Zeitgenössische Flämische Chorkomponisten
(Hedendaagse Vlaamse koorcomponisten)
Von Timothy J. Brown, Komponist
Flandern, die nördliche Region Belgiens, hat seit langem eine ausgeprägte Chortradition. Viele sind mit Ockeghem und DesPrez, den Komponisten der Renaissance, und anderen Vertretern der polyphonen Tradition vertraut. Flandern (wo man Flämisch spricht, einen Dialekt des Niederländischen) ist auch heute Heimat einer Reihe von Chorkomponisten. Recherchen liefern eine umfangreiche Liste von Namen heute lebender Schöpfer von Chormusik:
Kurt Bikkembergs, Erica Budai, Ludo Claesen, Roland Coryn, Johan Duijck, Jacqueline Fontyn, Wim Hendrickx, Vic Nees, Lucien Posman, Raymond Schroyens, Gwendolyn Sommereyns, Rudi Tas, Wim Hendrickx, Luc Van Hove, Kristiaan Van Ingelgem, Maarten Van Ingelgem, Sebastiaan Van Steenberge.
Ziel dieses Artikels ist es, eine kurze Einführung zu einigen repräsentativen Komponisten und einigen ihrer Werke zu geben. Leider kann ein Artikel dieses Umfangs keine detaillierte Vorstellung eines jeden liefern.
Roland Coryn (geb. 1938 in Kortrijk) absolvierte ein Musikstudium an der Stedelijke Academie voor Muziek en Woord (Städtischen Akademie für Musik und Literatur) in Harelbeke und dem Koninklijk Muziekconservatorium Gent (Königliches Musikkonservatorium ), wo er Viola und Kammermusik studierte und ein Diplom in Komposition errang. Viele Jahre lang trat er als Musiker auf und unterrichtete an seiner Alma Mater in Gent Komposition. Seit 1997 arbeitet er als „Vollzeit-Komponist“. Viele flämische Komponisten haben englische Texte vertont, Coryn ist da keine Ausnahme. Als passionierter Liebhaber dieser Sprache vertont er Texte von Schriftstellern wie Emily Dickinson (amer.), Edgar Allen Poe (amer.) und William Blake (engl.) in ihrer original englischen Version, aber auch aus dem Chinesischen ins Englische übersetzte Texte von Li Po.
Seine Komposition There is Another Sky (Es gibt einen anderen Himmel) von 2005 ist ein Zyklus aus fünf Liedern für Chor a cappella auf Gedichte von Emily Dickinson. Der Komponist verwendet üppige Harmonien, Pandiatonik und Pantriadik.
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Sein Werk Death Be Not Proud zu einem Text von John Donne verwendet gemischte und veränderliche Metren.
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Coryns Werk Canticum Canticorum Salomonis (2008) ist für Solovioline und Chor geschrieben. Coryn hat verschiedene Abschnitte für Frauen- und Männerstimmen geschrieben, um so der Braut und dem Bräutigam im Text zu entsprechen. Es gibt zahlreiche Stimmteilungen. Der Text ist auf Latein. Die Geige wird in der Ouvertüre eingesetzt, um eine dramatische Dimension zu geben, wobei jene Rhythmus- und Tonhöhenmuster eingeführt werden, die in dem Stück vorkommen. Später findet man in verschiedenen Abschnitten Obertöne.
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Vic Nees (geb. 1936 in Mechelen) studierte Komposition bei Flor Peeters am Konservatorium von Antwerpen sowie Komposition und Chorleitung bei Kurt Thomas in Hamburg. Er begann 1961 als Produzent für Chormusik beim Flämischen Rundfunk in Brüssel und war später von 1970 bis 1996 auch Dirigent des Rundfunkchores. Er spielte eine entscheidende Rolle in der Chorbewegung und wirkte als Jurymitglied bei zahlreichen Chorwettbewerben mit. Er ist heute Mitglied der Königlichen Akademie von Belgien. Durch seine langjährige Arbeit als Dirigent des Flämischen Rundfunkchors ist er mit einer Vielfalt an Musikstilen in Berührung gekommen, weshalb er sich selbst als „eklektischen Komponisten“ bezeichnet. Er wurde ebenfalls beeinflusst von Les six, den Harmonien Messiaens, der Chortradition von Britten und Tippett, von den polnischen Komponisten der Generation Pendereckis und den amerikanischen Minimalisten. Weiterhin erwähnt er den Einfluss Hugo Distlers bei der Vertonung von Texten, anhand dessen Mörike Chorliederbuch er den Gegensatz zwischen Textrhythmus und musikalischem Rhythmus studiert hat.
Nees’ Werk Trumpet Te Deum (2005), komponiert für den Dirigenten Peter Dejans zum 15ten Geburtstag dessen Ensembles Musa Horti, ist für zwei Trompeten, Solosopran und gemischten Chor (mit divisi) geschrieben. Dieses Werk von Nees, in dem er eine Vielzahl kompositorischer Techniken nutzt, ist ein Musterbeispiel seines Eklektizismus. Das Te Deum wird mit den beiden Solotrompeten und homophonem Chorgesang eröffnet. Im zweiten Satz, Te gloriosus, kommen viergeteilte Männer- und viergeteilte Frauenstimmen zum Einsatz. Nees hat Pausen inmitten von Silben und Wörtern gesetzt. Zunächst erscheint das einfach wie unterbrochener Text. Jedoch, Männer- und Frauenstimmen nebeneinandergestellt erinnern an das Hoquetus des Mittelalters.
Der Satz Tu Rex gloriae, wird mit wiederholten C-Dur Akkorden (mit vereinzeltem B-Dur) des vierstimmigem Männerchors eröffnet, die eine Klangschicht bilden, über der die Frauenstimmen in Sekunden notiert sind. In dem Abschnitt Tu devicto wird eine Technik des Sprechgesangs (coro parlato) effektvoll eingesetzt. Nees benutzt hier eine additive Technik: ein Teil einer Phrase wird eingeführt, dann mit zusätzlichem Text wiederholt und so weiter. Dieser Abschnitt enthält kontrapunktische und homophone Partien.
Die Partitur wurde herausgegeben bei Annie Bank (www.anniebank.nl). Eine Aufnahme des Werkes mit dem Ensemble Musa Horti, dem es gewidmet ist, ist bei Phaedra erschienen.
Weitere bedeutende Kompositionen von Vic Nees: Vigilia de la Pentecosta; Magnificat; Veni Sancte Spiritus; Concerto per la beata Vergine und Requiem.
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Lucien Posman (geb. 1952 in Maldegem) studierte Musik am Ghenter Königlichen Konservatorium (bei Roland Coryn) und am Königlich Flämischen Konservatorium von Antwerpen, das er mit ersten Preisen in Musiktheorie, Musikgeschichte, Harmonielehre, Kontrapunkt, Fuge und Komposition abgeschlossen hat. Heute unterrichtet er Musiktheorie, Komposition und Pädagogik an der Hochschule Gent (Hogeschool Gent). Posman war Künstlerischer Direktor des De Rode Pomp, einer Konzerthalle für Kammermusik. Er ist Mitbegründer des European Composers Collective (ECCG), und Mitglied des Herausgeberstabs der ‘Nieuwe Vlaamse Muziekrevue’ (Neue Flämische Musikrevue).
Im Jahr 2000 komponiert er das The Book of Los zu englischen Texten von William Blake. Es ist für Solosopran, Flöte, Klavier und gemischten Chor geschrieben. Dieses monumentale Werk mit einer Aufführungsdauer von etwa 25 Minuten ist in einer Aufnahme des Goeyvaerts Consort (heute bekannt als der Aquarius Kamerkoor) bei Cyprès (CYP 4616) erschienen. Die vier Sätze bilden eine Parallele zu den vier Kapiteln von Blakes Buch. Die Klavierpartie ist für ein Partnerinstrument angelegt und nicht nur simple Begleitung. Dasselbe gilt für die Flöte (notiert für Flöte, Altflöte und Piccolo). Das Werk hat durchgehend angemessene Skandierungen für die Sänger. [Das weiß ich auch nicht. Ich habe das Wort noch nie gehört, und mein wirklich umfangreiches Lexikon kennt es auch nicht. Ich habe Timothy Brown eine Mail geschickt mit der Bitte um Erläuterung]
Der erste Satz, „Kapitel 1“, wird mit einem einzelnen wiederholten h des Klaviers eröffnet, gefolgt vom Chor, während das Klavier mit stetigen Akkorden fortfährt. Posman verwendet Parallelharmonien und Pantriadik. Die eröffnenden Harmonien schreiten voran: [h, E, d, E, c, d, a, f, c, E, Fis, e, Fis, d, As (enharmonisch Gis), Fis, Gis (enharmonisch As), B, gis]. In Takt 9-10 werden im Chor geschickt enharmonische Verwechslungen eingesetzt. Der Sopran wird hier mit den Worten der Figur Eno eingeführt, und in Takt 13 wechselt das Taktmaß von 4/4 zu 9/8. Der Solosopran erhält Rhythmen, die im Dreiertakt zu sein scheinen, während die Altflöte bei jedem Einsatz eines Duetts einen Zweierrhythmus hat. In Takt 28 wird in der Chorpartie ein wiederholter Akkord eingeführt, der an die einleitenden Pianoakkorde erinnert.
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Der zweite Satz, “Kapitel 2,” ist harmonisch reich und mutig . Der schimmernde Effekt des Klaviers ab Takt 287 verlangt nach einem versierten Pianisten. Die Sänger haben Glissandi über kleine Intervalle in langen Notenwerten.
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An verschiedenen Stellen im gesamten Stück wird Textmalerei verwendet. In Takt 422-424 des dritten Satzes gibt es dafür zwei Beispiele. Das eine ist in der Partie der Solostimme, die den Text “thin” (dünn) singt, die andere folgt in der Chorpartie, die sich zu dem Text “sunk” (gesunken) abwärts bewegt.
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Der vierte Satz wird von einem Sopransolo eröffnet. In diesem Satz verwendet Posman Polyrythmen, indem er Quintolen der Flöte den Elferfiguren des Klaviers entgegenstellt. Ein lebhaftes Tempo und die Angabe molto nervoso leiten im Sopran, der Flöten- und der Klavierpartie einen rhythmisch interessanten und komplexen Abschnitt ein. Am Schluss des Werkes ertönen sich wiederholende hohe Klaviertöne als Parallele zur Ouverture.
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Ein anderes Beispiel für Textmalerei findet man im vierten Satz. Chor und Klavier sind beide eingesetzt, aber der Chor singt:“But no light.”(Aber kein Licht) alleine.
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Kurt Bikkembergs
(geb. 1963 in Hasselt) studierte Musikpädagogik, Komposition und Dirigieren am Lemmens Institut in Leuven-Louvain. Von 2002 bis 2008 war er Leiter des Chors der Flämischen Oper. Gegenwärtig ist er Kapellmeister der Sankt Michael und Gudula Kathedrale in Brüssel und leitet den Chor Capella di Voce in Leuven. Sein reiches kompositorisches Werk umfasst viele geistliche Werke sowie Stücke für Kinder und Jugendliche.
Sein 2007 verfasstes Werk Psalm L ist auf Englisch geschrieben. Das Stück ist a-capella begleitet von Stampfen, Fingerschnipsen, Klatschen und Schlagen
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Jacqueline Fontyn (geb. 1930 in Antwerpen) wusste bereits im frühen Alter von 14 Jahren, dass sie Komponistin werden wollte. Sie studierte mit Marcel Quinet und Max Deutsch. Von 1963 bis 1990 unterrichtete sie Musiktheorie am Koninklijk Conservatorium (Königliches Konservatorium) in Antwerpen und später am Brüsseler Konservatorium. 1993 wurde sie in die Belgische Königliche Akademie berufen.
Ihr 1997 komponierte Werk Ich Kannte Meine Seele Nicht ist auf Deutsch vertont für 6 Stimmen, entweder für gemischten Chor oder für Frauenchor. Fontyn gibt Aufführungsanweisungen, fügt unbestimmte Stellen ein und verwendet auch grafische Notation in der Partitur.
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Maarten Van Ingelgem (geb. 1976 in Alost-Aalst), Sohn des Komponisten Kristian Van Ingelgem, studierte Klavier am Brüsseler Konservatorium bei Jan Michiels und später Komposition am Konservatorium von Antwerpen bei Wim Henderickx. Maarten Van Ingelgem leitet De 2de Adem (Der zweite Atem), einen Kammerchor, der auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist, und singt im Aquarius Kamerkoor und dem Vlaams Radiokoor (Flämischer Rundfunkchorchor).
2008 wurde er von der SABAM (Belgische Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Verleger) zum Gewinner der “Gouden Klaproos” (“Golden Poppy”) für Chorkomposition ernannt. Seine Kompositionen sind für Frauenchor, Männerchor und Jugendchor (mit Sängern im Alter bis 30 etwa Jahre) geschrieben.
Sein 2009 komponiertes Werk 1914 wurde von Molitva in Auftrag gegeben. Es ist auf kirchenslawisch für vierstimmigen Männerchor TTBB, 4 Solisten und 2 Hörner geschrieben. Das Werk, bezieht sich auf den „Weihnachtsfrieden“ (“The Christmas Truce”) von 1914, den Waffenstillstand im Ersten Weltkrieg während der Weihnachtstage im Jahr 1914, bei dem Soldaten auf beiden Seiten der Front eine Kampfpause einlegten. Es verwendet auch außermusikalische Effekte.
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Timothy J. Brown, wohnhaft in Denver, Colorado, USA, ist Komponist und Dirigent und erwarb einen Doktorgrad der University of Northern Colorado. Timothy J. Brown komponiert in einer Vielzahl von Stilen und für verschiedene Medien. Er schreibt Kunstlieder, Chorwerke, Kammermusik für Standard- und gemischte Ensembles, Instrumentalwerke, sowie Werke für gemischte Ensembles mit Gesang und großformatige Werke. Die Komposition Sous la ferme de la Petite Douve (Unter dem Bauernhof der Petite Douve) war ein Projekt aus dem Frühjahr 2010, für Bläserensemble geschrieben mit einer Dauer von ungefähr 17 Minuten. Der Titel des Werks ist eine Anspielung auf eine nicht detonierte Landmine aus dem ersten Weltkrieg in der Gegend von Messines (Belgien). Wenn Timothy J. Brown sich nicht gerade mit Musik beschäftigt, ist er oft mit seinem Fahrrad unterwegs. Email: composer@timothyjbrown.net
Aus dem Französischen übersetzt von Beatrice List, Frankreich