirklichen können. Die Chormusik muss ein Ort sein, wo die Sänger/Studenten nie lächerlich gemacht werden, wo sie sich nie peinlich berührt vorkommen oder wo sie sich weniger wert fühlen, als sie es sind. Es ist genau dieses Verschmelzen einer Vielfalt menschlicher Eigenschaften, das die Chormusik zu solchem Leben bringt. Sonst würden wir kaum besser klingen als eine Midi-File. Und wir haben alle schon Chöre gehört, die sich so sehr darum bemüht haben, jegliche Individualität auszumerzen, dass genau das auch das Ergebnis ist.
Zum Dritten kommt das menschliche Bedürfnis nach Gesellschaft. So haben wir:
Physiologie
Sicherheit
Verbindung
Mir fällt kein anderes Bemühen ein, das unsere menschlichen Bedürfnisse mehr erfüllt als die Chormusik: sie umfasst alles.
Die Verbindung lässt sich auf sechs Gebiete aufteilen. Wir leiten unsere Chorsänger an, so dass sie sich mit folgendem verbinden:
der Stimme
der Musik
sich selbst
jeder mit jedem anderen
mit uns
dem Publikum
Wir wollen diese sechs Punkte kurz betrachten.
Verbindung mit dem Instrument der Stimme
Man kann gar nicht genug über die Verbindung mit dem ganzen Instrument sagen – Körper, Verstand und Seele. Für die unter Ihnen, die in Schulen, Kirchen und mit Laienchören arbeiten: Sie sind unter Umständen der einzige Stimmbildner, den Ihre Sänger je haben werden.
Das Einsingen ist genau wie eine Mahlzeit mit fünf Gängen! Die Reihenfolge sollte nie geändert werden, und Gänge sollten nie aus Mangel an Zeit oder Aufmerksamkeit ausgelassen werden. Jedes einzelne Mal, wenn das “Instrument” angewärmt wird [im Englischen wird Einsingen oft als “warming up” = anwärmen bezeichnet – Übersetzerin] sollte zumindest je eine Leckerei aus jeder einzelnen der Lebensmittelgruppen serviert werden – und in der vorgegebenen Reihenfolge! (Richtige fünfgängige Menus enthalten manchmal auch andere Dinge oder servieren sie sogar in veränderter Reihenfolge, aber diese Übungen sollten sich immer gleich bleiben!)
Vorspeise: Haltung
Suppe: Atmung
Salat: Vokale
Hauptgang: Klangfülle/Artikulation
Nachtisch: die wahre Kunst
Wir tun unseren Sängern und uns selbst keinen guten Dienst, wenn wir das Einsingen auf andere Weise erledigen!
Leider ist das Chorsingen in unserer heutigen Welt etwas Unnatürliches. Die meisten Menschen haben eine schlechte Körperhaltung. Wir benötigen eine ausgezeichnete Körperhaltung. Die meisten Menschen benutzen 20% ihres Atemvolumens. Für gutes Singen brauchen wir 50-70%. Die meisten Menschen artikulieren total falsch. Eine unserer schwierigsten Aufgaben für das Chorsingen besteht darin, das rückgängig zu machen. Der Ausdruck “Come canta si parla” [singe wie du sprichst] gilt nicht mehr.
Das Interessante an dem “fünfgängigen” Einsingen besteht darin, dass die ersten beiden der fünf “Lebensmittelgruppen” die Stimmbänder überhaupt nicht benutzen. Im ersten “Gang” werden nur Körper und Geist eingespannt. Der zweite “Gang” wendet sich an den Atmungsmechanismus und übt ihn. ERST DANN dürfen die Sänger ihre Stimmbänder einsetzen. Der dritte “Gang” soll ihnen helfen, dass sie verstehen, wie ihre Stimmbänder funktionieren, mit leichtem Tonansatz ohne Glottisschlag, Registertraining usw.
Wenn diese ersten drei erst einmal eingespielt sind, dann steht es Ihnen frei, weitere Übungen hinzuzufügen, durch die die Resonanz erkundet und die Artikulation geübt wird. Schließlich entdecken wir die wahre Kunst – wir zaubern mit unserem Stimminstrument – setzen es gemeinsam mit anderen ein, um die Chorkunst hervor zu bringen. Manchmal wird dafür Singen benötigt, manchmal auch nicht, aber es geht um das Studium des musikalischen Ausdrucks.
Verbindung mit der Musik
Warum haben Sie die Musik ausgewählt, die Sie vorlegen? Ihre Sänger haben keine Ahnung davon, wenn Sie es ihnen nicht sagen. Sie hatten zweifellos Ihre guten Gründe. Legen Sie diese den Sängern vor. Beginnen Sie immer mit dem Text. Lesen Sie ihn laut vor. Sprechen Sie darüber, was er bedeutet. Lassen Sie die Sänger ebenso zu Ihnen sprechen. Schlagen Sie vor, dass sie sich mit der Vorgeschichte der Autoren, Dichter oder Lyriker beschäftigen.
Nur zu oft “springen wir gleich ins tiefe Becken” und beginnen mit den Einzelheiten der Musik. Wir werden total überwältigt und kommen nie an die Oberfläche, um Luft zu holen. Oder oft, wenn wir schließlich auftauchen, ist es zu spät. Wir haben uns unwiderruflich im Technischen verzettelt. Der Text kann nie wiederbelebt werden. Die Möglichkeit, Verbindungen herzustellen, ist verpasst worden.
Arbeiten Sie an der Tonmelodie – dem natürlichen Aufsteigen und Abfallen der Sprache. Sagen Sie den Sängern, welche Worte SIE als die wichtigsten empfinden. Lassen Sie die Sänger von Anfang an einen kleinen Punkt über diese Worte setzen. Sprechen Sie den Text gemeinsam. Schließlich, wenn Sie die Musik mit dem Text zusammengebracht und immer wieder an der musikalischen Seite der Gleichung gearbeitet haben, gehen Sie zurück und lesen Sie den Text ein letztes Mal, bevor Sie auf die Bühne gehen. Bedenken Sie: wenn Ihr Publikum verstehen soll, so hängt das zu mindestens 50% von den bewussten Bemühungen Ihrer Sänger ab, dem Publikum zu helfen, dass es versteht! Wenn es ihnen egal ist, ob das Publikum versteht oder nicht, dann können die beste Betonung, Aussprache, Artikulation in der ganzen Welt diese Gleichgültigkeit nicht wettmachen.
Verbindung untereinander
Eine unserer schwierigsten Aufgaben besteht darin, ein Zimmer voll ganz absurd verschiedenen Persönlichkeiten unter einen Hut zu bringen. Und Sänger haben fürwahr eine riesige emotionelle Bandbreite. Unsere Führungsqualität muss es ihnen gestatten, dass sie offen untereinander sind, verwundbar, zusammenwachsen, von einander lernen und Kunst schaffen, als ob sie Eins wären.
Das geschieht nicht, wenn unter ihnen Spannungen herrschen.
Wir müssen Frieden stiften, heilen, beraten, als Eltern, als Geistliche, als Therapeuten und noch als alles mögliche andere fungieren! Wo genau stand das noch mal in der Bedienungsanleitung?
Verbindung mit sich selbst
Wenn man lernt, in einer Gruppe zu singen, so liefert das Lehren fürs Leben, wie es keine andere Tätigkeit vermag. Sämtliche anderen Bedürfnisse auf Maslows Liste sind mit inbegriffen: Selbstachtung, Selbstvertrauen, Erfolg, Respekt für andere, Respekt, der einem von anderen gezollt wird; das Schöpferische, Spontaneität, das Lösen von Problemen, Mangel an Vorurteilen, das Akzeptieren von Tatsachen; die Vergeistigung oder die eigene Hingabe.
Unter allen Kunstformen ist die Musik diejenige, die am meisten zu heilen vermag. Man kann sie im Grunde nur als umformend bezeichnen. Dies ist vermutlich einer der schwierigsten Aspekte unseres Berufes. Wir haben selbst das Beste und das Schlimmste miterlebt, wenn wir zusehen, wie unsere Sänger vermittelst der Musik, die wir zusammen machen, tiefe Emotionen erfahren und aufdecken.
Verbindung mit dem Dirigenten
Ihre Sänger müssen einfach mit Ihnen Verbindung aufnehmen. Dafür gibt es nur einen einzigen Schlüssel: Ehrlichkeit ohne Vorbehalte. Jedermann auf diesem Planeten erkennt einen Menschen, der uns etwas vormachen will. Das bedeutet nicht, dass Sie Ihre privaten Probleme oder Einzelheiten aus Ihrem Leben mit den Sängern teilen. Es bedeutet aber sehr wohl, dass Sie dieselbe Person darstellen, ob Sie auf der Bühne stehen oder nicht. Stehen Ihre Sänger nach der Probe noch herum? Halten sich Ihre Studenten gern in oder in der Nähe des Chorraumes auf? Dann haben Sie ganze Arbeit geleistet!
Es gibt ein weiteres Gebiet, das in unserem Erziehungswesen ignoriert wird – wie wir unsere Sänger führen, hegen und pflegen und ihnen gestatten, verwundbar zu sein und zu wachsen und Risiken einzugehen. Jedes Mal, wenn sie unter Ihrer Leitung vor einem Publikum auf der Bühne stehen, gehen sie ein Risiko ein. Sie sind in Ihren Händen – vor einem Publikum. Wenn sie Ihnen nicht vertrauen, dann fällt der Zauber aus.
Verbindung mit dem Publikum
Wie im vorigen Punkt, so gibt es auch einen unentbehrlichen Schlüssel für die Verbindung mit dem Publikum: das Ziel. Auch dies beginnt mit Ihnen und der Musikauswahl, die Sie treffen. Warum haben Sie ein bestimmtes Repertoire ausgewählt? Haben Sie Ihren Sängern die Gründe dargelegt? Diese Gründe können aus weiten Bereichen stammen – sogar “weil es euch gut tun wird” oder “weil die Noten verbilligt angeboten wurden”. Aber es muss einen Grund für die Sänger geben, damit sie verstehen, warum sie so viel Zeit darauf verwenden, gerade diese Musik so gut wie irgend möglich einzustudieren. Sagen Sie es ihnen!
Die Verbindung, die Ihre Sänger “durch Sie” mit dem Publikum aufnehmen werden, ist eine der zauberhaftesten Erfahrungen ihres Lebens. Es gibt eine “Gefühlsgrenze” – genau halberwege zwischen den Sängern und dem Publikum – wo sich beide begegnen. Die Route zu diesem Ort ist äußerst gefährlich. Wenn Ihre Sänger die Gemütsregungen übertreiben, dann wird das Publikum sich zurückziehen. Niemand geht ins Konzert, um zuzusehen, wie Ihre Sänger sich seelisch auf der Bühne reinigen. Auf der anderen Seite, wenn Ihre Sänger sich emotionell von ihrer Verbindung mit der Musik zurückziehen, dann wird sich das Publikum ebenfalls zurückziehen, abschalten und das Interesse verlieren. Das führt dann zu mehreren Konsequenzen. Eine davon ist der Kommentar: “Das war ganz ordentlich”. Niemand möchte “ganz ordentlich” sein. Eine andere ist die Tatsache, dass sie nicht zum nächsten Konzert Ihres Chores kommen werden!
Schlussfolgerung
Nun ja – eigentlich gibt es keine Schlussfolgerung. Zu Anfang drückte ich meine Hoffnung aus, dass wir ein Gespräch führen würden. Wenn ich darin Erfolg gehabt habe, dann haben Sie auch zu mir gesprochen – zumindest im Kopf wenn nicht laut. Sie haben über Ihre eigene Reise nachgedacht und darüber, wie man Ihnen beigebracht hat, Musik zu machen und wie Sie andere unterrichten. Haben manche Ihrer Studenten beschlossen, sich selbst der Chormusik zu widmen, weil sie von Ihrer Begeisterung angesteckt worden sind? Wenn nicht – es ist noch nicht zu spät.
Letzten Endes sind den meisten Zuhörern die Einzelheiten nicht wirklich wichtig. Den meisten Zuhörern geht es nicht um die Perfektion. Aber es geht ihnen sehr wohl darum, ob sie eine Verbindung spüren oder nicht. Die meisten der größten Musiker und Ensembles in der Musikgeschichte errangen ihre Stellung durch Verbindung, nicht durch Perfektion.
Können wir beides haben? Natürlich geht das. Aber wäre es nicht herrlich, wenn die Verbindung unser Hauptziel wäre und die Perfektion das Nebenprodukt? Also, das ist ein erstrebenswertes Konzept!
Vergessen Sie nie diesen wundervollen Satz:
Die Zuhörer werden sich vielleicht nicht daran erinnern, was Sie gesungen haben, aber sie werden nie vergessen, was sie gespürt haben. |
Timothy Seelig ist Sänger, Dirigent, Professor, ein Redner, der Mut machen will, und ein lustiges Haus! Er ist der künstlerische Leiter von Golden Gate Performing Arts und des Schwulen-Männerchors von San Francisco. Er war vierzehn Jahre lang Mitglied des Lehrkörpers der Meadows School of the Arts an der Southern Methodist Universität und ist pensionierter künstlerischer Leiter der Turtle Creek Chorvereinigung, die er zwanzig Jahre lang dirigierte. Dr. Seelig besitzt vier Universitätsabschlüsse, darunter den DMA von der Universität von Nord Texas und das Diplom des Mozarteums zu Salzburg. Als Sänger war er erster Bariton an der schweizerischen Nationaloper in St. Gallen. Er ist Autor von vier Büchern und vier DVDs über Chortechniken, von denen mehrere Bestseller wurden: Die perfekte Tonmischung, Die perfekte Probe, Das perfekte Chorarbeitsbuch, Schnelle Notlösungen für Chöre, Die Musik in uns und Die Sprache der Musik. Dr. Seelig hat immer noch einen vollen Terminkalender als Gastdirigent in den USA, Kanada und Europa. Er ist für seine Begeisterungsfähigkeit und seinen Humor bekannt: Grammy Magazine schreibt: “Dr. Seelig ist unschlagbar in seiner Fähigkeit, aus allem das Beste herauszupicken”. Im Fort Worth Star Telegramm stand zu lesen: “Er ist als wirklich guter Sänger bekannt, aber er kann auch das Gemüt wahrlich dick auftragen”. Er ist stolzer Vater von zwei Kindern und hat ein funkelnagelneues Enkelkind.
Übersetzt von Irene Auerbach, England