Ein Erfolgreiches Jahrzehnt für die Chormusik
von Maria Guinand, Chorleiterin, Universitätsprofessorin und Leiterin vieler Chorprojekte
Heute erleben wir in unserem Land eine starke, dynamische Musik-Bewegung, deren Hauptträger im Wesentlichen Kinder und Jugendliche sind. Ein Orchester, ein Kammermusik-Ensemble, eine Musikgruppe oder ein Chor ist überall im Land zu finden. Zweifellos lieben die Venezolaner Musik sehr; sie gehört in unser Alltagsleben. Aber dieser bestaunenswerte Zustand ist nicht das Produkt von Improvisation, Fantasie oder einfach musikalischem Talent. Sie ist das Lebenswerk zweier visionärer Menschen, die mit großem persönlichen und institutionellen Einsatz stimulierende Räume eröffnet und dadurch eine in ganz Südamerika einmalige Situation geschaffen haben.
Diese zwei Visionäre sind José Antonio Abreu (Gründer der Fundación del Estado para las Orquestas Juveniles e Infantiles de Venezuela – El Sistema. Die staatliche Stiftung der Kinder- und Jugendorchester Venezuelas – das System) und Alberto Grau (Gründer der Fundación Schola Cantorum de Venezuela. Die Venezolanische Stiftung Schola Cantorum). Beide Musiker sind Absolventen der Kompositionsabteilung der Musikschule José Angel Lamas unter der Leitung von Vicente Emilio.
Obwohl das Chorsingen heute einen wichtigen Platz in der Musik-Szene einnimmt, ist es noch ein langer Weg, bis diese Kunstgattung ein regulärer Teil des Curriculums der Grund- und Sekundarschule wird. Heute gibt es in unserem Land viele Möglichkeiten guter Ausbildung im Instrumentalspiel am Konservatorium und auf akademischer Ebene für Student/innen und Absolvent/innen verschiedener Universitäten. Die akademische Musikerziehung ist in den letzten 40 Jahren stetig gewachsen, und gegenwärtig ist die bedeutendste Institution in dieser Hinsicht FESNOJIV, die Staatliche Stiftung für Kinder- und Jugendorchester in Venezuela – „das System“. Auf Chor-Ebene ist die Fundación Schola Cantorum de Venezuela – die Venezolanische Stiftung Schola Cantorum (FSCV) (www.fundacionscholacantorum.com) die international anerkannteste Institution. Diese Stiftung, eine seit 43 Jahren aktive private Non-Profit-Organisation, betreut seit 1975 die chorische Seite der Chor- und Orchester- Produktionen von FESNOJIV. Sie hat durch die Ausbildung von Chorleiter/innen zur stetigen Entwicklung ihres Chor-Netzwerkes beigetragen.
Neben der FSCV gibt es andere private Stiftungen, die eine wichtige Rolle bei der Förderung des Chorsingens in unserem Land spielen. Sie sind an der Organisation von nationalen und internationalen Festivals beteiligt, übernehmen Unterricht und praktisches Training von Chorleiter/innen, fördern Bürgeraktivitäten und schaffen durch das Chorsingen ein Wertebewusstsein. Diese Organisationen sind Fundación Vinicio Adames, Fundación Julio Villarroel, Fundación D’Canto, Fundación Gaudeamus, Fundación Aequalis, Fundación Calcano, Fundación Cantoria de Meerida, Fundación Beatriz Miranda, Fundación Caribe, Fundación Camerata de Caracas.
Gegenwärtig verfolgt die Fundación Schola Cantorum de Venezuela – Venezolanische Stiftung Schola Cantorum mit gewohnter Führungsstärke neue künstlerische Ziele für Gruppen, die ein neues Repertoire für ’A cappella’– Chorsingen und an chorsinfonischen Werken vorstellen wollen. Sie fördert Erstaufführungen lateinamerikanischer Werke, schafft neue Chorwerke, bildet Chorleiter/innen aus und ist international in verschiedenen Arbeitsgebieten vertreten. Ihr Handlungsradius erstreckt sich über unsere Grenzen hinaus bis in die Anden und auf andere Kontinente. Die Fundación Schola Cantorum de Venezuela hat ein System von Handlungsstrategien entwickelt, wodurch die Chor-Bewegung Venezuelas eine ganz besondere Dynamik erhalten hat und auf Grund der Qualität ihrer Gruppen, der Organisationsstruktur, der Perspektiven und des Wirkungsbereichs weltweit bekannt geworden ist.
Die Stiftung hat ihre Tätigkeit auf verschiedene Felder ausgedehnt:
- Ausbildung (Gestalten durch Gesang)
- Verbreitung und Forschung (Gründung von Chören und eines Musik-Archivs)
Ihr Streben nach Excellenz, Innovation und der Suche nach neuem Repertoire hat die Schola Cantorum de Venezuela im letzten Jahrzehnt zur Teilnahme an den wichtigsten Veranstaltungen der Welt geführt. Mit großem Erfolg hat die Gruppe das ‚A cappella’-Chorwerk von Alberto Grau und anderen lateinamerikanischen Komponisten uraufgeführt: so zum Beispiel die Premieren von „La Pasiòn según San Marco“ von Osvaldo Golijov und der Oper „A Flowering Tree“ von John Adams, die anlässlich des Mozart-Jahres für das Festival in Wien 2006 in Auftrag gegeben worden war.
Diese Konzerte erhielten außerordentlichen Beifall in der Presse und wurden von den Plattenfirmen Haenssler Verlag (nominiert für die Auszeichnung mit dem Grammy und dem Grammy Latino 2002), Nonsuch und Deutsche Grammophon aufgenommen. Diese Leistungen, Meilensteine in der Chor-Geschichte Lateinamerikas, wurden begleitet von Erfolgen auf den wichtigsten Bühnen der Welt, darunter Lincoln Center (New York, USA), Disney Hall (Los Angeles, USA), Sydney Opera House (Sydney, Australien), Barbican Center (London, England), Casa de la Música (Oporto, Portugal). Zweifellos ist der Aufstieg der Schola Cantorum de Venezuela das erfolgreichste Musikgeschehen in diesem Land und in Lateinamerika in diesem Jahrhundert.
Innerhalb der Schola Cantorum de Venezuela, die Alberto Grau 1976 schuf, wurde im selben Jahr eine Frauen-Gesangsgruppe gegründet, die bis heute aktiv an der Ausbildung von jungen Sänger/innen und Chorleiter/innen beteiligt ist. Sie ist der erste Frauenchor des Landes, dem national und international ein bedeutender Aufstieg gelungen ist und der als Modell für die Gründung anderer ähnlicher Gruppen gedient hat: Bekannte Beispiele sind Aequalis Aurea unter der Leitung von Ana Maria, Ludus Vocaliter unter der Leitung von Lourdes Sánchez und Canticum Merú, geleitet von Irma Iorio. Sie alle sind heute national und international sehr bekannt.
Die Schola Juvenil de Venezuela unter der Leitung von Luimar Arismendi wurde 2006 gegründet.
Dieser Chor nimmt junge Menschen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren auf; er ist aus dem Programm Construir Cantando ( Gestalten durch Gesang) entstanden. Dieses Programm basiert auf der Notwendigkeit, in ganz Venezuela – besonders aber in den ärmeren Schichten – die musikalische Erziehung zu fördern. Es orientiert sich an den grenzenlosen Möglichkeiten des Chorsingens, das sich als effektives Instrument für die soziale Entwicklung und Bildung von Werten erweist. Es berücksichtigt sowohl die Ausbildung der jungen Chorsänger/innen in den Zentren Pequenos Cantores (Kleine Sänger/innen) als auch die Schaffung einer neuen Generation von Chorleiter/innen.
Die gegenwärtig 18 Pequenos Cantores Zentren in der Stadt Caracas und den Staaten Mérida, Miranda, Trujillo und Bolivar dienen der Ausbildung eines Bevölkerungsanteils von 1800 Kindern und jungen Leuten. Auch die Einrichtung eines Musik-Archivs, das derzeit das landesweit umfangreichste ist, geht auf die Anregung durch die Schola Cantorum de Venezuela zurück.
In den letzten vier Jahren hat FESNOJIV der Chor-Bewegung großen Auftrieb gegeben durch die Entwicklung des Netzwerkes von Chören, Coros Sinfónicos Juveniles, das auf die Staaten Tachira, Merida, Zulia, Lara, Carabobo, Aragua, Miranda, Distrito Capital und Guarico ausgedehnt wurde. Am längsten bestehen die 1987 von Libya Gomez gegründeten Camerata Larense, welche aus sechs Chören bestehen und ein weites Netzwerk von Kinderchören fördern: Besonders zu nennen sind Coro Sinfónico de Aragua, geleitet von Iraida Pineta, und Coro Sinfónico Metropolitano, geleitet von Lourdes Sánchez. Außerdem entwickelt FESNOJIV zwischen allen Kleingruppen ein Netzwerk von Kinderchören, Ninos Cantores („Kindersinger“) genannt: Für sie ist das Chorsingen der Start in ihr Leben mit der Musik.
Das 21. Jahrhundert hat im Bereich der Musik und der Chorarbeit mit großer Vitalität begonnen. Unser Land hat außerordentliches Potential für die zukünftige Entwicklung dieser Sparte, und es wird sicherlich einen wesentlichen, nachhaltigen Beitrag zur Stärkung der Grundlagen einer humaneren, demokratischeren, wirklich integrierten Zivilgesellschaft leisten.
Aus dem Spanischen übersetzt von Martin Clarke, Argentina
Aus dem Englischen übersetzt von Christa Sondermann, Deutschland