Das Stabat Mater von Giovanni Battista Pergolesi

Eine Logogenetische Analyse[1]

 

Oscar Escalada, Komponist, Arrangeur, Chorleiter und Musikwissenschaftler

 

Der Begriff Logogenese beschreibt das Verhältnis zwischen den von den Komponisten verwendeten musikalischen Mitteln und ihrer Übereinstimmung mit dem Text. Das Wort kommt vom griechischen logos, „Wort” und genesis, „Ursprung”.

In der Linguistik ist die Logogenese eines der drei Standbeine der Semogenese, deren andere die Ontogenese und die Phylogenese sind. Aber die Bedeutung, die wir diesem Begriff in unserer musikalischen Analyse geben, steht nicht in Verbindung mit der systemisch-funktionalen Linguistik, ist also nicht mit ihr zu verwechseln.

In der Musik bezeichnet das Wort Logogenese ein Verfahren, das seit weit zurückliegenden Zeiten benutzt wird, um Musik mit Sprache zu verbinden. Im 16. Jahrhundert wurde dies von Gioseffo Zarlino ein „Umsetzen von Worten in Musik“ genannt.

Das Stabat Mater ist eine mittelalterliche Sequenz, die verschiedenen Autoren zugeschrieben wird, deren wahrscheinlichste Innozenz III. (+ 1216) und Jacopone da Todi (1230-1306) sind. Dass es Jacopone zugeschrieben wird, liegt daran, dass sich Georgius Stella, Kanzler von Genua, in seinen “Annales Genuenses” auf ein Manuskript des 16. Jahrhunderts bezieht, welches Gedichte von Jacopone enthält, in denen er sich die Autorenschaft des Stabat zuschreibt.

 

Listen to Pergolesi, 'Stabat Mater'
Listen to Pergolesi, ‘Stabat Mater’

 

Jacopone ist wegen seiner Lauden bekannt, dieser vom heiligen Franziskus von Assisi zu Beginn des 13. Jahrhunderts eingeführten religiösen Lieder, die er in der Volkssprache sang, um das Evangelium auch dem Volke nahezubringen, das kein Lateinisch sprach. In gleicher Weise komponierte Jacopone seine Gedichte im umbrischen Dialekt, was auch der Grund dafür ist, dass seine Autorenschaft des Stabat Mater angezweifelt wird, das ja auf Lateinisch geschrieben ist.

Diese Sequenz wurde 1727 ins christliche Ritual übernommen, als letzte der fünf offiziellen Sequenzen der katholischen Kirche. Die früheren wurden während des Konzils von Trient von 1545 bis 1563 aufgenommen, und zwar sind es die Lauda Sion von Wipo, die Victimae Paschali laudes, Innozenz III. zugeschrieben, Dies Irae vom heiligen Thomas von Aquin sowie Veni Sancte Spiritu von Tomas von Celano.

Das Stabat Mater hat zwei Texte, die sich um einiges voneinander unterscheiden. Sie sind unter der Bezeichnung Dolorosa und Speciosa bekannt. Die gegenwärtig benutzte Fassung ist die Dolorosa, und die Unterschiede zeigen sich schon im ersten Absatz:

 

Dolorosa

Stabat Mater dolorosa

Juxta crucem lacrimosa

Dum pendebat filius

Speciosa

Stabat Mater speciosa

Juxta foenum gaudiosa

Dum jacebat filius

 

Eine Ausgabe der italienischen Gedichte von Jacopone, die 1495 in Brescia erschien, enthält beide Fassungen des Stabat Mater. Die  Speciosa geriet jedoch in Vergessenheit, bis A.F. Ozanam sie aus einem in der Pariser Nationalbibliothek entdeckten Manuskript übertrug. Er war der Ansicht, dass beide Jacopone zuzuschreiben seien und gestand, auf den Versuch, die Speciosa in Versform zu übersetzen, verzichtet zu haben wegen ihres  unübersetzbaren Sprachzaubers, ihrer Musikalität und archaischen Schönheit. Daher entschied er sich, beide Hymnen in Prosa zu veröffentlichen.

Trotzdem gibt es in Bezug auf die Autorenschaft des Stabat Mater unterschiedliche  Meinungen. Der anglikanische Hymnologe Dr. J.M. Neale übertrug 1866 die Speciosa ins Englische, wobei er die Urheberschaft Jacopone zuschrieb. Dem widerspricht allerdings Phillipe Schaff in seinem Buch Literature and Poetry, wo er zu bedenken gibt, dass es unwahrscheinlich sei, dass ein Dichter eine Parodie zu seinem eigenen Gedicht verfasste.

Zu beiden Hymnen existiert eine reiche Literatur. Unabhängig davon teilen sowohl Protestanten wie Katholiken eine tiefe Bewunderung für deren Pathos, lebendige Darstellung, fromme Lieblichkeit und Salbung.

Auf der anderen Seite gibt es verschiedene Fassungen des Stabat Mater Dolorosa, die von Hvander Velden zusammengestellt wurden und sich bei einigen Ziffern unterscheiden, wie wir gleich sehen werden:

 

1 Stabat Mater dolorosa iuxta crucem lacrimosa dum pendebat Filius

2 Cuius animam gementem contristatem et dolentem pertransivit gladius

3 O quam tristis et afflicta fuit illa benedicta Mater Unigeniti

4 a) Quae moerebat el dolebat et tremebat cum videbat nati poenas incliti

   b) Quae moerebat et dolebat Pia Mater dum videbat nati poenas incliti

5 Quis est homo qui non fleret Matri Christi si videret in tanto supplicio?

6 Quis non posset contristari Matrem Christi contemplari dolentum cum filio?

7 Pro peccatis suae gentis vidit Iesum in tormentis et flagellis subditum

8 Vidit suum dulcem natum moriendo desolatum dum emisit spiritum

9 Eia Mater, fons amoris, me sentire vim doloris fac ut tecum lugeam

10 Fac ut ardeat cor meum in amando Christum Deum ut sibi complaceam

11 Sancta Mater, istud agas crucifixi fige plagas cordi meo valide

12 Tui nati vulnerati tam dignati pro me pati poenas mecum divide

13 a) Fac me vere tecum flere crucifixo condolere donec ego vixero

     b) Fac me tecum pie flere crucifixo condolere donec ego vixero

14 a) Iuxta crucem tecum stare te libenter sociare in planctu desidero

     b) Iuxta crucem tecum stare et me tibi sociare in planctu desidero

15 Virgo virginum praeclara mihi iam non sis amara fac me tecum plangere

16 a) Fac ut portem Christi mortem passionis eius sortem et plagas recolere

     b) Fac ut portem Christi mortem passionis fac consortem et plagas recolere

17 a) Fac me plagis vulnerari cruce hac inebriari ob amorem filii

     b) Fac me plagis vulnerari fac me cruce inebriari et cruore filii

18 a) Inflammatus et accensus, per te, Virgo, sim defensus in die iudicii

     b) Flammis ne urar succensus, per te, Virgo, sim defensus in die iudicii

     c) Flammis orci ne succendar, per te, Virgo, fac, defendar in die iudicii

19 Fac me cruce custodiri morte Christi praemuniri confoveri gratia

20 Quando corpus morietur fac ut animae donetur paradisi gloria. Amen

 

Die Dolorosa und Giovanni

Das Stabat Mater ist nicht gänzlich zu verstehen, wenn man es nur als erhabenes Kunstwerk der Musikgeschichte betrachtet. Der alljährliche Festtag der Schmerzensreichen Jungfrau, der Freitag vor Palmsonntag, war die Gelegenheit, um die Komposition des beliebtesten Komponisten der Stadt aufzuführen. Die Prozession bewegte sich langsam durch die Straßen von Neapel, und entsprechend muss man sich die Aufführung des Stabat vorstellen, im Freien und mit allen möglichen Hintergrundgeräuschen der Stadt, wogegen es heute normalerweise als Konzertmusik im geschlossenen Rahmen eines Saales aufgeführt wird. Wie es bei napolitanischen Volksfesten üblich war, mischten sich unter die singenden und spielenden Berufsmusiker meist auch andere Sänger und Instrumentalisten, rituelle Tänze (wie die für die Tarantella typischen Exorzismus-Riten), sowie einfache und zur Melodie des Stabat improvisierte Polyphonien.

Pergolesi wurde 1710 geboren und starb 1736 im jungen Alter von 26 Jahren im Kapuzinerkloster von Pouzzoles an einer akuten Tuberkulose. Aus Jesi stammend begab er sich in sehr jungen Jahren nach Neapel, um am Konservatorium „der Armen“ Geige und Komposition zu studieren. 1734 wurde er in Neapel stellvertretender Kapellmeister und 1735 außerordentlicher Organist der königlichen Kapelle.

Der Grund, warum er in Neapel so geschätzt und beliebt war, lag eben an seinem Anliegen, Werke in der Sprache zu komponieren, die von den einfachen Leuten verstanden wurde: dem napolitanischen Dialekt. Tatsächlich hat er während seines kurzen Lebens mehrere Opern komponiert, die gerade deshalb in Vergessenheit geraten sind, weil sie im Dialekt geschrieben waren. Die erste von ihnen war Salustio. 1731 komponierte er La Conversione di Guiglielmo d’Aquitania und im folgenden Jahr Lo Frate’nnamorato. Später, 1734, komponierte er Adriano in Siria  und 1735 Il Fluminio, eine weitere Komödie in dialektaler Sprache.

Gemeinsam mit Baldassare Galuppi, Giovanni Paisiello und Domenico Cimarosa gilt Pergolesi als einer der großen Komponisten der “Opera buffa” des 18. Jahrhunderts. Seine bekannteste Oper ist ohne Zweifel La serva padrona, auf Italienisch verfasst und 1733 uraufgeführt.

Sein letztes Werk, das er 1736 kurz vor seinem Tod verfasste, war das Stabat Mater. Als diese Sequenz in das christliche Ritual aufgenommen wurde, war Giovanni 17 Jahre alt, und es hatte eine gewaltige Wirkung auf die Zeit und auf ihn selbst, da die vom Christentum akzeptierten vier Sequenzen seit mehr als 160 Jahren nicht mehr modifiziert worden waren. Den Kompositionsauftrag hatte er vom gleichen Orden von Neapel bekommen, für den zwanzig Jahre vorher auch Alessandro Scarlatti sein Stabat Mater komponiert hatte.

Das Stabat von Pergolesi machte auf zeitgenössische Komponisten wie Johann Adam Hüler (1728-1804) und Giovanni Paisiello (1740-1860) einen tiefen Eindruck. Und kein geringerer als Johann Sebastian Bach zollte ihm in seinem “Tilge, Höchster, meine Sünden” (Psalm 51)  seine Bewunderung.

 

Der Text und die Musik

Es steht außer Zweifel, dass sich diese Verbindung einem Komponisten wie Pergolesi, dessen Spezialität die Opera buffa war, unausweichlich aufdrängte. Insofern wundert es nicht, dass sich in seinem Stabat Mater gewisse Merkmale finden, die die Bedeutung erkennen lassen, die er dem Text beimisst, indem er sich auf subtile Weise der Logogenese bedient.

Im ganzen Werk finden sich musikalische Mittel, die weitestgehend auf den Text, manchmal sogar auf ein einzelnes Wort, abgestimmt sind  und den Gedanken nahelegen, dass so viele Übereinstimmungen kein Zufall sein können.

Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Lauden von Jacopone Ausgangspunkt für die Entstehung des italienischen Teatro Sacro waren, und dass Pergolesi vor allem Opernkomponist war. Sollte das Gedicht von Jacopone stammen, würde es eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Autoren zeigen, die auf dem Hang zu dramatischen und theatralischen Entwicklungen in ihren Werken beruht.

Schon eine anfängliche Analyse der Dolorosa zeigt, dass ihre übergreifende Struktur aus zwei Teilen besteht. Der erste schildert die Schmerzen der Mutter Christi angesichts ihres gekreuzigten Sohnes, der für die Sünden seines Volkes büßt. Der zweite ist dagegen eine an die Mutter Gottes gerichtete Fürbitte, um an ihrem Leid teilzuhaben und dadurch ihrem Sohn wohlgefällig zu sein.

Es ist klar, dass Pergolesi diese Struktur nicht entgangen ist, denn auch sein Stabat Mater ist in  zwei mit dem Text übereinstimmende Teile gegliedert. Beide enthalten ihrerseits sechs Teilstücke. Der erste Teil geht von der Nummer 1 (Stabat Mater dolorosa) bis zur Nummer 6 (Vidit suum), der zweite von der Nummer 7 (Eia Mater) bis zur Nummer 12 (Quando corpus morietur).

Um das so einzurichten, musste Pergolesi in einigen Nummern mehr als eine Strophe unterbringen. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass es sich um insgesamt zwanzig Strophen handelt. So enthält die Nummer 5 zwei, die 9 fünf und die 10  und 11 jeweils zwei Strophen.

Schauen wir uns die deutsche Übersetzung an:

 

Erster Teil: Schilderung

1.  Stabat Mater Dolorosa

Juxta Crucem lacrimosa

Dum pendebat Filius

Die schmerzensreiche Mutter

stand und weinte beim Kreuz,

an dem ihr Sohn hing,

2.  Cujus animam gementem

Contristatam et dolentem,

Pertransivit gladius.

dessen klagende, reumütige

und leidende Seele

ein Schwert durchkreuzte.

3.  O quam tristis et afflicta

Fuit illa benedicta

Mater Unigeniti!

Oh, wie traurig und betrübt

war die gebenedeite

Mutter des einzigen Sohnes!

4.   Quae maerebat, et dolebat

Pia Mater, dum videbat

Nati penas incliti.

Voller Mitleid, Schmerz und

zitternd sah sie

die echten Qualen ihres Sohns.

5.  Quis est homo qui non fleret

Matrem Christi si videret

In tanto supplicio?

Wer würde nicht weinen

beim Anblick der Mutter Jesu

in solcher Seelenpein?

Pro peccatis suae gentis

Vidit Jesum in tormentis,

Et flagellis subditum.

Für die Sünden seines Volks

sah sie Jesus leiden,

Peitschenhiebe empfangen.

6.  Vidit suum dulcem natum

Moriendo desolatum,

Dum emisit spiritum.

Sie sah ihren lieben Sohn,

der trostlos starb

und seinen Geist aufgab.

 

Zweiter Teil: Fürbitte

7.  Eia Mate, fons amoris,

Me sentire vim doloris

Fac, ut tecum lugeam.

Oh, Mutter, Quell der Liebe,

lass mich deinen Schmerz

fühlen, auf dass ich mit dir leide.

8.  Fac ut ardeat cor meum

In amando Christum Deum,

Ut sibi complaceam.

Lass mein Herz glühen

vor Liebe zu Christus-Gott,

auf dass es ihm wohlgefalle.

9.  Sancta Mater, istud agas,

Crucifixi fige plagas

Cordi meo valide.

Heilige Mutter,

drück die Qualen des Gekreuzigten

tief in mein Herz

Tui nati vulnerati

Tam dignati pro me pati,

Poenas mecum divide.

Und lass mich die Schmerzen

deines geschundenen Sohnes

teilen, der sich herabließ, für mich zu leiden.

Fac me tecum pie fiere,

Crucifixo condolere,

Donec ego vixero

Lass mich mit dir weinen,

dass ich alle Tage meines Lebens

mit dem Gekreuzigten leide.

Juxta crucem tecum stare,

Et me tibi sociare

In planctu desidero

Lass mich mit dir

am Kreuze stehen

und deinen Schmerz teilen.

Virgo virginum praeclara

Mihi jam non sis amara

Fac me tecum plangere.

Du edelste aller Jungfrauen,

sei nicht streng mit mir,

lass mich mit dir weinen.

10.  Fac ut portem Christi mortem, 

Passionis fac consortem,

Et plagas recolere.

Mach, dass ich Christi Tod in mir trage,

sein Leid teile

und an seine Wunden denke.

Fac me plagis vulnerari,

Fac me cruce inebriari,

Et cruore filii.

Mach, dass mich seine Wunden

schmerzen und das Kreuz und

Blut deines Sohnes mich entflammen.

11.  Inflammatus et accensus,

Per te, Virgo, sim defensus,

In die judicii.

Oh, Jungfrau, schütze mich vor

den Flammen und trete für mich

ein am Tag des Jüngsten Gerichts.

Christe, cum sit hinc exire,

Da per Matrem me venire

Ad palmam victoriae.

Christus, wenn du aus diesem

Leben scheidest, gewähre mir

durch deine Mutter die Siegespalme.

12.  Quando corpus morietur

Fac ut animae donetur

Paradisi gloria.

Amen.

Und wenn mein Körper stirbt,

gewähre meiner Seele

den Glanz des Paradieses.

Amen.

 

 

 

Die angegebenen Nummern entsprechen der von Pergolesi vorgenommenen Einteilung.

Bemerkenswerter Weise sind es zwölf Nummern, was den zwölf Aposteln entspricht. Der kursiv gedruckte Text entspricht der Nummer des Segments.

An diesem Punkt der Analyse ist es unvermeidlich, von der allgemeinen Form zu sprechen, die Pergolesi seinem Werk in Bezug auf das Gedicht verlieh. Die Entscheidung, bei jeder Nummer solche Strophen zu benutzen, war nicht willkürlich. So beziehen sich zum Beispiel alle Strophen, die er bei der Nummer 9 benutzt, auf dasselbe Thema, und jeder Teilabschnitt hat seinen eigenen literarischen Gehalt.

[Heilige Mutter, drück die Wunden des Gekreuzigten tief in mein Herz][und lass mich die Schmerzen deines geschundenen Sohnes teilen, der sich herabließ, für mich zu leiden.] [Lass mich mit dir weinen, dass ich alle Tage des Lebens mit dem Gekreuzigten leide.] [Lass mich mit dir am Kreuze stehen und deinen Schmerz teilen.] [Du edelste aller Jungfrauen, sei nicht streng mit mir und lass mich mit dir weinen.]

Ein ähnliches Kriterium verwendet er für die Auswahl der beiden Strophen der Nummer 10:

[Mach, dass ich Christi Tod in mir trage, sein Leid teile und  an seine Wunden denke.] [Dass mich seine Wunden schmerzen und das Kreuz und Blut deines Sohnes mich entflammen.]

Dieser erste Schritt ist äußerst wichtig zum Verständnis dessen, was hier gesagt wird. Wenn die musikalische Form mit dem Text übereinstimmt, kann dessen Inhalt umso klarer und unverfälschter zum Ausdruck kommen.

 

Einige logogenetische Betrachtungen   

Ohne eine detaillierte Untersuchung der von Pergolesi verwendeten logogenetischen Mittel durchführen zu wollen, möchte ich in diesem Kapitel einige dem ersten Teil entnommene Beispiele beschreiben, die für dieses Thema erhellend sein können.

Gleich zu Beginn seines Werks stellt Pergolesi Stabat Mater musikalisch in einen Kontext tiefen Schmerzes, was durch aufeinanderfolgende Dissonanzen ausgedrückt wird, ein für ihn effizientes Mittel zur Beschreibung dieser Empfindung (Fig. 1).

 

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Über 100 Jahre zuvor hatte sich schon Carlo Gesualdo da Venosa bei den Worten „ásperos martirios“ („grausame Martyrien“) seines Madrigals Itene o miei sospiri dieses Mittels bedient (Fig. 2).

 

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Pergolesi unterstreicht diese Idee von Schwermut, indem er in Takt 8 den Violinen I und II Achtelnoten einfügt, die durch Pausen als eine Art von Seufzern getrennt sind, wie es auch Gesualdo im eben erwähnten Madrigal schon gemacht hatte (Fig. 3 und 3.1).

 

003

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Bei der Nr. 2 nehmen die Streicher in den Takten 15/18 den Text vorweg, der sich auf das Schwert bezieht, “das seine reumütige und leidende Seele durchkreuzte“ (Fig. 4).

 

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Später, in den Takten 74 ff. und 99 ff. zum Text pertransivit gladius (ein Schwert durchkreuzte), verwendet er die gleichen Effekte bei den hohen Tönen im Sopran, was den Schmerz des Stiches zum Ausdruck bringt (Fig. 5).

 

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Bei der Nr. 3 ist der einzige Textteil, der durch halbe Noten ausgedrückt wird, das Wort Mater, was es interpretatorisch ermöglicht, das Mitgefühl für die leidende und kummerbeladene Frau auszudrücken, die ihren einzigen Sohn am Kreuze sterben sieht (Fig. 6).

 

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Bei der Nr. 4 beschreibt der Oktavsprung bei nati poenas, Takte 43 ff. und 53 ff., den Schmerzensschrei der „so echten Schmerzen“ ihres Sohnes (Fig. 7).

 

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Bei der Nr. 5 werden die Worte in tanto und dolentem durch lange Noten ausgedrückt, und der Höhepunkt von in tanto suplicio ist eine fallende Melodie, die in der Oberdominante (g) kulminiert. Den nächsten Satz Quis non posset contristari entwickelt er über der gleichen Dominante (g), diesmal aber in Moll. Der Passus endet mit der Frage quis? (wer?), die durch Viertelnoten und Pausen beim ersten und dritten Taktschlag wiederholt wird, womit er eine Methode aufgreift, die er schon bei der Nr. 1 verwendet hatte. Bei dieser Gelegenheit dient sie aber dazu, der Frage eine größere Spannung zu verleihen (Fig. 8).

 

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Das Wort, das er im zweiten Teil dieser Nummer besonders betont, ist flagelis (Peitschen. (Fig. 9.) Bei der Geige ist hier das Spiel der Viertelnoten zu beachten, die durch den unkoordinierten Rhythmus bei diesem Wort ein Gefühl von Peitschenhieben erzeugen.

 

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Bei der Nr. 6, der letzten Nummer dieses ersten, deskriptiven Teils (Vidit suum), betont Pergolesi den Satz dum emisit spiritum (indem er seinen Geist aufgibt). Hier bedient er sich wieder des Kunstgriffs der eingefügten Pausen, womit er das Bild des sich auflösenden Geistes vermittelt (fig. 10).

 

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Aber die interessanteste Text-Musik-Beziehung dieses Teils findet sich in der Gegenüberstellung der beiden Sätze Vidit suum dulcem natum und morientem, desolatum. Diese Kontrastierung lässt sich beim ersten Satz (sie sah ihren lieben Sohn) zwischen einer Melodie mit einem Quartensprung und einem Rhythmus mit kurzen und langen Punktierungen beobachten. Sodann stellt er diesem Satz ein statischeres Segment gegenüber, indem er Viertel- und Achtelnoten mit einer fallenden melodischen Bewegung zum Text der trostlos starb verwendet.  (Fig. 11)

 

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Dieser Kunstgriff wurde auch von Bach verwendet.

 


[1] Dieser Artikel ist ein Kapitel des Buches “Oscar Escalada, Logogénesis, Editorial Barry, Buenos Aires, 2012”

 

Bibliographie

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Juan Straubinger, Mons. Dr.,,  LA SANTA BIBLIA, Traducción Fundación Santa Ana, La Plata 2001

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Okon Edet Uya, Historia de la esclavitud negra en las Américas y el Caribe, Ed. Claridad, Bs. As., 1989

Flora Davis, La comunicación no verbal,  Alianza Editorial, España, 1998

 

 

Oscar EscaladaOscar Escalada ist Dozent, Komponist, Chorleiter, Schriftsteller, Herausgeber von Chormusik in den USA und Deutschland, Vizepräsident des argentinischen Verbands für Chormusik “America Cantat” (AAMCANT) und Generalsekretär der Organisation America Cantat. Er hat in verschiedenen nationalen, provinziellen und städtischen Institutionen seiner argentinischen Heimatstadt La Plata Chöre gegründet. Escalada war Gastprofessor für Vorträge, Workshops, Seminare und als Jurymitglied in seinem Heimatland Argentinien, in den USA, Venezuela, Kuba, Ecuador, Spanien, England, Griechenland, Italien, Frankreich, Mexiko, Deutschland und Südkorea. Er hat als Referent am 5. Weltsymposion für Chormusik in Rotterdam teilgenommen, war Gast beim Konvent der ACDA (American Choral Directors Association) in Detroit und Chicago, und Koordinator der Komponistensitzungen des 9. Weltsymposiums für Chormusik in Puerto Madryn. Sein Werk “Tangueando” steht als Bestseller im Katalog von Warner/Chappell 2000-2001. Er ist Autor der Bücher “Un coro en cada aula” (“Ein Chor in jedem Klassenzimmer“) und “Logogénesis”. 2012 wurde er als Jurymitglied zu den World Choir Games von Cincinnati, USA, eingeladen, sowie als Leiter eines Workshops zu Europa Cantat in Turin, Italien. Email: oscarescalada@mac.com

 

Übersetzt aus dem Spanischen von Reinhard Kißler, Deutschland

Edited by Gillian Forlivesi Heywood, Italy

 

Deutsch: von Heinrich Bone (1813 – 1893)

Christi Mutter stand mit Schmerzen
bei dem Kreuz und weint von Herzen,
als ihr lieber Sohn da hing.

Durch die Seele voller Trauer,
scheidend unter Todesschauer,
jetzt das Schwert des Leidens ging.

Welch ein Schmerz der Auserkornen,

da sie sah den Eingebornen,
wie er mit dem Tode rang.

Angst und Jammer, Qual und Bangen,
alles Leid hielt sie umfangen,
das nur je ein Herz durchdrang.

Ist ein Mensch auf aller Erden,
der nicht muss erweichet werden,
wenn er Christi Mutter denkt,

wie sie, ganz von Weh zerschlagen,
bleich da steht, ohn alles Klagen,
nur ins Leid des Sohns versenkt?

Ach, für seiner Brüder Schulden
sah sie ihn die Marter dulden,
Geißeln, Dornen, Spott und Hohn;

sah ihn trostlos und verlassen
an dem blutgen Kreuz erblassen,
ihren lieben einzgen Sohn.

O du Mutter, Brunn der Liebe,
mich erfüll mit gleichem Triebe,
dass ich fühl die Schmerzen dein;

dass mein Herz, im Leid entzündet,
sich mit deiner Lieb verbindet,
um zu lieben Gott allein.

Drücke deines Sohnes Wunden,
so wie du sie selbst empfunden,
heilge Mutter, in mein Herz!

Dass ich weiß, was ich verschuldet,
was dein Sohn für mich erduldet,
gib mir Teil an seinem Schmerz!

Lass mich wahrhaft mit dir weinen,
mich mit Christi Leid vereinen,
so lang mir das Leben währt!

An dem Kreuz mit dir zu stehen,
unverwandt hinaufzusehen,
ist’s, wonach mein Herz begehrt.

O du Jungfrau der Jungfrauen,
woll auf mich in Liebe schauen,
dass ich teile deinen Schmerz,

dass ich Christi Tod und Leiden,
Marter, Angst und bittres Scheiden
fühle wie dein Mutterherz!

Alle Wunden, ihm geschlagen,
Schmach und Kreuz mit ihm zu tragen,
das sei fortan mein Gewinn!

Dass mein Herz, von Lieb entzündet,
Gnade im Gerichte findet,
sei du meine Schützerin!

Mach, dass mich sein Kreuz bewache,
dass sein Tod mich selig mache,
mich erwärm sein Gnadenlicht,

dass die Seel sich mög erheben
frei zu Gott im ewgem Leben,
wann mein sterbend Auge bricht!