Kubanische Chormusik von Roberto Valera und Guido López-Gavilán
John Warren, Chorleiter und Lehrer
Im Mai 2012 hatte ich die wunderbare Chance, nach Havanna, Kuba, zu reisen, als Teil des Internationalen Chorleiter-Austauschprogrammes der Vereinigung Amerikanischer Chorleiter. Unsere Gruppe verbrachte fünf Tage dort, und wir hörten phantastische kubanische Chöre wie Coro Entrevoces, Coro Nacional de Cuba, Coro Exaudi, Coro Polifónico, Coralina, Vocal Leo, und Camerata Vocale Sine Nomine, und arbeiteten mit ihnen. Drei Tage lang hatte ich die Ehre, mit dem Coro Nacional de Cuba zu proben und von ihrer Chorleiterin Digna Guerra zu lernen. Es war eine unvergessliche Erfahrung, die mich verändert hat und mich inspirierte, kubanische Chormusik mit meinen eigenen Chören zu erkunden. Dieser Artikel soll nun ausgewählte Werke zweier Komponisten behandeln – Roberto Valera und Guido López-Gavilán.
Roberto Valera war ein bemerkenswerter Komponist, Pädagoge und Schriftsteller in Havanna, Kuba, für mehr als vierzig Jahre. Seine musikalischen Veröffentlichungen beinhalten Werke für Orchester, Filmmusik, Soloklavierstücke, Streichquartette, elektronische Musik und Chorwerke. Während er die Kompositionstechniken der letzten Avantgarde erkundete (insbesondere während seines Studiums am Chopin Konservatorium in Warschau, 1965-67), sind seine Werke für Chor aber auch durchdrungen von Elementen kubanischer Popularmusik und deren Rhythmen.
Valera komponierte Iré a Santiago (Ich werde nach Santiago gehen) 1969 basierend auf einem Gedicht von Federico García Lorca. Lorca besuchte Kuba 1930 im direkten Anschluss an eine unerfreuliche Reise nach New York. Das Gedicht drückt die große Freude aus, die er bei seinem Kubabesuch empfand, und beschreibt die Farben, Klänge und Gerüche, die er wahrnahm. Die Partitur war ursprünglich als Filmmusik für Gitarren und Bass mit einem Vokalsolo im mittleren Teil konzipiert. Digna Guerra war die ursprüngliche Solistin. Die Chorversion des Werkes wird oft von Chören aus verschiedenen Teilen der Welt aufgeführt, und ist regelmäßig Bestandteil des Repertoires kubanischer Chören auf Tournee.
Um es in ein Chorstück zu transformieren, benutzt der Komponist Laute ohne Bedeutung, die den Klang der Instrumente repräsentieren sollen. Valera nennt diese Laute jitanjáfora. Im Eröffnungsteil, im Stil der guaguancó (kubanische Rumba), benutzt Valera die stimmhaften Konsonanten ‘d’, ‘g’ und ‘b’ stellvertretend für die Gitarren. Das scheint die schlagenden und doch dunklen Töne gezupfter Gitarrensaiten perfekt zu reflektieren. Er verwendet sie geschichtet in synkopierter Polyphonie zwischen den verschiedenen Teilen.
Die Melodie und der Text sind zu zunächst von der Tenorstimme zu hören, auch hier in einem synkopierten Rhythmus, passend zur natürlichen Sprachakzentuierung und zum Tonfall. Die Melodie wird zwischen Tenören und Sopranen hin- und hergegeben und jeder Satz wird von einer vollen Chorkadenz auf den Text “iré a Santiago” beantwortet. (Beispiel 1)
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Im langsameren Mittelteil wird eine Sopransolistin in fast rezitativem Stil von chorischen Akkorden unterstützt. Der dritte Teil greift das anfängliche Material wieder auf, aber mit gesteigerter Intensität. Dies geschieht, indem sechzehn Töne in den Sopran und Alt-Partien eingebaut werden, die den Klang einer guiro oder shakere oder beiden nachzuahmen scheinen. Interessanterweise benutzt Valera hier Konsonanten, um den Klang der Perkussionsinstrumente treffender zu imitieren. Einige Chorleiter wählen für diesen Schlussteil ein schnelleres Tempo, das das Stück zu einem umso spannenderen Schluss bringt.
Harmonisch gesehen, ist das Stück recht tonal und geradlinig. Die große Herausforderung sind die dicht synkopierten, polyphonischen Rhythmen, die die kubanischen Chöre ohne Anstrengung zu singen scheinen.
Babalú en La Habana Vieja ist inspiriert von einem Song aus Roberto Valeras Kindheit. Der Komponist erklärt, dass Babalú eine bekannte Figur war, die durch die Straßen Havannas zog. Er war ein alter Mann, dreckig und barfuß, dem die Kinder neckend nachriefen. Die Männer warfen ihm brennende Zigaretten nach, die er austrat ohne etwas zu spüren. Er war ein fröhlicher Mann, der die Nachbarskinder verzauberte – immer lachend und tanzend und ein Lied singend, das Valera als Grundlage für seine Komposition nutzte.
Valeras Komposition ist für SATB Chöre (mit divisi) a cappella geschrieben, in der Form eines Themas mit Variationen. Die Melodie wird zuerst von den Altstimmen und Tenören unisono in F-Dur präsentiert, begleitet von abwechselnden verwandten Tönen in den Bässen und Sopranstimmen (F-G im Bass und C-D im Sopran). Die erste von acht Variationen ist ein Kanon, unisono zwischen den Tenören und Altstimmen (die Altstimmen folgen vier Schläge versetzt) während die Sopranstimmen und Bässe ihre etwas statische Akkord-Begleitung fortsetzen. Der Sopran ist geteilt, so dass der Klang noch etwas dichter wird.
Die Variationen zwei bis sieben sind mit ihrem 2/4 Takt schneller als der 4/4 des Anfangs. Rhythmische Werte sind kürzer und sorgen für einen lebhafteren tanzartigen Charakter. Die Variationen zwei und drei sind homophon, alle Stimmen singen hier den Text zum ersten Mal. Sopran und Tenöre haben die Melodie in Oktaven, während Alt und Bässe einen Harmonieteil in Oktaven singen. Der Hauptkontrast ist dynamisch. Variation zwei ist forte und drei pianissimo.
Mit Variation vier ändert sich der Klang wieder mit der Einführung von geschichteten, polyphonen, stark synkopierten dreistimmig gesungenen Percussion-Sounds. Diese repräsentieren Bongos und Congas mit gelegentlichen bis zu dreistimmigen Vokalteilen. Diese begleitenden Teile bilden Muster von Sechzehnteltriolen, während die Melodie in einem einzigen Stimm-Teil bleibt. Jede Variation ändert sich geringfügig – in manchen singen die Bässe bis zu vierstimmig, wenn die Melodie vom Sopran gesungen wird; wenn die Tenöre die Melodie haben, singt der Sopran dreistimmig; die Tonart wechselt von F-Dur zu G-Dur für Variation sechs.
Der lebhafte synkopierte Rhythmus endet abrupt in Takt 75, wenn Sopran- und Altstimmen Es-Oktaven auf ‘ah’ halten. Dies kontrastiert stark mit dem zuvor etablierten G-Dur. Der Chor bewegt sich schnell durch zwei Akkorde nach B und D, um die Modulation zu G-Moll für die achte und finale Variation vorzubereiten. Diese ist langsam, in Moll, dreifach forte, und hat einen achtstimmigen homophonen Klang. Wie in den vorigen Variationen singen die Soprane und Tenöre in Oktaven (dieses Mal je zweistimmig), Alt und Bässe ebenso. Das Werk endet mit einem leisen unisono Satz für alle Stimmen. Es ist ein wohlgebautes, unterhaltendes Werk. (Beispiel 2)
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Guido López-Gavilán ist ein international erfolgreicher Komponist und Chorleiter. Er hat Abschlüsse des Amadeo Roldán Konservatoriums in Havanna in Chorleitung und Violine, und des Tschaikowsky Konservatoriums in Moskau in Orchesterleitung. Er gastiert häufig als Orchesterleiter in Polen, Deutschland, Russland, Ungarn, Bulgarien und Rumänien, sowie bei kubanischen Orchestern und in ganz Lateinamerika. 2012 leitete er das Kubanische Nationale Symphonieorchester auf einer Tour durch mehr als zwanzig US-Städte. Seine Kompositionen beinhalten Werke für Chöre, Solostimmen, Orchester und Kammermusik. Conga war ein Auftragswerk für das Eröffnungskonzert des Sechsten Weltchorsymposiums in Minneapolis 2002. Seine Musik zeigt eine große Bandbreite an Stilen und Ausdrücken, von ernsten dramatischen Werken großer Intensität hin zu humorvollen, energischen Werken mit Rhythmen der kubanischen Popularmusik.
Pa kin kín war ein Auftragswerk der University of Utah Singers und ihres Chorleiters Brady Allred 2009. Es ist eine Meisterleistung für Stimmen, die Perkussionsinstrumente in immer dichteren synkopierten und polyphonischen Mustern imitieren. Der Text besteht komplett aus Lauten ohne Bedeutung – wie denen im Titel – so wie auch ‘ka,’ ‘tan,’ ‘pri,’ ‘ki,’ ‘ta,’ ‘cum,’ etc. Eine kurze, langsame und getragene Einleitung, in der Sopran und Alt ein immer dichter werdendes Akkordcluster bilden, wird unterbrochen von leichten synkopierten rhythmischen Zellen, die das Herz des Werks formen. Sie erscheinen in verschiedenen Formen sowohl homophon als auch kontrapunktisch. Klicken, Stampfen, Klatschen, Schlagen und gesprochener Text überraschen den Zuhörer und tragen zum Humor und der rhythmischen Intensität bei. Tempo, Dynamik, Struktur, Gesangslage und die Häufigkeit der Betonungen steigern sich im Abschlussteil des Werks und führen zu einem jubilierenden Schluss. (Beispiel 3)
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Schon Rhythmus und Text sind ziemlich virtuos, aber die Harmonie fordert die Sänger ebenso heraus mit vielen Polychorden oder triadischen Harmonien mit mehrfachen zusätzlichen Tönen. Das ist wirklich ein anspruchsvolles und spannendes Werk sowohl zum Hören als auch zum Aufführen.
1990 komponierte Guido López-Gavilán La Aporrumbeosis. Dem Komponisten zufolge weist der Titel auf die Absicht und den Inhalt des Werks hin – eine humorvolle Kombination von Rumba und Apotheose. “Casi una redundancia, nó?” (Fast redundant, oder?).[1] Die Einleitung besteht aus den Rufen der traditionellen Rumba. Die Musik fließt ohne Taktmaß und nutzt dissonante Akkorde, die aus überlappenden Quarten und Quinten bestehen. Das Eröffnungsmotiv kehrt wieder, um den Beginn jeder neuen Sektion in einer dreiteiligen Form zu markieren. (Beispiel 4)
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Es gibt auch ein visuelles Element bei der Darbietung des Werkes. In seinen Bemerkungen schlägt Gavilán gegensätzliche Gesten für Männer und Frauen vor: Aufstampfen, Tippen mit den Zehenspitzen, Schulterzucken, Kopfschütteln etc. Einmal sollen die Frauen sogar ein Kussgeräusch machen und lachen.
Perkussionsinstrumente werden für die späteren zwei Sektionen vorgeschlagen, für rhythmische Sicherheit und für die Klangfarbe. In diesen Teilen klingen Chorpartien und Musik für fünf Solisten improvisiert, sind aber ganz präzise aufgeschrieben. Man kann sich den inkonsequenten rhythmischen Takt in so einer hoch polyphonen und synkopierten Struktur gut vorstellen.
Die rhythmischen und melodischen Zellen des Stücks sind im Stil der Rumba gehalten, wurden aber keiner speziellen Rumba entnommen. Die Musik spiegelt auch viele zeitgenössische kompositionstechnische Charakteristika wider, wie freie Harmonie, Polytonalität, Toncluster und aleatorische Techniken. Darüberhinaus gibt es oft unkonventionelle Soundeffekte – unter anderem Zungenschnalzen, Schenkelklopfen und Aufstampfen.
Wie viele kubanische Chorstücke, die aus der kubanischen Popularmusik entstanden sind, ist der Text onomatopoetisch. Silben und Wörter ohne Bedeutung werden für ihre schlaginstrument-ähnlichen Eigenschaften verwendet. Dieses Werk benötigt virtuose Künstler, die unabhängige polytonale Teile hören und singen können, mit der zusätzlichen Erschwernis stark synkopierter, schneller Rhythmusmuster.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Chorkompositionen und Darbietungen in Kuba prosperieren. Viele Komponisten wie Guido López-Gavilán und Roberto Valera sind inspiriert von den lebhaften Traditionen der kubanischen Popularmusik. Ihre Werke enthalten üblicherweise Elemente spezieller Tänze, extreme synkopierte Rhythmen geschichtet in einer polyphonen Struktur, eine ausgedehnte Tonalität und, vielleicht vor allem, Humor und Lebensfreude.
[1] López-Gavilán, The Aporrumbeosis, Notes on the work from the composer.
BIBLIOGRAPHIE
- Contemporáneos Entrevoces. Coro Entrevoces I Coro Nacional de Cuba, Digna Guerra, Conductor. Colibri, 2010. CD.
- Diaz, Clara. Roberto Valera: Music, Genius, and Cuban Nationality. Unpublished.
- El Canto Quiere Ser Luz. Coro Nacional de Cuba, Digna Guerra, Conductor. Dabringhaus und Grimm, 2011. CD
- Exaudi, María Felicia Pérez, Conductor. Prophone, 1994. CD
- Gavilán, Guido López. Composer’s unpublished biography.
- Gavilán, Guido López. La Aporrumbeosis. Havana: Published by the composer, 1990.
- Gavilán, Guido López. La Aporrumbeosis: unpublished notes about the music by the composer.
- Gavilán, Guido López. Pa kin kín. Havana: Published by the composer, 2009.
- Valera, Roberto. Babalú en La Habana Vieja. Havana: Published by the composer, 2006.
- Valera, Roberto. Iré a Santiago. Special edition for the América Cantat IV Festival. Havana: Published by the composer, 2004.
- Valera, Roberto: Iré a Santiago for Mixed Choir: an Introspective Analysis. Paper presented as a lecture by the author as PhD Defense. Superior Institute of Art, November 9, 2005.
John F. Warren ist Privatdozent für Musik und Leiter für Chorprogramme an der Syracuse Universität, wo er drei Chöre leitet und Chorleitung, Chorliteratur und Probentechnik im Grund- und Hauptstudium unterrichtet. Er hat Abschlüsse der Universität Miami und der Universität des Cincinatti College-Musikkonservatoriums. Darüber hinaus hat Dr. Warren mit zahlreichen herausragenden Chorleitern gearbeitet wie Robert Shaw, Frieder Bernius, Christoph Eschenbach, Robert Page, Helmuth Rilling, Digna Guerra, Rodney Eichenberger, Jo-Michael Scheibe und Elmer Thomas. Dr. Warren war in mehreren Funktionen für die Amerikanische Chorleitervereinigung tätig, hat Vorträge gehalten, war Jurymitglied und hat Festivals im Osten der USA und in Kuba geleitet. E-Mail: jfwarr01@syr.edu
Übersetzt aus dem Spanischen von Christina Kühlewein, Deutschland
Edited by Holden Ferry, USA