Dmitry Smirnov, ein moderner Komponist aus St Petersburg

Von Alexandra Makarova, Chorleiterin

Die Chorkonzerte von Dmitry Smirnov sind der Schlüssel zu seinem einzigartigen Stil. Sein erhabenstes Genre ist das des a cappella Chors. In diesem Artikel verwenden wir seine Chorkonzerte, um die Charakteristika seines einzigartigen Stils zu enthüllen, die dabei sind, eine neue Richtung in der Chorkomposition zu eröffnen. Zwischen 1982 und 2007 schrieb Smirnov neun Chorkonzerte (sieben für gemischten Chor und zwei für Frauenstimmen):

He, who accepted the world, Konzert für Sprecher und gemischten Chor a cappella auf Verse von Alexander Blok (1982); The birth of a wing, Konzert für gemischten Chor a cappella auf Verse von Yunna Moritz, Arseny Tarkovsky und Boris Pasternak (1982-1997), Concert for choir auf Verse von Nikolai Nekrasov (1983); Annunciation, Konzert für Frauenchor a cappella auf Verse von Peyo Javorov (1983); Insomnia, Konzert für gemischten Chor a cappella auf Verse von Marina Tsvetaeva (1986); I was born in ’94, I was born in ’92…, Konzert für gemischten Chor a cappella auf Verse von Osip Mandelshtam (1988-89); Cypress casket, Konzert für gemischten Chor a cappella auf Verse von Innokenty Annensky (1990); Laudamus Te, Konzert für Frauen- oder Kinderchor (1998); Nabokov songs, Konzert für Countertenor (Mezzosopran), gemischten Chor und Viola auf Verse von Vladimir Nabokov (2006)

Alle diese Konzerte sind Zyklen mit einer unterschiedlichen Anzahl von Teilen, von vier bis zehn, und einer dramatischen inneren Struktur. Jeder Teil jedes Stückes ist eine Chorminiatur, bei der die dramatische Basis in der Regel aus zwei oder drei unter einander kommunizierenden Linien besteht. Diese Art der Konstruktion ist in allen Kompositionen des Komponisten ähnlich und erschien zuerst in seinen frühen Kompositionen von 1982 – 84. In seinen Werken schafft Smirnov Musik zu russischen Gedichten unterschiedlichster Autoren verschiedener Perioden, von dem Dichter Nekrasov (Mitte des 19. Jahrhunderts) bis zu den Nabukov Songs, Gedichten des bekannten russischen Dichters Vladimir Nabukov aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die wichtigsten Werke verwenden jedoch Gedichte aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, dem „Silbernen Zeitalter“ der russischen Dichtung. Der Komponist bearbeitet Gedichte von Alexander Blok, Marina Tsvetaeva, Innokenty Annensky, Osip Mandelshtam und Anna Akhmatova und bemüht sich, den einzigartigen Stil eines jeden Dichters nachzuschaffen. Folglich ist das Konzert für a cappella Chor in den Werken Smirnows eine Art Spiegel, in dem die einzigartigen Charakteristika seiner musikalischen Sprache und ihre Entwicklung reflektiert werden.

Eines der deutlichsten Kennzeichen der musikalischen Sprache des Komponisten besteht darin, Multidimensionalität als Hauptattribut in die Chormusik zu bringen. Er verweigert die traditionelle Organisation des musikalischen Raumes in Chorkompositionen, die aus zwei Dimensionen besteht – horizontal und vertikal – um ein neues koordiniertes System mit drei Dimensionen zu bilden – horizontal, vertikal und Tiefe.

Indem er der musikalischen Textur Tiefe hinzufügt, will der Komponist die gleichzeitige Erforschung entfernter Regionen erreichen. Er versucht, den Zuhörer mit Klängen von unterschiedlichen Punkten im Raum zu umgeben und deren Einfluss zu erweitern. Durch das Erreichen dieses Ziels schuf Smirnov eine Art von „räumlichen Werkzeug“, das aus drei Typen von Technik besteht: nachhallender Technik, aleatorischer Technik und stereophonischer Technik.

 

1. Nachhallende Technik

Diese Technik basiert auf dem Effekt der nachhallenden Eindringlichkeit des Klangs, ähnlich dem natürlichen Nachhall in der Akustik einer großen Kathedrale oder eines Konzertsaals. Dieser Effekt ist eine der klarsten und erkennbarsten Eigenschaften des Stils des Komponisten. Wir können ihn sogar in seinen frühen Werken erkennen und durch alle seine Schaffensperioden verfolgen.

Die nachhallende Eindringlichkeit des Klangs kann durch die nachhallende Schichtenbildung von Akkorden oder im nachhallenden Nachklang dargestellt sein.

Die nachhallende Schichtenbildung von Akkorden ist der vorübergehende Zwang von melodischen Klängen oder verschiedenen harmonischen Komplexen hin zu einer neuen polytonalen Klangfülle. Die aufeinanderfolgende Schichtung melodischer Klänge führt gelegentlich zu Clustern.

Unter nachhallendem Nachklang versteht man die schnelle Wiederspiegelung einzelner melodischer Klänge mit einem äußerst hohen Klang in den oberen Stimmen, die dem natürlichen Nachhall von Hochfrequenz-Nachklang ähnelt.

 

2. Aleatorische Techniken

Die Verwendung festgelegter Aleatorik in der Chormusik ermöglicht es, innerhalb einer streng geordneten Textur einen Raum natürlicher Variabilität zu schaffen. Aleatorische Techniken in Smirnovs Werk finden sich in der Serialisierung von Rhythmus und Melodie, vereint zu seriellen Komplexen, oft verwendet in Schlussteil von Chorwerken und aleatorischen Schichten. Serielle Komplexe tauchten zuerst in frühen Werken auf (1981 – 83). Sie präsentieren sich als festgelegte serielle melodische Strukturen mit vorgegebenen Zeitintervallen des Beginns. Der Komponist verwendet diese Strukturen häufig am Ende des Stückes als eine Art komplexen Ausklangs.

In Smirnows Werk können aleatorische Schichten ein klassisches Beispiel sein für den Gebrauch aleatorischer Technik in der Vokalmusik, in der die musikalische Form festgelegt, die Textur aber nicht festgelegt ist.

Schichten werden normalerweise gebildet mit schlichten Strukturen wie einem Intervall oder einem kurzen Motiv (4-5 Töne). Rhythmus. Dynamik, Artikulation und Tempo sind nicht festgelegt. Textur, Tonhöhe und Klangfarbe sind immer festgelegt.

Eine flexible Schicht der Textur, ‚Atemraum‘, schafft den Hintergrund der gesamten Komposition. In dieser ‚proto-Materie‘ erscheinen Elemente des zukünftigen Themas.

 

3. Stereophonische Technik

Smirnov verwendet häufig eine stereophonische Technik in der Klangfülle von Doppelchören oder im antiphonalen Gesang zweier Chorhälften. Der stereophonische Effekt kann die Verwendung einer einzelnen Art musikalischen Materials beinhalten, die von zwei verschiedenen voneinander entfernten Klangquellen ausgeht.

Die fortgesetzte Entwicklung einer einzigen musikalischen Phrase durch verschiedene Gruppen von Aufführenden, die abwechselnd eintreten, schafft das Gefühl, dass eine Klangquelle räumlich verändert wird.

Tiefe als Charakteristikum chorischer Textur ist nicht nur ein herausragendes Kennzeichen von Smirnovs Kompositionsstil, sondern sie läutet auch eine neue Richtung in der Entwicklung der Chormusik ein.

Gleichzeitig hat der Begriff ‚Tiefe‘ eine weitere Bedeutung, um eine Chorkomposition zu beschreiben, weit entfernt von der traditionellen, die im Kontext minimalistischer Kompositionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebildet wurde. Der Hauptunterschied liegt im System der Verwandtschaften zwischen Tiefe und Melodie.

In Smirnows Musik ist die Melodie der wichtigste Aspekt. Linien, Umrisse und Schichten können eine erstaunliche Polyphonie des wechselnden, fließenden und endlosen Lebens reproduzieren. So ist es bei der Arbeit mit dem Tiefenaspekt eine zwingende Bedingung, die Linearität aufrecht zu erhalten. Die Synthese zwischen Tiefe und Melodie ermöglicht es, beide zu bereichern. Die Melodie hat dann räumliche Form und die Tiefe erfordert Dynamik. Das wichtigste kompositorische Charakteristikum von Smirnows Methode besteht darin, die Tiefendimension hinzuzufügen ohne die Verbindung mit den Klängen der Melodie zu verlieren.

Es gibt drei Ebenen der Wechselwirkung zwischen Melodie und Tiefe:

  1. Akkordische Melodie
  2. Räumliche Melodie
  3. Räumliche Melodie mit Interaktion der Stimmen

 

1. Akkordische Melodie

In den frühen Werken des Komponisten hat die Melodie eine monophone Struktur, aber in den ersten Konzerten der Mitte-der 80er Jahre beginnt ein neuer Typus Melodie aufzutauchen – monorhythmische akkordische Melodie.

Die monorhythmische akkordische Melodie ist eine Melodie, die auf die Größe einer Texturschicht vergrößert wird, eine Bewegung von Akkorden, die eine melodische Linie wiederholt und ihr eine räumliche Form gibt.

 

2. Räumliche Melodie

Räumliche Melodie ist eine polyphone Hauptschicht der Textur, linear organisiert. Sie besteht aus streng geordnetem thematischen Material und abgeleiteten musikalischen Strukturen, die eine tonale Identität mit dem thematischen Material teilen.

Dieser Typus Melodie taucht zuerst in den Werken der später 1980er Jahre auf.

 

3. Räumliche Melodie mit Interaktion der Stimmen

Die räumliche Melodie mit Interaktion der Stimmen ist die komplizierteste Form der chorischen Textur.

In dieser Texturschicht sind die Nebenstimmen außerordentlich gut entwickelt, sowohl melodisch als auch rhythmisch. Daher fangen sie an, mit dem thematischen Material zu konkurrieren und scheinen zu versuchen, seine Ganzheit zu zerstören.

Smirnov ist unter den modernen russischen Komponisten einzigartig. Die Beschäftigung mit seinen Chorwerken bietet die Gelegenheit, die Tiefe und Schönheit seiner musikalischen Sprache zu verstehen und die Entwicklung der modernen russischen Chorkunst zu beobachten.

 

Biographie des Komponisten

Dmitry Smirnov wurde 1952 in Leningrad geboren. Er schloss 1975 sein Chorleiterstudium bei A.V. Mikhailov und 1978 sein Studium des Opern- und Orchesterdirigierens bei Edouard Grikurov am Leningrader Konservatorium ab. Sein Aufbaustudium schloss er 1980 ab. Zur gleichen Zeit begann er an der Fakultät für Chorleitung der Rimsky-Korsakov Musikschule in St. Petersburg und später am Konservatorium zu arbeiten. Mehr als 15 Jahre lang war Smirnov der Chefdirigent des Frauenchors der Rimsky-Korsakov Musikschule, benannt nach Nikolai Rimsky-Korsakov. 1987 wurde er Mitglied des St. Petersburger Komponistenverbands. Smirnov wurde von den gefeierten Komponisten Valery Gavrilin, Sergei Banevich und Alexander Knajfel für den Beitritt vorgeschlagen. Seit den 1980er Jahren sind die Werke Smirnovs Teil des Konzertrepertoires vieler russischer und ausländischer Komponisten geworden. Seine Musik ist beliebt und gut bekannt bei berühmten Chören wie dem Lege Artis Kammerchor (geleitet von Boris Abalyan), dem St Petersburg Kammerchor (geleitet von Nikolai Kornev), dem Chor des St. Petersburger Staatskonservatoriums (geleitet von Valery Uspensky), dem St. Petersburg State Capella Chor (geleitet von Vladislav Chernushenko), dem Chor des Moskauer Staatskonservatoriums, dem Frauenchor der Rimsky-Korsakov Musikschule in St. Petersburg (geleitet von Sergei Ekimov) und dem St. Petersburger Rundfunkkinderchor (geleitet von Stanislav Gribkov). Auch Chöre aus Spanien, England, Schweden Ungarn, Deutschland und der Tschechischen Republik führen seine Werke auf.

Smirnov ist nicht nur Chorkomponist. Er hat auch Schauspielmusiken, Instrumental- und Vokalmusik geschrieben und für den Film komponiert. 1985 – 87 schrieb er die Oper Yerma, basiert auf dem Drama von Federico Garcia Lorca. 1990 schrieb er zusammen mit dem Komponisten Sergei Banevich die Kammeroper „The Little Match Girl“, die einen ersten Preis beim internationalen Wettbewerb für Kinderoper gewann und 1993 im polnischen Lodz aufgeführt wurde. Im gleichen Jahr gewann er mit zwei Chorwerken, Avaiur und Lo Harc ainguria, einen Kompositionswettbewerb in Tolosa, Spanien.

Während der 90er Jahre näherte der Komponist sich sakraler Musik unterschiedlicher Epochen und Religionen. 1993 schrieb er Prayers auf den Text der russischen orthodoxen Liturgie und Vespern, und 1998 schrieb er ein Konzert für Frauenchor, Tebe poem (Laudamus Te). Anfang der 2000er schrieb er zwei Hauptwerke Litaniae Lauretanae und Doleful Blisses of the Virgin. Sie sind beide inspiriert vom Bild der Heiligen Jungfrau Maria. Litaniae Lauretanae wurde 2000 geschrieben auf den Text eines katholischen Gebetes an die Jungfrau, das zuerst in Loreto, Italien erwähnt wurde. Dies ist ein Werk für gemischten Chor a cappella und Countertenor. Das Chorfresko Doleful Blisses of the Virgin wurde 2001 geschrieben. Diese monumentale Komposition beruht auf apokryphische russische christliche Gedichte, die Teil des russischen spirituellen Erbes sind. Frescos wurde für solistische Frauenstimme, Sopransaxophon und gemischten Chor geschrieben. Während der gesamten Aufführung sind die Stimme und das Saxophon miteinander im Dialog, und der Chor singt in einem Stil ähnlich dem Strochnoi Gesang, dem linearen Hymnus-Gesang der mittelalterlichen russischen orthodoxen Kirche.

 

Alexandra Makarova ist eine junge Chorleiterin aus St. Petersburg, Russland. In den letzten fünf Jahren hat sie mit mehreren Chören in Russland und im Ausland gearbeitet und an verschiedenen Wettbewerben teilgenommen. Seit 2007 ist sie Chefdirigentin des Festino Kammerchors, und in 2013 gründete sie den Kammerchor der staatlichen Fachhochschule von St. Petersburg. Zur Zeit arbeitet Alexandra an dem Diplomabschluss ihres Aufbaustudiums am staatlichen Konservatorium von St. Petersburg. Hauptgegenstand ihrer Forschungen ist die Chorkunst des modernen St. Petersburger Komponisten Dmitry Smirnov in Hinblick auf die typischen Charakteristika seiner Kompositionen und die Entwicklung seines Stils. E-mail: makarena-@mail.ru

 

Überarbeitet von Laura Massey, Vereinigtes Königreich

Übersetzt aus dem Englischen von Lore Auerbach, Deutschland