Duruflè und seine geistliche Chormusik: Das Requiem, Op. 9

Von Francesco Barbuto, Chorleiter und Komponist

Das Requiem (Totenmesse) seit dem 11. Jahrhundert ist eines der wichtigsten Teile der katholischen Liturgie.
In der Requiem-Messe werden einige Teile des Ordinariums (Gloria und Credo) herausgenommen und dafür werden andere spezifische Teile wie der Introitus, Dies Irae, Lux Aeterna, Libera me und Domine Deus hinzugefügt.

Das Wort „Requiem“ stammt aus dem ersten Vers des Introitus: „Requiem aeternam dona eis, Domine“ (Herr, gib ihnen die ewige Ruhe).

Zu allen Zeiten haben Komponisten sich darin geübt, ein Requiem zu schreiben, welches aus den thematischen Quellen der originalen gregorianischen Melodien schöpft; darunter sind Dufay, Ockhegem, La Rue, Vittoria, Mozart, Berlioz, Verdi, Liszt, Brahms, Britten, Ligheti. Selbst Duruflé greift „getreu“ zurück auf den gregorianischen Gesang im 6. Modus, hypolydisch, so wie es die Benediktinermönche von Solesmes benutzen und begibt sich damit in die Fußstapfen des Kompositionsstiles von Gabriel Fauré, der mit der Tradition eines hochdramatischen Requiems brach:

„Er komponierte sein Requiem in D-moll, Op. 48 zwischen 1870 und 1890 und bietet darin einen beruhigenden Blick auf den Tod, gerade so, als ob er eher eine Reise zu einem Ort des Friedens und der Ruhe antreten wolle als zu einem Schreckensort. Kritikern antwortete Fauré: „Man sagt, dass mein Requiem nicht dazu geeignet ist, die Vorstellung der Schrecken des Todes zu vermitteln…. aber das ist genau das, was ich mir vorstelle: Eher ein Sich-überlassen, erfüllt von Frieden und dem Wunsch nach ewiger Freude im Leben nach dem Tod.“

Duruflé, in wahrer Verehrung für den großen Meister, folgt ebenfalls dieser Auffassung, die eine neue, typisch französische Tradition begründen wird. Nicht zufällig vertont keiner der beiden das „Dies irae“, den Teil der Totenmesse, der aufgrund des Textes und seiner Stellung im allgemeinen als der dramatischste angesehen wird.

Sein Requiem, Op. 9 (dem Vater zur Erinnerung gewidmet) existiert in drei Versionen: für Chor, Orgel und Orchester, Chor und Orgel, Chor, Orgel und Streichquintett mit der optionalen Zusatzbesetzung von Trompeten, Harfe und Pauken. Es ist das bei weitem komplexeste und längste Werk seiner gesamten beruflichen Laufbahn. Es scheint, dass Duruflé schon an einer Suite mit Stücken für die Verstorbenen arbeitete, als er von seinem französischen Herausgeber Durand gebeten wurde, ein neues Requiem zu schreiben.

Duruflé nahm das Angebot an und verwirklichte darin seine schon vorhandene Idee, die alte Welt und ihre gregorianische Melodien – übrigens im Einklang mit den Empfehlungen von Papst Pius X. in „Motu proprio“ von 1903 (ebenso bei seinen späteren Vier Motetten über gregorianische Themen für Chor a cappella, Op.10) – mit einem modernen harmonischen Satz und einer für das 20. Jahrhundert typischen Orchestrierung zu kombinieren. Seine neomodalen Wendungen gehen besonders auf die Musik von Ravel und Debussy zurück. In der Tat bezeichnete er Debussys Orchesterwerk Prélude à l’après midi d’un faune als „anbetungswürdiges“ Meisterwerk.

In einer direkten Aussage zu seinem Requiem sagt der Komponist:

„Mein Requiem basiert komplett auf den gregorianischen Themen der Totenmesse. Manchmal ist der Text das wichtigste, und dann ist das Orchester nur dazu da, die Bedeutung der Worte zu unterstützen oder zu kommentieren. Ein anderes Mal rückt die musikalische Kulisse, durch den Text inspiriert, in den Mittelpunkt.“

Die gregorianischen Gesänge, modale Melodien, ein Kompositionsstil, der reich an Kontrapunkt und modernen Harmonien ist, Originalität, Kraft, Ästhetik und besondere Schönheit geben den Interpreten die Möglichkeit zu einer sehr empfindsamen musikalischen Interpretation und rhythmischen Freiheit, die einen natürlichen und äußerst sanften Fluss von Text und Musik ergibt.

Wie schon zuvor erwähnt, folgt Duruflé einem von Fauré angestoßenen ästhetischen Stil mit einer intimen und zurückhaltenden Orchestrierung. Auch im forte oder fortissimo bleibt eine musikalische Qualität sowohl polyphon als auch harmonisch erhalten, die von bestem Geschmack und Raffinesse zeugt.

Das Requiem besteht aus neun Sätzen, jeder mit einer dreiteiligen Struktur: Inroitus, Kyrie, Domine Jesu Christe, Sanctus, Pie Jesu, Agnus Dei, Lux Aeterna, Libera me und In Paradisum.

Wie Fauré lässt auch Duruflé das  Domine Jesu Christe und das Libera me von einem Bariton singen und das Pie Jesu von einem Mezzosopran.

Obschon beide ihr Requiem in D-moll geschrieben haben, ist Duruflés Version in der Tonalität weiter gefasst und ist modaler und moderner.

Die erste Version für Chor, Orgel und Orchester ist von 1947 und es heißt, dass dieses des Komponisten Lieblingsversion sei. 1948 schrieb er die zweite Version für Chor und Orgel, in der Absicht, dadurch das Werk auch für Kirchenchöre benutzbar zu machen. Im gleichen Jahr schrieb er auch die dritte Version für Chor, Streicher, Orgel und die optionalen Teile für Harfe, Trompete und Pauken.

 

Musikalische Analyse:

(für illustrative Zwecke konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit hier auf die Version für Chor und Orgel – Introitus und Kyrie – weil wir glauben, damit den regionalen Laienchören am meisten nützen zu können.)

Introitus 

Die Struktur dieses Satzes ist die typische, dreiteilige A-B-A Form.

Der erste Akkord ist D-moll 7. Das bezeugt, dass die Harmonie von Anfang an mehrdeutig ist. Wir können diesen Anfang in einem „modalen“ Rahmenwerk sehen. Die Begleitung ergeht sich in Arabesken, die in Wahrheit die siebte Stufe der Tonika mit Nachbartönen und Durchgangstönen auf B und G auflösen.

Die tonale Mehrdeutigkeit, der wir direkt am Anfang begegnen, ist auch darauf zurück zu führen, dass der Einsatz der Männerstimmen genau die gregorianische Melodie auf F (6. Stufe, hypolydisch) wiederholt. Für den Zuhörer erzeugt das ein Empfinden von melodisch/harmonischer Progression, die zwischen D und F pendelt.

Diese Fortschreitung findet sich auch im lang ausgebreiteten Finale dieses Satzes wieder, der tatsächlich in F-Dur endet und ebenso treu dem Finalis der Gregorianischen Melodie folgt.

Takt 56 – Ende des Satzes:

Die komplexe harmonische Struktur bewegt sich durch den dorischen (D), aeolischen (A), phrygischen (E) und mixolydischen (G) Modus, um endlich mit Lydisch (F) abzuschließen.

Bezüglich Metrum und Rhythmus hält sich Duruflé eng an den geschmeidigen Fluss des Textes, indem er frei zwischen zwei- und dreischlägigen Takten wechselt, einfache und zusammengesetzte Zeiten und unregelmäßige Formen wählt. Hinsichtlich der Aufführung ist es daher wichtig, auf die natürliche Betonung des liturgischen Textes zu achten und der Aufführungspraxis des gregorianischen Gesanges zu folgen. Aufpassen sollte man z. B. gleich zu Beginn in Takt 2, wenn die Männerstimmen auf Schlag 2 mit dem Wort Requiem einsetzen. Das darf man nicht als Auftakt interpretieren, denn sonst könnte man in die Falle stürzen, die letzte Silbe des Wortes Requiem (-em) zu betonen, was die melodische und prosodische Phrasierung zerstören würde. Die korrekte Betonung des Wortes liegt auf der ersten Silbe (Re-).

Der zweite Abschnitt (ab Takt 24) beginnt in A-moll und damit im aeolischen Modus. Die Kadenz Vm – I bestätigt das am Ende der Phrase, ohne den Leitton Gis zu benutzen.

Duruflé ändert nicht die Tonartenvorzeichnungen, vielleicht um daran zu erinnern, dass die komplexe tonale Struktur immer noch in D (-moll) und F (-Dur) beheimatet ist. Egal, ob es in den Noten zu lesen oder zu hören ist, das Rezitativ, dieses Mal in der Hand des Soprans, wechselt systematisch zwischen den Grundakkorden auf A und C, während es das originale gregorianische melodische Profil beinhaltet, aber gleichzeitig eine Terz darübersetzt und so von Lydisch (F) zu Aeolisch (A) kommt.

Duruflé führt ein neues Element mit den Triolen ein. Zusammen mit der metrischen Variation entsteht so eine sehr interessante und dynamische Phrasierung, obschon die Melodie hauptsächlich sich auf C und A konzentriert, nur mit dem Durchgangston H.

Am Ende dieses Satzes taucht das Originalthema wieder auf, aber Duruflé findet einen neuen Weg, die Reprise aufzuzeigen. Es ist eine ganz simple Variation, die es ermöglicht, ein neues Element zu hören und gleichzeitig den Anfang unverändert wieder aufzugreifen: Er gibt der Orgel das gregorianische Thema (das weiterhin von den Arabesken und Pedaltönen wie zu Beginn begleitet wird) und lässt den Text Requiem aeternam dona eis Domine unisono von Männer- und Frauenstimmen auf den repetierten Tönen C, D, C und A singen. Auf diese Weise tritt die Orgel mit dem Chor in einen Dialog, als ob sie ein zweiter Chor wäre.

Das ist auch ein Beispiel dafür, was Duruflé selbst sagte, nämlich dass „das Orchester (in unserem Fall die Orgel) nur dazu da ist, die Bedeutung der Worte zu unterstützen oder zu kommentieren“.

Diese Verschränkung bedeutet, dass der Zuhörer einerseits an den Text und die originale gregorianische Melodie durch die Instrumentierung erinnert wird, er andererseits den Chor (der gerade noch mit dem Rezitativ im zweiten Teil geendet hatte) hören kann und beides eine perfekte polyphone und strukturelle Verbindung eingeht.

 

Kyrie

Die Struktur dieses Satzes ist praktisch identisch mit der vorhergehenden: die dreiteilige A-B-A Form.

Duruflé verbindet den ersten Satz mit dem zweiten durch die Anweisung Enchaînez (ohne Unterbrechung fortfahren) und betont damit die Kontinuität zwischen den beiden Stücken; in der Tat beginnt der Satz unmittelbar.

Diesmal werden Rhythmus und Tonalität von Anfang bis Ende beibehalten: ¾ und F-Dur. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass die komplexe polyphone Struktur ausschließlich der inneren Entwicklung von Chor und Orgel, welche direkt mit den Stimmen mitspielt, vorbehalten bleibt. Chor und Orgel verschmelzen zu einer Einheit.

Duruflé beginnt mit den Bässen, die die gregorianische Melodie des Incipit auf dem Wort Kyrie aufnehmen, danach beginnt er mit der Entwicklung seines komplexen Kontrapunktes.

Während Sopran und Alt weiter in die Exposition gehen, kommt die Orgel noch als fünfte Stimme dazu. Noch einmal wird das Incipit der gregorianischen Melodie (in der Oktave gedoppelt) auf dem Word Kyrie benutzt, aber diesmal als eine Art Cantus firmus. Dies hat unbestreitbar zum Ziel, die originale gregorianische Melodie zu verstärken.

 

Takte 10 – 16:

Hier findet Duruflé einen klugen Weg, seine polyphone und kontrapunktische Phantasie zu entwickeln und gleichzeitig fest in der Wahl seiner Originalquelle verankert zu bleiben.

Die Kombinationen von Harmonien, die durch die lebhaften Bewegungen der Stimmen entstehen, bringen allerhand ‘Dissonanzen’ hervor, die sich dennoch immer ‘natürlich’ und passend in die polyphone Struktur einfügen.

Im zweiten Teil entscheidet Duruflé, mit den Worten Christe eleison eine neue Melodie zu komponieren. Sein Startpunkt ist die melodische Linie des Wortes eleison, welche er dann sehr frei weiterentwickelt.

Wie im ersten Satz, wechselt er auch hier wieder in A-moll (was den aeolischen Modus erneut aufruft) nur mit den Frauenstimmen, die einander imitieren. Die Reprise verzahnt den mächtigen fortissimo Einsatz der Bässe auf dem Wort Kyrie mit dem letzten Takt der Frauenstimmen auf dem Wort Christe.

Der letzte Teil beginnt mit einer Imitation auf der Quarte (Tenor), auf der Quinte (Alt) und noch einmal auf der Quarte (Sopran) in einem auskomponierten Crescendo, das zum Höhepunkt des Satzes in Takt 58 leitet, bei dem der Sopran mit dem betonten As schließt.

In diesem Teil werden die F-Dur Harmonien gelegentlich durch das Auftauchen von E-moll eingefärbt, welches den Eindruck einer Bewegung in Richtung B-moll hervorruft, ohne jedoch jemals tatsächlich dorthin zu modulieren.

Komponisten benutzen oft auch gerne die verminderte Sept, um das Auftauchen eines Leittones möglichst zu vermeiden, das dem Hörer unweigerlich einen eher klassischen Höreindruck geben würde.

Nun, da der Höhepunkt einmal erreicht ist, geschieht wie im ersten Satz ein langsames Auflösen der vokalen und instrumentalen Struktur, welche wiederum in einem langen Pedalton auf der Tonika endet – der Chor endet auf einem vollständigen F-Dur Akkord, der wieder, wie im ersten Satz, die Bedeutung des Finalis, des Schlusstones der gregorianischen Melodie hat. Dies wird unter Umgehung der klassischen Kadenz V – I sehr klug mit einer absteigenden melodischen Linie im Bass erreicht. Sogar in den letzten beiden Takten, auf der Kadenz V – I, vermeidet Duruflé den Einsatz eines Leittones und gibt den Tönen, die er wählt, eher einen modulatorischen als einen befestigenden Charakter.

 

Vorschläge zur Aufführung

Obschon das ganze Requiem mit dynamischen Zeichen von ppp bis ff versehen ist, ist es doch  wichtig, bei einer Aufführung und Interpretation die Zartheit und Raffinesse als das Wichtigste anzusehen. Die kontrapunktische Schreibweise führt uns zu einem Stil des Singens (mit Stimmen, die stets gut gestützt und biegsam sein sollen, ohne zu lyrisch zu sein) und Spielens, der fließend und weich ist.

Ein zu lautes Singen in den forte Passagen und zu viel Falsett in den piano und pianissimo Passagen würde zu schwer und statisch wirken und damit die Vermittlung des komplexen polyphonen und strukturellen Aufbaus von Duruflés Komposition verfehlen.

Vom Gesichstpunkt der Prosodie aus gesehen, empfiehlt Duruflé, der ja das Vorbild des gregorianischen Gesanges der Benediktinermönche in Solesmes nennt, gemäß der natürlichen Textbetonung zu singen. Diese Herangehensweise ermöglicht einen reibungslosen Textverlauf, erleichtert die Phrasierung und erlaubt eine bessere Artikulation und Deutlichkeit der gesprochenen Worte. Die Instrumentalbegleitung unterstützt diese Art durch die häufige Benutzung von Arpeggien und Arabesken, die den Gesang ermuntern, einfach synchron dem Fluss dieser musikalischen Figuren zu folgen.

Hinsichtlich der Stimmen ist es wichtig, die einzelnen Abteilungen zu einem perfekten Unisono zu führen und nach einem möglichst homogenen Stimmklang zu streben, um zu vermeiden, dass individuelle Timbres, die zu stark voneinander abweichen, eine Art von ‘Beat’ erzeugen (z.B. durch unterschiedliche Schwingungen auf demselben Ton), was dazu führen kann, dass die Intonation des gesamten Chores darunter leidet. Das ist umso wichtiger in polyphonen und harmonischen Passagen, die viele Dissonanzen aufweisen.

Wir schließen diesen Artikel über das Requiem, Op. 9, mit einem interessanten Zeugnis von Duruflé selbst, aus einem Brief, den er an den walisischen Organisten und Chordirektor des St. John’s College, Direktor George Guest schrieb, der viele Aufnahmen in den 1970ern gemacht hat, einschließlich dieses Werkes:

 

Paris, 3. April 1978

Sehr geehrter Herr,

Die Leitung von Decca Records hat mir freundlicherweise Ihre Adresse gegeben. Es ist mir eine große Freude, Ihnen meinen aufrichtigen Dank und Gratulation zu Ihrer hervorragenden Aufnahme zu senden, die Sie von meinem Requiem gemacht haben.
Ich bin begeistert von der Qualität Ihrer Aufführung, von der Interpretation und dem Gesamtklang.

Falls Sie noch einmal Gelegenheit haben sollten, mein Requiem in Zukunft zu dirigieren, möchte ich sagen, dass ich es vorziehen würde, wenn die Baritonsolostellen von allen Bässen und zweiten Tenören gesungen würde. Es war ein Fehler von mir, diese wenigen Takte einem Solisten zu geben.

Noch einmal meinen herzlichsten Dank, etc. etc.

Duruflé

6 Place du Panthéon

75005 Paris

 

Übersetzung ins Englische Laura Massey, UK

Übersetzt aus dem Englischen von Heide Bertram, Deutschland