Frank Martins Messe für Doppelchor

Michel Khalifa, Musikwissenschaftler, Frankreich/Niederlande

Die beliebte Messe für Doppelchor fristete an die vierzig Jahre ihr Dasein in einer Schublade.  Warum behielt Frank Martin dies Werk so lang für sich?  Dinge, die er im Lauf der Jahre sagte, geben uns einige Andeutungen und werfen Licht auf die Tatsache, dass seine Einstellung in Bezug auf Kirchenmusik sich änderte.  Seine Vertonung der Messe ist eine Feier der kompositorischen Freiheit.

Wenn Frank Martin es allein hätte entscheiden können, so hätte seine Messe für Doppelchor nie die breite Öffentlichkeit erreicht.  Jahrzehntelang betrachtete er diese Komposition, die auf 1920-1926 zurückgeht, als eine private Angelegenheit oder, genauer gesagt, als etwas, das nur Gott und ihn anging, was wenigstens zum Teil erklärt, warum er sich überhaupt nicht darum bemühte, dass sie aufgeführt wurde.  Zur Premiere kam es erst 1963, nachdem ein Chorleiter aus Hamburg eine Kopie des Manuskriptes erbeten hatte – “zu Studienzwecken”.  Diese Person, Franz Brunnert, führte das Stück prompt mit seinem Bugenhagenchor auf, und andere folgten: nachdem es 1970 vom NCRV Vokalensemble (einem niederländischen Radiochor in Hilversum, in der Nähe von Martins Wohnort in Naarden) gesungen worden war, stimmte der Komponist schließlich der Veröffentlichung zu. 

“Instinktive Bescheidenheit”

Die Existenz des Manuskriptes war lange bekannt gewesen.  Der Komponist bezog sich 1946 in einem Vortrag in Basel auf die Messe für Doppelchor, wobei er auch ein anderes frühes und ebenso geheim gehaltenes Werk auf einen religiösen Text erwähnte, die unvollendete Cantate sur la Nativité von 1929.  Er sagte über diese beiden Stücke: “Durch eine Art instinktive Bescheidenheit habe ich nichts unternommen, dass diese Stücke aufgeführt wurden.  Es reichte mir vollkommen, dass ich sie geschrieben hatte ( …)”.

Im selben Vortrag führte Frank Martin weiterhin aus, dass er gefürchtet hatte, dass eine Aufführung “dem Ausdruck sehr intimer Gefühle” schaden könnte.  Er zögerte immer sehr, in solchen Angelegenheiten etwa Aufmerksamkeit auf sich selbst zu erwecken.  Die einzige Aufführung, die er für akzeptabel hielt, hätte “in einer Kirche, ohne den Namen des Autoren und als Teil der Liturgie” stattfinden können.

Es gab neben der Bescheidenheit offenbar auch einen persönlichen Grund für Martins andauernde Zurückhaltung in Bezug auf Kirchenmusik.  Gegen Ende seines Lebens vertraute er der Zeitschrift Zodiaque an, dass er lange Zeit unfähig gewesen war, seinen eigenen religiösen Gefühlen auf den Grund zu gehen.  Er hatte sich erst auf seine eigene Weise mit dem Glauben auseinandersetzen müssen, in dem er als Sohn eines calvinistischen Geistlichen aufgezogen worden war.  Er hatte immer religiöse Gefühle verspürt, wie er sagte, aber er hatte sich verpflichtet gefühlt, “sie vorübergehend nicht intellektuell zum Ausdruck zu bringen”.  Die Komposition der Messe erlaubte es ihm, die Verbindung zur Religion wieder aufzunehmen und seinen Glauben zum Ausdruck zu bringen. 

Die wertvollsten Erinnerungen

Martins ausgedehnte Zurückhaltung in Bezug auf Kirchenmusik verschwand endgültig im Jahr 1944, als er von Radio Genf beauftragt wurde, eine Kantate für den bevorstehenden Waffenstillstand zu schreiben.  Seiner Ansicht nach machte die Bedeutung des Anlasses ein religiöses Thema zur Pflicht.  Das “kurze Oratorium” In terra pax wurde am 7. Mai 1945 uraufgeführt.  Nunmehr von seinen eigenen Fesseln befreit, schrieb Frank Martin jetzt gelegentlich religiöse Stücke für Aufführung und Veröffentlichung – das bekannteste Beispiel ist das Passionsoratorium Golgotha (1948). 

Wenn er Kirchenmusik schrieb, kämpfte Martin weiterhin damit, seine eigenen künstlerischen Ideale mit den angenommenen Erwartungen des Publikums unter einen Hut zu bringen.  Die ideale Lösung bestand darin, ohne Auftrag zu komponieren.  Beispielsweise war, als er aus innerem Drang mit der Komposition von Golgotha begann, eine öffentliche Aufführung nicht Teil des Plans.  Die schwere Arbeit, die er in dieses Stück investierte – zu seinen eigenen Bedingungen – sollte eine der wertvollsten Erinnerungen seines Lebens bleiben. 

Sorgfältiges Gleichgewicht

Einen ähnlich hohen Grad der kompositorischen Freiheit finden wir in der Messe für Doppelchor.  Ein erster Grund dafür ist die Tatsache, dass Frank Martin in den 1920er Jahren noch nicht seine eigene musikalische Sprache gefunden hatte (etwas, von dem er behauptete, es viel später erreicht zu haben, im weltlichen Oratorium Le vin herbé, 1938-1941).  In der Messe hatte er deshalb volle Freiheit in der Wahl der musikalisch-technischen Möglichkeiten.  Ein zweiter Grund besteht darin, dass Originalität keine Vorbedingung war, da das Stück nur für Gott und ihn selbst bestimmt war, und es nicht um die öffentliche Meinung ging.  Charakteristisch für die Messe ist das Anstreben eines feinen Gleichgewichtes zwischen uralten Traditionen und einer zeitgenössischeren Ausdrucksweise.

Der erste Eindruck, den die Messe hinterlässt, ist die einer Ehrenbezeugung an die vokale Polyphonie der Renaissance.  Das überrascht kaum, wenn man bedenkt, dass viele großartige Vertonungen der Messe – von Josquin bis Palestrina – aus dieser Zeit stammen.  Die Verbindung wird klar schon durch Martins Wahl der rein chorischen Besetzung, des Einsatzes der Imitation, sorgfältigster Behandlung des Textes, und besonders durch das fließende Zeitmaß ohne metrische Zwangsjacke.  Neben solch allgemeinen Zügen erwecken auch besondere Charakteristika den Geist der frühen Musik: halber Wege durch das Gloria bringt Martin die Musik beinahe zum Stillstand, um dem Namen von Jesus Christus extra Betonung zu verleihen.

Wir finden in Martins Messe auch Beweise für die besondere Inspiration, die er von Johann Sebastian Bach empfing, so dass dieser in gewisser Weise als Gipfel – wenn auch mehr als ein Jahrhundert später – eben dieser Tradition der Polyphonie der Renaissance betrachtet werden kann.  Der jugendliche Frank Martin erlebte eine umwälzende Epiphanie, als er im Alter von zwölf Jahren zum allerersten Mal Bachs Matthäuspassion hörte. 

Am Ende von Martins Gloria finden wir einen besonderen Bezug auf Bach, wenn bei den Worten “Patris” und “Amen” die beiden Sopranstimmen sich abwechselnd den schnellen Noten einer ekstatischen, rotierenden Melodie hingeben.  Diese rhetorische Figur – als circulatio bekannt – wurde häufig in der deutschen Barockmusik eingesetzt, um das ewige Leben und die Macht des Heiligen Geistes wiederzugeben.  Ähnlich erinnert das bittere Motiv im Credo für das Wort “Crucifixus” stark an Bach; danach sinken alle Stimmen symbolisch in ihren tiefsten Bereich für die Worte “et sepultus est” (und [Jesus Christus] wurde begraben), genau wie in der h-Moll-Messe.

Ausdrucksvoller Einfallsreichtum

Die melodischen Linien von Martins Messe verdienen besondere Erwähnung.  Ein allgemeines Gefühl, dass wir uns in den Kirchentonarten befinden, schlägt sogar den Einfluss der Gregorianik vor (mit der er vermutlich 1921 während einer Studienzeit in Rom vertrauter wurde).  Aber bestimmte chromatische Redewendungen gehören dennoch unverkennbar in uns nähere Zeiten.  Schon in Takt 10 des Kyrie werden wir vom Wechsel im zweiten Alt von E nach Es verunsichert.  Solch eine – oberflächlich betrachtet – unschuldige Einzelheit ist vergleichbar mit dem unerwarteten Cis der Celli, mit dem Beethoven zu Beginn der Eroica Sinfonie sofort klarstellt, dass er vorhat, aus dem Schatten von Haydn und Mozart herauszutreten.

Nach diesem örtlich begrenzten “Lapsus” zu Anfang des Kyrie demonstriert Frank Martin besonders im Gloria die Tatsache, dass die Messe für Doppelchor fest im zwanzigsten Jahrhundert verankert ist.  Der verhaltene Anfang dieser Hymne des Lobes, zusammen mit einer Anhäufung von Sekunden in den ersten drei Einsätzen des zweiten Chors (H im Tenor, Cis im Alt, D im Sopran) macht einen etwas widerspenstigen Eindruck.  Etwas später, im ausgedehnten Abschnitt Domine Deus, gibt es eine eindrucksvolle Stelle, in der Martin den zweiten Chor eine uralt-klingende offene Quinte aushalten lässt, während der erste Chor die Spannung mit einer einstimmigen Melodie erhöht; letztere – nahe dem Höhepunkt bei “Qui sedes”, weicht der Zwei- und dann der Vierstimmigkeit.  Eine ähnliche Rollenverteilung findet sich später im Benedictus und zu Anfang des Agnus Dei.  Solch ausdrucksvoller Erfindungsreichtum macht die Messe besonders ansprechend für Sänger wie für Zuhörer, wie auch die Einführung einer pentatonischen Tonleiter, um die überbordende Freude der Gläubigen bei der Auferstehung (“et resurrexit” im Credo) zu betonen.

Obwohl diese frühe Komposition sich grundlegend von den Werken seiner reiferen Periode unterscheidet, muss der Perfektionist Frank Martin 1922 einige Genugtuung in der Messe gefunden haben, obwohl sie damals noch unvollständig war.  Sonst wäre es schwierig zu erklären, dass er vier Jahre später das Agnus Dei hinzufügte – in einem Stil, der genau mit den früheren Sätzen übereinstimmt.

Der späte Erfolg der Messe für Doppelchor ist untrennbar verbunden mit der grundehrlichen Einstellung, auf der sie basiert.  Martins Suche nach musikalischen Mitteln, um seinem eigenen Glauben eine neue Form zu verleihen, fand ihren Widerhall im Text der Messe.  Wie er selbst in der Zeitschrift Zodiaque schrieb: “Was mich zur Messe zog, wie so viele andere Musiker auch, war erst der Text und dann auch die Form, die in sich selbst bewundernswert ist, sowohl ästhetisch als auch psychologisch”.  Ohne Beschränkungen von außen und deshalb ohne die Verpflichtung, originell zu sein, war er in der Lage, eine Vertonung dieses Textes zu schaffen, die zwischen längst vergangenen Jahren und der Welt seiner eigenen Zeit schwebt.

Frank Martin war davon überzeugt, dass die überragende Pflicht des Künstlers darin besteht, der Menschheit Schönheit zu schenken.  Er glaubte, dass es dafür weder notwendig oder auch erstrebenswert war, dem eigenen Zeitgeist Ausdruck zu verleihen.  Seine Messe, die den Test der Jahre bestanden hat, war die Erfüllung dieser sich selbst auferlegten Notwendigkeiten. 

Quellen
  • Martin 1975, “Entretiens avec Frank Martin” [ohne den Namen des Verfassers], Zodiaque 25 Nr. 103 (Januar 1975), pp. 7-28.
  • Martin 1977, Frank Martin, Un compositeur médite sur son art: Ecrits et pensées recueillis par sa femme. Neuchâtel, Editions de la Baconnière, 1977.

Übersetzung aus dem Niederländischen von Stephen Taylor

Der französische Musikwissenschaftler Michel Khalifa (1965) erwarb seinen Magister an der Universität Utrecht.  Er hält vorbereitende Vorträge vor Konzerten für niederländische Orchester und Musiksäle, schreibt Programmtexte und arbeitet als Führer für Gruppenreisen mit Themen zur klassischen Musik. Michel Khalifa war der verantwortliche Herausgeber des Buchs Bravo!, gemeinschaftlich vom Concertgebouw und dem Conzertgeouw Orchester für ein Jubiläum veröffentlicht. Von 2004 bis 2008 schrieb er Kritiken und Artikel für die niederländische Zeitung Het Parool.  Er unterrichtet Musikgeschichte am Konservatorium von Amsterdam.
2024@frankmartin.org

Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, UK