The Contenance Angloise – Die Englische Art – 1. Teil

Harmonie- und Melodiepraxis in der Englischen Vokalmusik von Dunstaple bis Heute

 

Von Graham Lack

 

Zusammenfassung

In der englischen Musik wird mit contenance angloise  ein Stil zwischen 1420 und 1500 bezeichnet,  der heute noch für seine herausragende, fließende Polyphonie und offensichtliche, systematische Konsonanz gerühmt wird. Die Vokalmusik dieser Zeit unterscheidet sich von der des frühen Mittelalters durch einen sanfteren Klang, bedingt durch eine neue und liberale Einstellung gegenüber zuvor als dissonant eingestuften Intervallen, wie vor allem der großen Terz. Dieser Artikel behandelt das Aufkommen der Proto-Tonalität in der englischen Musik des 15. Jahrhunderts, das Goldene Zeitalter der englischen Musik des 16. Jahrhunderts, die „Zweite Renaissance“ Vaughan Williams‘ und seiner Anhänger im frühen 20. Jahrhundert sowie abschließend die Weiterentwicklung  und Verarbeitung eindeutig madrigaler und neuer liturgischer Stilelemente von englischen Komponisten im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert.

 

Die Einstellung der ersten Musiktheoretiker zu Konsonanz und Dissonanz

Musiktheoretiker der Antike erachteten ausschließlich die reinen Intervalle wie Einklang, Quarte, Quinte und Oktave als konsonant. Alle anderen Intervalle stufte man als dissonant ein, etwas, dass für heutige Ohren fremd klingt. Erstaunlicherweise hatte diese Theorie auch noch im Mittelalter Gültigkeit, in dem diesen „perfekten“, reinen Intervallen zusätzlich eine religiöse Bedeutung zugemessen wurde. Perfektion wurde mit Göttlichkeit gleichgesetzt. Daher schienen alle anderen Intervalle sozusagen unvollkommen, d.h. irgendwie mit einem Makel behaftet. So entstand früh ein Konzept von Konsonanz und Dissonanz, weswegen die große Terz und die große Sext (kleine Intervalle waren noch nicht in diese Theorie mit einbezogen) wie Dissonanzen behandelt wurden. Das erklärt auch, warum frühe Polyphonie oder das Organum sich ausschließlich in Paralleloktaven, -quarten und -quinten bewegte. Heutzutage gehören Terz und Sext natürlich zu den Intervallen, die für unsere Ohren am wohlklingendsten sind.

Im pythagoreischen Lehrsatz spiegeln konsonante Intervalle einfache Zahlenverhältnisse wider.  In ihrer Wirkungszeit im 5. Jahrhundert v. Chr. beschränkten sich die Pythagoräer auf einfache Zahlen-Verhältnisse der ganzen Zahlen 1,2,3 und 4. Die Töne der Oktave, z.B., stehen im Verhältnis von 2:1 zueinander, die der reinen Quinte im Verhältnis von 4:3. Höheren Zahlen als 4 zugeordnete Intervalle wurden als dissonant eingestuft. Die große Terz wurde mit 5:4 berechnet, die kleine Terz mit 6:5. Spätere Autoren erweiterten die Lehre von den Zahlenverhältnissen, wie Gioseffo Zarlino (1517-1590)  in Le istitutioni harmoniche (1558), Dimostrationi harmoniche (1571) und  Sopplimenti musicali (1588), in die er neue konsonante Intervalle mit ganzen Zahlen bis 6 einschloss, einschließlich ihrer Umkehrungen. Alle anderen Intervalle waren nach seiner Intervall-Theorie weiterhin Dissonanzen. Von gleicher Bedeutung ist Zarlinos Konzept der Auflösung der Intervalle, wobei nicht nur das Intervall selbst als konsonant oder dissonant angesehen wurde, sondern auch seiner Tendenz, sich nach oben oder unten zu einem anderen Intervall hin aufzulösen, ein ähnlicher Stellenwert innerhalb des harmonischen Systems, nun die Proto-Tonalität, zugewiesen wurde. Später entwickelte Hermann von Helmholtz (1821-1894) eine Intervall-Theorie, die auf harmonischen Folgen gründete, und eine „Schwingungs-Theorie“ (vgl. Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, 1877, übersetzt von Alexander John Ellis unter dem Titel On the sensations of tone as a physiological basis for the theory of music, neu verlegt bei Dover, 1954). Nach dieser Lehre fehlen den konsonanten Intervallen wahrnehmbare Schwingungen, d.h., reine Oktaven oder Quinten würden nicht hörbar schwingen. Carl Stumpf (1848-1936) widerlegte diese Theorie sehr überzeugend mit seiner eigenen „Verschmelzungstheorie“, mit der er sich einem neuen Gebiet der Psychoakustik zuwendet (vgl. seine Konsonanz und Dissonanz in Beiträge zur Akustik und Musikwissenschaft, Bd. 1, 1883-1890).

 

Der Ursprung des Begriffes contenance angloise – Eine neue Kunst im 15. Jahrhundert

Im 15. Jahrhundert dominierten englische Komponisten die „Avantgarde“ des europäischen Musikgeistes. Ihre Kompositionen, von denen viele nur in ausländischen Quellen erhalten bleiben, sind heiß begehrt. Die Entwicklung der contenance angloise kann man leicht anhand von Stilveränderungen verfolgen, beispielsweise am Salve scema sanctitatis von John Dunstaple (ca. 1390-1453) und an einer Komposition wie Stella celi von Walter Lambe (1450/51-1504+). Während der 20er und 30er Jahre des 14. Jahrhunderts sind Kontakte zwischen englischen und kontinentalen Komponisten nachweisbar. Der reife Kompositionsstil in der englischen Musik der Mitte des 15. Jahrhunderts fällt, international gesehen, mit dem Beginn des Stils der frühen Renaissance zusammen, vom Theoretiker Johannes Tinctoris (ca. 1435-1511) 1476 beschrieben als „die neue Kunst…, deren Born und Ursprung sich inmitten der Engländer befindet und denen Dunstaple als Meister vorsteht“. Dunstaple übernahm den Fauxbourdon-Stil, der durch Parallelbewegungen in Sext- und Quartsext-Akkorden gekennzeichnet ist. Waren diese Harmonien „erfunden“ und schon vor dem Dreiklang der Grundposition erlaubt? Mit ihrem „süßen“ Klang (Tinctoris) haben wir es hier mit einer neuen musikalischen Sprache zu tun, deren Fülle an Terzen und Sexten schließlich wesentlich zur Verwendung des ganzen Dreiklanges beitragen. Dies ist die oben erwähnte Proto-Tonalität.

Eine interessante literarische Quelle ist das epische Gedicht Le Champion des Dames von Martin le Franc (ca. 1410-1461). Im Manuskript ist eine großartige Miniatur zweier führender Komponisten der Zeit abgebildet: Guillaume Dufay (? 1397-1474) und Gilles Binchois (? 1400-1460). Der Dichter arbeitete  als Sekretär sowohl für Papst Nikolaus V. (1447-1455) als auch für den Gegenpapst Felix V. (1439-1449). Außerdem stand er im Dienst der Fürsten von Savoyen, ersuchte aber oft das Patronat des Herzogs Philipp des Guten von Burgund (1419-1467). Le Franc spielt auf den Einfluss Dunstaples auf Dufay und Binchois an. Nach seiner Beschreibung ist die sogenannte englische „countenance“ bzw. der Stil eher ein Klang: „ein neue Art, frischen Einklang herzustellen…, die ihrem Gesang Freude und Beachtung verleiht“. Der besondere Klang hatte seinen Ursprung im häufigen Gebrauch von Terzen und Sexten im Satz sowie in einer rhythmischen und melodiösen Geschmeidigkeit, die auf eine neue Art expressiv waren und von Dufay und Binchois in ihrem neuen Burgunder Stil übernommen wurden – das Hauptthema dieser Passage in le Francs Gedicht.

Es wäre dennoch unfair, Dunstaple alle Lorbeeren für diese Contenance angloise zukommen zu lassen. Die Anerkennung seiner überragenden Bedeutung ist sicherlich verdient, aber einige andere Komponisten verdienen ebenfalls unsere Aufmerksamkeit, unter ihnen Benet, Bedyngham, Forest, Frye, Plummer, Pyamour und Leonel Power (zwischen 1370 und 1385 – 1445). Die Werke von Walter Frye (nachweisbar um 1450-ca.1475) sind ausschließlich in kontinentalen Quellen erhalten. Die wichtigsten Manuskripte sind jene des Hofes von Burgund. Frye war jünger als Dunstaple und blieb nach dessen Tod im Jahre 1453, als der englische Einfluss abzunehmen begann, auf dem Kontinent.

 

1.Musikbeispiel – John Dunstaple: Sancta Maria

(Click on the image to download the full score)

 

Die ansteigende Figur in der oberen Stimme in Takt 1, c-e-f-g-a-g, erreicht über die Quarte die große Terz, bevor sie sich zur Sext emporschwingt und zur Quinte der Tonleiter zurückkehrt. In ihrer Melodiosität ein wohl typisch englisches Stilmerkmal für Dunstaples Musik.
Die ansteigende Figur in der oberen Stimme in Takt 1, c-e-f-g-a-g, erreicht über die Quarte die große Terz, bevor sie sich zur Sext emporschwingt und zur Quinte der Tonleiter zurückkehrt. In ihrer Melodiosität ein wohl typisch englisches Stilmerkmal für Dunstaples Musik.

 

Das goldene Zeitalter der englischen Musik: die Madrigalschule des 16. Jahrhunderts

Wie auch im späteren Verlauf der Geschichte pflegte England von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis in die ersten zwei Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts eine insulare Tradition. Die Vorliebe für konsonante Intervalle behauptete sich bis weit ins nächste Jahrhundert, es gibt eine ununterbrochene Verbindung zwischen der Musik Dunstaples und Fryes, Weelkes und Wilbyes. Das Eton Choir Book (zusammengetragen in den Jahren 1500 bis 1505) ist die wichtige Quelle aus dieser Zeit und überliefert ein außergewöhnliches Repertoire an polyphonen Werken, charakterisiert durch in die Höhe schnellende Melismen und einen pan-konsonanten Stil. Wirkliche Innovation in der englischen Säkularmusik findet erst am Ende des 16. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des englischen Madrigals statt. Die italianisierten Charakteristika der Form haben einen unmittelbaren Einfluss und lassen den früheren Stil der nur wenigen überlieferten Stücke weltlicher Musik von Komponisten aus der frühen Tudorzeit wie z.B. Robert Faryfax (1464-1521) verblassen.

Der unmittelbare Anstoß für Madrigalkompositionen in England geht auf den Italiener Alfonso Ferrabosco den Älteren (1543-1588) zurück, der in London am Hofe der Königin Elisabeth I. in den 60er und 70er Jahren des  16. Jahrhunderts angestellt war. Seine Werke waren populär und regten einheimische Komponisten zur Imitation an. Doch auch wichtige Sammlungen wie Musica transalpina (1588) und Musica transalpina II (1597) von Nicholas Yonge, die anglisierte italienische Madrigale beinhalten, haben erheblichen Einfluss. Unter den führenden Madrigalkomponisten Englands waren Thomas Morley (1557/7-1602), Thomas Weelkes (1576-1623) und John Wilbye (1574-1638). Morley ist der einzige Komponist der Zeit, dessen Vertonungen Shakespeare’scher Verse überlebt haben. Sein melodischer Stil ist heute noch populär. Wilbye war nicht sehr produktiv, seine Madrigale sind unverwechselbar und wegen ihrer ausgeprägten Chromatik, die jedoch nicht mit dem italienischen Stil verwechselt werden sollte, sehr expressiv. Auch Weelkes Kompositionen waren mit Chromatik ganz im italienischen Stil versehen.

Das Aufkommen des Madrigals ist generell ein Charakteristikum der Renaissance und besonders der italienischen Musik. Die Form war eng an Worte gebunden, besonders an Dichtung von Petrarca. Tatsächlich war das italienische Madrigal charakterisiert durch einen wortnahen Ausdruck – ein direkter Weg zum deklamatorischen Sologesang und zur Oper selbst scheint sich abzuzeichnen. Das Madrigal englischer Komponisten verlieh den Worten Ausdruck und gefiel sich sogar in Wortmalerei, blieb aber dennoch eine eindeutig musikalische Form. Die Melodien waren mit mehrstimmigen heimatlichen Liedern versetzt und bauten weniger auf den ausschließlich imitierenden Kontrapunkt. Wieder einmal bewiesen die Engländer eine Gabe für erfinderische Melodien bei gleichzeitiger Anerkennung der Dominanz des italienischen Madrigals. Daraus entstand eine neue Form, die mit der englischen Melodie verschmolz, und klar melodiöse Sologesänge mit instrumentaler Begleitung. Das englische Madrigal war also weder etwas ganz Englisches noch berechtigterweise Italienisches, und das Ergebnis, wie so oft, eine erfolgreiche Kreuzung. In dieser komplexen Zeit wurde viel großartige Musik geschrieben. Der leichtere Madrigalstil, der in den 1580er Jahren in Italien eine Blüte erlebte, erfreute sich unmittelbar danach in England großer Popularität, obwohl, legt man die Anzahl der Publikationen zugrunde, das Madrigal in England ein unwichtigeres Phänomen war als in Italien. Die Popularität übersetzter italienischer Madrigale, zusammen mit der Entwicklung  englischer Dichtung wie bei Edmund Spenser und Philip Sidney, ermutigte englische Komponisten, Madrigale zu englischen Versen zu schreiben. Diese Kompositionen sind typischerweise besonders heiter. Kurze Imitationen, aber auch viel Homophonie bestimmen den Satz der hauptsächlich pastoralen oder amourösen (oder beides) Texte. Den Höhepunkt dieser Zeit bilden sicher die Werke von Thomas Morley, dessen eigener leichter und frischer Stil von anderen englischen Komponisten aufgegriffen wurde. 1601 veröffentlichte Thomas Morley The Triumphes of Oriana, eine Madrigalanthologie englischer Komponisten zu Ehren von Elisabeth I. Die ernsteren italienischen Madrigale des späten 16. Jahrhunderts hatten keinen großen Einfluss in England, obwohl einige Komponisten, vor allem Weelkes, Wilbye und Ward, den Stil weiterentwickelten, indem sie düsterere Texte, Chromatik und Dissonanz verwendeten. Die Sammlung von Walter Porter (ca. 1588-1659), Madrigals and Ayres (1632), lässt an Monteverdis konzertierenden Madrigalstil denken, vor allem wegen des Einsatzes virtuoser Solo- und Duettpassagen mit Continuo. Zu der Zeit wurde in England das Madrigal von heimatliche Liedern und Melodien zur Laute abgelöst.

Was den melodischen und harmonischen Stil betraf, so war manch ein englischer Komponist gespalten: zwar waren „Importe“ wie das italienische Madrigal leicht zugänglich, jedoch gab es auch ein natürliches Gefühl für einfache Melodien, die schon seit jeher dem englischen Volkslied eine gewisse Ursprünglichkeit verliehen hatten. Die Volkstradition, aus der Mehrstimmigkeit kommend, behielt das späte 16. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit hindurch – sie „behielt ihr Gesicht“-  und wehrte der italienisierten Musik. Das melodische Idiom des frühen In goinge to my naked bedde von Richard Edwards (1524-1566) zeigt kontinentalen Einfluss, basiert aber mehr auf den Eigenarten der Idiome des englischen Liedes mit seinen klaren Dreier-Strukturen. Das The doutfull  state that I posses von Thomas Wythorne (1528-1596) erinnert mit seinem Rhythmus an eine Adaption einer Villanella alla napolitana, ist aber von den Melodien her im englischen Volkliedstil verwurzelt. Wythornes Songs of Sundrie Natures (1589) weisen bis zu seiner letzten Veröffentlichung Psalmes, Songs, and Sonnets (1611) mit ihrem gekonnten Kontrapunkt und gelegentlich ernst anmutenden harmonischen Idiom eher einen niederländischen als einen italienischen Stil auf. Sein Come wofull Orpheus behält einen starken Landescharakter trotz gelegentlich verrückter chromatischer Linien mit unregelmäßigen Erhöhungs- und fremdartigen Erniedrigungszeichen („sowrest sharps and uncouth flats“). 

Das englische Madrigal war also in jeder Weise weniger eine esoterische Angelegenheit, sondern wurde eine eher populäre Bewegung. Es gibt keine Hinweise darauf, dass professionelle Madrigalsänger in adeligen Familien angestellt wurden, wie das in Italien der Fall war. Durch den Aufstieg eines neuen Adels und einer echten Mittelklasse war nun Musik für den Privatgebrauch gefragt. Wurde ein italienischer Komponist mit hoher Wahrscheinlichkeit von allem Literarischen und Dramatischen angezogen, beschäftigte sich ein englischer Komponist eher mit der Musik an sich, mit einfacher diatonischer Harmonie, die auf ihre eigene subtile Weise die Melodielinie färbte, zusammen mit einem sparsamen Gebrauch der Chromatik innerhalb einer verlässlichen tonalen Struktur. Englische Musik weist häufig eine liedähnliche Tendenz auf, bei der alle Stimmen innerhalb einer polyphonen Textur eine gleichwertige melodische Wichtigkeit haben. Obwohl die Oberstimme manch eines Werkes aus dieser Zeit melodieführend ist, wird diese Oberstimmendominanz gelegentlich von anderen Stimmen aufgehoben, die – wenn auch unterschiedlich stark – genauso melodienreich sind. Wie immer ist es unmöglich, melodisches Denken ganz aus dem harmonischen Kontext zu lösen, selbst wenn eine klarere Konzeption der Tonalität – die Musik von Thomas Morley ist dafür ein Musterbeispiel – für die englische Schule dieser Zeit typisch ist. Die Proto-Tonalität des späten Mittelalters und der frühen Renaissance hatte sich zu einer Tonalität entwickelt, die man als funktional beschreiben könnte – in dieser Hinsicht spricht schon die Basslinie für sich. In Morleys eigenem Shoote false love enden die Kadenzen auf der Dominante und, in der siebten Zeile des Gedichtes, auf der Dominante der Dominante. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts ist diese Sicherheit des harmonischen Stils zweifellos ein Charakteristikum der englischen Musik. Es ist eine Art Bestimmtheit der Harmonie, die den englischen Stil in dem Moment charakterisiert, in dem sie sich dem ebenso progressiven Kontinent zuwendet.

 

2.Musikbeispiel  – Thomas Tallis: If ye love me

(Click on the image to download the full score)

 

 

Beachten Sie in Takt 19 den absteigenden Dur-Dreiklang, der zwischen dem Tenor, Alt und Bass bei der Imitation zu den Worten „e’en the sp[i]rit of truth“ auftritt. Ein glockenähnlicher und harmonischer Moment, der Poly- und Homophonie vereint.
Beachten Sie in Takt 19 den absteigenden Dur-Dreiklang, der zwischen dem Tenor, Alt und Bass bei der Imitation zu den Worten „e’en the sp[i]rit of truth“ auftritt. Ein glockenähnlicher und harmonischer Moment, der Poly- und Homophonie vereint.

 

Die Zweite Renaissance englischer Musik

Es wird nicht überraschen, wenn der Autor, diesen Text in München schreibend, den berüchtigten Ausspruch des deutschen Gelehrten Oskar Adolf Hermann Schmitz in Erinnerung ruft: Das Land ohne Musik“. Das ist der Titel seines Buches, das 1904 in der bayerischen Hauptstadt veröffentlicht wurde, ein irgendwie anti-britisches Werk, in dem er die Engländer einer Zurschaustellung von Kulturlosigkeit bezichtigte. Diese Meinungsbildung reicht weiter zurück, mindestens zu den Kritikern Carl Engel und Georg Weerth, aber vielleicht sogar bis zu Friedrich Engels. Es war jedoch Carl Engel, der in seiner Studie über Nationalmusik von 1866 behauptete, dass „die Engländer das einzige Kulturvolk ohne eigene Musik sind“. Dank dieses Ausblicks in die Kulturgeschichte kann der Autor etwa 300 Jahre englischer Musikgeschichte überspringen, ein neues Dunkles Zeitalter, wenn man so will, während dessen wir Engländer wenig Beachtenswertes hervorbrachten, außer Henry Purcell und Georg Friedrich Händel – den berühmtesten „englischen“ Komponisten des 18. Jahrhunderts.

Was macht nun englische Musik so durch und durch englisch? Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wussten die Engländer selbst nicht, wie es kam, dass Ausländer solch einen Stellenwert im englischen Musikleben einnehmen konnten, dass sie bald als ‚britisch‘ galten. George Frideric Handel, wie er sich selbst bald nannte, verbrachte einen Großteil seines Lebens in England.  Immer noch halten ihn viele für den Repräsentanten englischer Musik par excellence. Dafür gibt George Grove schon 1890 in der ersten Ausgabe seines gleichnamigen Dictionary of Music and Musicians eine geistreiche Erklärung: „Händels Charakteristika haben etwas typisch Englisches: Seine große Statur, sein großer Appetit, seine ausladende Schrift, sein dominierendes Temperament, sein Humor, sein Geschäftssinn – alles die unsrigen.“ Was die Oratorien von Felix Mendelssohn-Bartholdy betrifft – Zyniker würden sagen, dass sie nur geschrieben wurden, um den zahlreichen englischen Chorgesellschaften einen Zeitvertreib zu liefern.

Wie dem auch sei, es waren Ralph Vaughan Williams (1872-1958) und Gustav Holst (1874-1934), deren Kompositionen an der Schwelle des 20. Jahrhunderts eine Renaissance englischer Musik repräsentierten. Diese Bewegung, bekannt unter der Bezeichnung ‚New Renaissance‘ oder ‚Zweite Renaissance‘, verarbeitete mühelos englische Volkslieder und Hymnen mit mehrstimmigen Liedern und der Kirchenmusik der Elisabethianischen Ära, indem sie schon weitgehend von Bach und Händel erforschte Formen und Stile benutzten. Sowohl für Vaughan Williams als auch für Holst waren die großartigen Quellen der Kirchenmusik aus der Tudor-Zeit, wie die von Tallis und Byrd 1588 herausgegebenen Cantiones Sacrae, oder auch die weltlichen Madrigale, gleichermaßen wichtige Quellen. Der Autor beschränkt sich hier auf die  weltliche Musik. RVW, wie er auch heute noch liebevoll genannt wird, schrieb Chormusik, auf die auch noch die nächste Generation bauen konnte, der so wichtige Persönlichkeiten wie Benjamin Britten und William Walton angehörten.   

Vaughan Williams war über ein halbes Jahrhundert lang eine Galionsfigur der englischen Musik. Wie vor ihm William Byrd  ignoriert hatte, was er als Exzesse des italienischen Madrigals empfand, so blieb auch Vaughan Williams unempfänglich für den Umbruch in der Kompositionsmethode, wie sie die Zweite Wiener Schule lehrte, und komponierte weiterhin tonal. Im Angesicht der fortschreitenden Industrialisierung Englands begann er, traditionelle und populäre Volkslieder des Landes zu sammeln, deren Melodien er in seinen eigenen Werken verarbeitete. RVW wurde dabei von einer tief verwurzelten englischen Tradition inspiriert: der Liebe seines Landes zum Volkslied. Stark beeinflusst vom Liedersammler Cecil Sharp, dessen Anhänger man einfach sein musste, bemerkte er einmal: „Entweder für oder gegen das Volkslied – und ich tendierte eindeutig zum Volkslied“. Er verwendete diesen Kommentar in seinem berühmten Artikel von 1912 ‘Who wants the British composer?’. Der Blick der englischen Komponisten war also wieder nach innen gerichtet, gerade als die Neue Musik sich in Europa Neuem zuwandte und die Geschwindigkeit, mit der sie sich weiterentwickelte, der Fähigkeit des Publikums zu folgen weit voraus war.

Die Zweite Englische Renaissance in der Musik wurde in dieser Zeit vor allem in einem bestimmten Bereich reflektiert: in den nationalen Zeitungen und der journalistischen Musikkritik, und dies besonders bei Ausbruch des ersten Weltkrieges. Dies führt uns direkt zur Rolle der Journalisten in der Rezeption der Musikgeschichte. Das Wort „Renaissance“, bezogen auf die englische Musik, wurde in diesem neuen Zusammenhang erstmals im September 1882 von dem Journalisten Joseph Bennett, dem Chefkritiker des Daily Telegraph, benutzt. Er gebrauchte den Terminus in seiner Kritik der Premiere von Hubert Parrys 1. Symphony in G, einem Werk, das von vielen als Wendepunkt in der englischen Musik betrachtet wurde.

Die Kritiker waren im allgemeinen in beiden Lagern der großen europäischen Debatte zu finden: auf der einen Seite die Anhänger Schumanns und Brahms‘, und auf der anderen jene, die die englischen Versionen dieses klassisch deutschen Idioms befürworteten, die aus einer in hohem Maße verwässerten musikalischen Sprache bestanden, wie sie Anhänger der nationalen Schule „verbrachen“, die weniger fähig als Vaughan Williams waren. Die Musik Wagners hatte keine Zukunft, das wurde deutlich unter der Feder von Charles Hubert Parry (1848-1918) und Charles Villiers Stanford (1852-1924), beide Theoretiker an Londons Musikakademien. Diese Klüngelei war dann das Fundament, auf dem die neue englische Renaissance entstehen sollte. Komponisten wie Walford Davies, Coleridge-Taylor, Mackenzie und Somervell waren genehm, aber Delius, Bantock, Cowen, Sullivan, Elgar und Boughton wurden als irgendwie ‚nicht sehr britisch‘ abgelehnt.[i] Diese Debatte verlief aber im Sande durch den Erfolg Edward Elgars (1857-1934) im ersten Jahrzehnt der Regierungszeit Edwards (Edwardian era). Natürlich hing die künftige Entwicklung englischer Musik nicht nur von einer einzigen Komposition ab, aber es war ein Glücksfall für Elgar, dass der deutsche Dirigent Julius Buths im Jahre 1900 der Premiere von Elgars Dream of Gerontius unter Hans Richter beiwohnte. Diese erste Darbietung des Werkes, das ein wichtiges Werk des englischen Repertoires werden sollte, war ein Debakel, da der Chor entschieden schlecht vorbereitet war.  Dennoch spürte Buths die Genialität der Partitur. Er war vor allem von dem großen Ausbruch des Chors bei ‚Praise to the Holiest in the Height‘ (Ehre sei dem Herrn in der Höhe) beeindruckt. Er dirigierte das Werk dann im darauffolgenden Jahr in Düsseldorf in Anwesenheit des Komponisten. Der Assistent von Buths war Richard Strauss, den das Werk ziemlich beeindruckte und der auf dem anschließenden Empfang bemerkte: „Ich trinke auf den Erfolg und das Wohlergehen des ersten progressiven englischen Komponisten, Meister Elgar“. In der Tat ein Lob aus dem ‚Land der Musik‘ für das ‚Land ohne Musik‘.

Chordirigenten der ganzen Welt sollten sich mit Parrys ausdrucksvollem Lord, let me know mine end, mit seiner starken Akzentuierung und seinen romantischen Crescendi auseinandersetzen, und auch mit einem anderen aufschlussreichen Werk, den Three Latin Motets von Stanford. Beiden Stücke bestehen aus acht Teilen. Das Mater ora filium von Arnold Bax (1883-1953) ist ein Meisterstück, eine geradezu exemplarische Komposition für Doppelchor. Diese Musik klingt viel anspruchsvoller als sie tatsächlich ist – eine Tatsache, die viele Dirigenten, die nur eine begrenzte Probenzeit zur Verfügung haben, begrüßen werden. Viele andere Hymnen ähnlicher Art bilden immer noch das Hauptrepertoire des heutigen anglikanischen Chorrepertoires. Das tonale Komponieren englischer Chormusik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist stark von Brahms beeinflusst. Noch ein anderes, erwähnenswertes Stück ist Valiant for Truth von Vaughan Williams selbst, gesetzt auf einen außerordentlich eindringlichen Text von John Bunyan. Auch Gustav Holst hat hervorragende A-Cappella Kompositionen geschrieben. Der Autor hofft, den Programmgestaltern für  Chorkonzerte mit diesem Plädoyer zündende Ideen geliefert zu haben. Aber vor dem Aufbruch auf diese Entdeckungsreise empfehle ich den Kauf  (heutzutage vermutlich bei Amazon) des ausgezeichneten Buches The English Music Renaissance von Frank Howes (Secker and Warburg/New York: Stein and Day, 1966). Der Autor versichert, dass – obwohl sowohl RVW und Holst den Einfluss des Volksliedes nicht leugneten – auch das englische Gesangbuch eine wesentliche Rolle für Vaughan Williams spielte (er war der Herausgeber von The English Hymnal). Holst hingegen ließ seine Chöre Madrigale von Weelkes singen, ein bahnbrechendes und vernachlässigtes Repertoire zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

 

3.Musikbeispiel – Ralph Vaughan Williams: Just as the tide was flowing

(Click on the image to download the full score)

 

Ein Lehrstück über die Methode, ein Volkslied zu  setzen und dabei über seine Strophenform hinauszugehen. In seiner lokalen Ursprungsform hat die Melodie eher gestelzte, punktierte Viertel-, Achtel- und Viertelnoten bei „flowing“, aber RVW findet eine passendere Harmonie von Text und Musik, indem er mehrere, buchstäblich fließende Töne auf eine Textsilbe setzt.
Ein Lehrstück über die Methode, ein Volkslied zu  setzen und dabei über seine Strophenform hinauszugehen. In seiner lokalen Ursprungsform hat die Melodie eher gestelzte, punktierte Viertel-, Achtel- und Viertelnoten bei „flowing“, aber RVW findet eine passendere Harmonie von Text und Musik, indem er mehrere, buchstäblich fließende Töne auf eine Textsilbe setzt.

 

(Reproduced from “Five English Folksongs” by kind permission of Stainer & Bell Ltd.)


[i] Dazu fällt der Übersetzerin das Zitat Sir Thomas Beechams ein„Meine Landsleute mögen keine Musik, sondern den Lärm, die sie erzeugt“.

 

 

graham-lackGraham Lack hat Komposition und Musikwissenschaft am Goldsmiths’ College und King’s College London und  Musikpädagogik an der Universität Chichester (Staatsexamen) studiert. 1982 zog er nach Deutschland und wird an der TU in Berlin seinen Doktortitel erhalten. Er hielt Vorlesungen über Musik an der Universität von Maryland, war Vorsitzender des Symposions zur Zeitgenössischen Finnischen Musik (Universität Oxford, 1999) und des 1st International Symposium of Composer Institutes (Goethe Institut, 2000). Außerdem schreibt er Beiträge für das Groves Dictionary und Tempo. Zu seinen A-Cappella Werken gehören Sanctus (Queens’ College Cambridge), Two Madrigals for High Summer, Hermes of the Ways (Akademiska Damkören Lyran) und ein Zyklus für die King’s Singers, Estraines, aufgenommen bei Signum. Auftragswerke sind Petersiliensommer für den Münchner Philharmonischen Chor und Gloria (für Chor, Orgel und Harfe). The Legend of Saint Wite (SSA und Streichquartett) wurde 2008 beim BBC-Wettbewerb preisgekrönt. Das Werk Refugium (Chor, Orgel und Schlagzeug) wurde 2009 in London  vom Trinity Boys Choir uraufgeführt. Zu seinen jüngsten Werken gehören Wondrous Machine für den Multi-Perkussionisten Martin Grubinger, Five Inscapes für Kammerorchester und Nine Moons Dark für großes Orchester. Geplant sind das 1. Klavierkonzert für Dejan Lazić, The Windhover (Solo-Violine und Orchester) für Benjamin Schmid, The Pencil of Nature (musica viva), A Sphere of Ether (Young Voices of Colorado) und eine Kantate The Angel of the East. Graham Lack ist Korrespondierendes Mitglied des Institute of Advanced Musical Studies des King’s College London und regelmäßiger Besucher der ACDA Konferenzen. Seine Werke erscheinen bei: Musikverlag Hayo, Cantus Quercus Press. Email: graham.lack@t-online.de

 

Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Wagner, Frankreich