Don’t save your breath! Sing [Nicht die Luft anhalten! Singen]
Niels Graesholm, Dänemark
Dänische Chorleitervereinigung
Die Dänische Chorleitervereinigung hat seit einiger Zeit ihr Augenmerk auf gesundheitliche Aspekte des Singens gelegt und auf die möglichen Auswirkungen und Verantwortlichkeiten der Chorleiter und Stimmbildner in Bezug auf das Wohlergehen, nicht nur in unserer täglichen musikalischen Praxis im Umgang mit Laien oder professionellen Oktober 2020 behandelten wir eine Reihe wichtiger und interessanter Punkte:
- aus neurologische Sicht: was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir singen? Vergleiche zwischen der Hirnaktivität bei professionellen Musikern während der Ausführung und der Hirnaktivität ‚normaler‘ Menschen während des Singens oder des Musikhörens.
- kommunales und kollektives Singen als Teil unserer dänischen nationalen Erbes: Die Erfolgsstory des blauen Liederbuches, das 1,4 Millionen Mal verkauft wurde und das Herzstück des Repertoires bildet, das während der Pandemie gemeinsam auf Abstand zu Hause und im Fernsehen gesungen wurde.
Das Seminar fand während der Pandemie statt, und natürlich hielten sich alle an die strengen und wichtigen Einschränkungen. An diesem Oktoberwochenende lasen wir in den Zeitungen Artikel von COVID-19-Fällen, die sich bei Chorproben und Konzerten verbreiten. Ein Workshop erwies sich als interessanter und wichtiger als erwartet, da er einen Hinweis geben könnte, wie man mit den Spätfolgen von COVID-19 umgehen kann: Die Sängerin und Dirigentin Anne-Mette Strandgaard gab einen Workshop über ihre praktische Arbeit mit Patienten, die an verschiedenen Lungenerkrankungen leiden. Dieser Artikel fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrem Workshop, der anschließenden Korrespondenz und einem Interview mit Anne-Mette zusammen.
Anne-Mette hat einen Abschluss in Gesang und Chorleitung von der Royal Academy of Music in Aalborg, Dänemark. Ihre Hauptarbeit befasste sich mit der Arbeit mit Lungenpatienten und legte damit den Grundstein für die Entwicklung von Methoden, um das Leben dieser Patienten durch Singen zu verbessern. Seit 2014 hat sie mit mehreren Patientengruppen und mit Ärzten zusammengearbeitet, um die Auswirkungen ihrer Arbeit zu überwachen. Derzeit arbeitet sie an einem Buch zu diesem Thema, das sich an Patienten mit Lungenerkrankungen sowie an Gesangslehrer und Chorleiter richtet.
Lungenpatienten können an einer Reihe von Krankheiten leiden – einige der wichtigsten sind:
- Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), eine chronisch entzündliche Lungenerkrankung, die einen unterbrochenen Luftstrom aus der Lunge verursacht.
- Chronische Bronchitis: Eine Entzündung und Reizung der Bronchien, die zur Bildung von Schleim führt.
- Emphysem: Eine Lungenerkrankung, bei der die Innenwände der Luftsäcke in der Lunge schwächer werden und reißen, wodurch größere Lufträume anstelle vieler kleiner entstehen und somit Atemnot verursacht wird.
- Mukoviszidose: Eine Erbkrankheit, bei der Schleim in der Lunge entsteht, der viel dicker und klebriger als gewöhnlich ist.
- Asthma: Eine entzündliche Erkrankung der Atemwege der Lunge, die Keuchen, Husten und Atemnot verursacht.
Der Hauptzweck von Anne-Mettes Unterricht ist natürlich die Verbesserung der Lungenfunktion für diese Patientengruppe. Sie muss sich aber auch mit den psychologischen Aspekten von Atemproblemen – Angst, Scham und Schuld – und einer Reihe von körperlichen Problemen befassen, die die Folgen einer Lungenerkrankung sind.
Als Chorleiter und Gesangslehrer sind wir es meistens gewohnt, mit Menschen zu arbeiten, die motiviert sind zu singen und Musik zu machen – fast immer mit dem Ziel der musikalischen Darbietung. Aber wenn wir mit Patienten arbeiten, die an Lungenerkrankungen leiden, betritt eine andere Gruppe von Menschen unser Feld – selten hatten sie zuvor die Neigung zu singen oder Musik zu machen, und der Grund für ihr Erscheinen ist nicht die Musik, sondern der tiefe Wunsch, wieder besser leben zu können oder sogar zu überleben. Und sie werden auftauchen und sagen: “Ich kann nicht singen, aber ich habe gehört, dass es hilft.” Einige lehnen es vielleicht ab zu singen, weil ihnen einmal gesagt wurde, dass sie unmusikalisch sind und die Musik für alle anderen ruinieren – oder sie mussten einfach während des Musikunterrichts ohne jegliche Erklärung im hinteren Teil des Klassenzimmers sitzen. In den letzten Jahren wurden die psychischen Konsequenzen dieser Art von Erfahrung als Sing-Verlegenheit oder Sing-Scham bezeichnet.
Die Angst, die manche Lungenpatienten verspüren, ist wahrscheinlich jedem bekannt, der etwas zu tief geschnorchelt und getaucht hat – und für kurze Zeit befürchtet hat, dass er nicht rechtzeitig an die Oberfläche gelangt. Für Lungenpatienten kann dieses Gefühl dauerhaft sein: Werden sie genug Sauerstoff bekommen und wie wenig müssen sie sich bewegen, um den Sauerstoff zu sparen, den sie haben? Eine Angst, die bis zur Todesangst gehen kann.
Darüber hinaus haben einige COPD-Patienten mit massiven Schuldgefühlen zu kämpfen, da COPD fast immer eine Folge des jahrelangen starken Rauchens ist.
Unter diesen Umständen muss das erste Ziel darin bestehen, dass sich alle in der Gesellschaft von Schicksalsgenossen sicher und willkommen fühlen. Die Sing-Scham kann durch das Verständnis verschwinden, dass jeder aus demselben Grund dabei ist – um eine gute Zeit zu haben und sich der Herausforderung des Atmens zu stellen. Bei manchen dauert es eine Weile, bis sie ihre Verlegenheit überwinden und es gelingt, wenn sie allmählich den Fokus weg von der Qualität der Musik und des Stimmklangs hin zum Bewusstsein richten, die Atemmuskulatur besser kontrollieren zu können.
Die Sänger müssen lernen, die am Atmen beteiligten Muskeln zu kontrollieren und sich beim tiefen Atmen sicher zu fühlen. Sie neigen dazu, oberflächlich zu atmen, kleine und kurze Atemzüge, die nur den oberen Teil der Brust betreffen, eine Art Notatmung, die hauptsächlich von den Muskeln im Rücken ausgeht – anstatt das Zwerchfell zu verwenden, um die Lunge zu vergrößern und den Atem zu kontrollieren. Bei den meisten Lungenpatienten sind die Bronchien und/oder die Luftwege durch Schleim verstopft, und ein Gesangslehrer oder Therapeut muss Übungen zur Schleimentfernung entwickeln, die den Luftdurchgang frei machen, um überhaupt mit dem Singen beginnen zu können.
Eine der Möglichkeiten ist die Verwendung eines PEP-Geräts – PEP für positiven exspiratorischen Druck – das häufig in der Atemwegstherapie (ACT) verwendet wird. Dieses Gerät hilft der Luft, hinter den Schleim zu gelangen, den Schleim von den Lungen- und Atemwegswänden zu entfernen und die Atemwege länger offen zu halten.
Anne-Mette verwendet eine Übung namens „Der Skipper“, die eigentlich aus dem gewöhnlichen Repertoire an Übungen für Sänger stammt. Es hat sich herausgestellt, dass es sich positiv auf Lungenpatienten auswirkt, Widerstand und Druck von unten auf den Schleim zu erzeugen, um ihn zu lockern, damit der Sänger den Schleim abhusten kann:
Setze dich sich leicht nach vorne gebeugt auf einen Stuhl, lege die Hände auf die Knie und lass die Ellbogen nach außen zeigen. Atme durch einen imaginären Strohhalm ein und spüre die Spannung im Zwerchfell. Denke dir den Strohhalm weg, drücke die Lippen zusammen und atme durch die angespannten Lippen aus, als ob du in eine Trompete blasen würdest. Halte die Spannung so lange wie möglich.
Leider gehen Kurzatmigkeit und Hyperinflation oft mit massiven körperlichen Spannungen einher – im Rücken, in den Zwischenrippenmuskeln, im Nacken, im Hals und im Gesicht -, die behandelt werden müssen, um Körper und Stimme zum Singen zu befreien. Anne-Mette verwendet viel Zeit auf Entspannungsübungen, und sie zeigt die Verwendung von Massagebällen für das Selbsttraining zu Hause.
Die Kontrolle des Atems durch Timing ist unerlässlich! Das wird trainiert durch kurze Übungen und Lieder – hauptsächlich Kinderlieder und Lieder, mit denen jeder vertraut ist – mit dem Fokus auf der Atemtechnik. Das Singen eines vertrauten Repertoires ist der Schlüssel, um sich in einem unbekannten Bereich wohl zu fühlen.
Anne-Mette macht die Patienten mit der “Gähn-Einatmung” bekannt – einem langen Einatmen wie beim Gähnen – und mit der “Schreck-Einatmung” – einem schnellen und kurzen Atemzug, wie wenn man erschrocken ist. Es geht darum, die Ausatmung durch Singen zu verlängern, um die Lunge so weit wie möglich zu entleeren und so eine tiefe Inhalation als Reflex zu erreichen – kurz oder lang. Und die Patienten spüren zu lassen, dass ihr Körper ihnen zu Hilfe kommt, wenn sie Sauerstoff benötigen.
Beispiel 1: Let it be – The Beatles
Nicht atmen: _
Gähn-Einatmung: *
Schreck-Einatmung: ¤
When I find myself in times of trouble, Mother Mary comes to me _
Speaking words of wisdom, let it be*
And in my hour of darkness she is standing right in front of me _
Speaking words of wisdom, let it be*Let it be, let it be, let it be, let it be ¤
Whisper words of wisdom, let it be ¤Let it be, let it be, let it be, let it be ¤
Whisper words of wisdom, let it be ¤
Lungenkapazität und -funktion werden häufig als forciertes exspiratorisches Volumen (FEV) und forcierte Vitalkapazität (FVC) während eines Atemtests gemessen, der als Spirometrie bezeichnet wird. Das FEV misst, wie viel Luft eine Person während eines erzwungenen Atems ausatmen kann. Die ausgeatmete Luftmenge kann während der ersten (FEV1), zweiten (FEV2) und / oder dritten Sekunde (FEV3) des erzwungenen Atems gemessen werden. Die forcierte Vitalkapazität (FVC) ist die Gesamtmenge an Luft, die Sie nach dem Einatmen so tief wie möglich ausatmen können.
Für Anne-Mette waren die Anerkennung und die positiven Reaktionen der Teilnehmer am wichtigsten. Die Tatsache, dass ein Chefarzt und ein Lungenspezialist die Patienten immer wieder zu ihr geschickt haben, stärkt das Vertrauen. Die Ergebnisse des ersten Semesters – Herbst 2013 und Frühjahr 2014 – haben gezeigt, dass sich die FEV1-Ergebnisse erheblich verbessert haben. Ein an COPD leidender Sänger hat den FEV1 von 52% auf 67% erhöht.
Anne-Mette und ihre Gruppe von Sängern haben etliche Konzerte gegeben und nach und nach fühlen sich fast alle wohl, auch außerhalb des Proberaums zu singen: auf vielen kleineren Veranstaltungen, aber auch auf einer großen Gesundheitskonferenz und auf der Ausstellung für das Krankenhaus der Zukunft im Utzon Center in Aalborg.
Derzeit sind alle nicht professionellen Choraktivitäten in Dänemark wegen der Pandemie untersagt – auch Anne-Mettes Singen mit Lungenpatienten – und dies belastet nicht nur diese Personengruppe, sondern die gesamte dänische Chorgemeinschaft. Inmitten all dessen lernen wir, wie wichtig aktiver Chorgesang ist – nicht nur als schöner Zeitvertreib, sondern auch für das Wohl Tausender Menschen, sozial, geistig, körperlich und musikalisch. Bei Lungenpatienten kann man wahrscheinlich noch ‚lebensrettend‘ hinzufügen. Wir lernen immer noch über die Spätfolgen von COVID-19, aber es ist möglich, dass diese Übungen und Aktivitäten auch bei diesen Patienten zu einer gesundheitlichen Besserung beitragen.
Im Herbst 2021 wird die dänische Vereinigung der Chorleiter das Thema Gesang und Gesundheit mit Workshops zu den Auswirkungen des Singens auf die Parkinson-Krankheit weiterverfolgen – ein neues Projekt, das von der dänischen Parkinson-Vereinigung initiiert wurde. In diesem Zusammenhang liegt der Schwerpunkt weiterhin auf der Atmung und dem Wohlbefinden, jedoch auch auf den Auswirkungen auf die Sprache für diese Patientengruppe.
Übersetzt aus dem Englischen von Heide Bertram, Deutschland