Händels englische Oratorien der Jahre 1736 - 1742

Jürgen Budday, Chorleiter und Künstlerischer Leiter des Marktoberdorf International Choral Festival

Nach einem vierjährigen Aufenthalt in Italien kehrte Händel 1710 nach Deutschland zurück und bekam im Juni eine Anstellung am Hofe von Hannover. Aber schon Ende des Jahres zog es ihn nach London. Nach einjährigem Aufenthalt im Königreich kehrte er wieder kurz zurück nach Hannover, um 1712 dann endgültig nach London überzusiedeln. Er blieb dort – abgesehen von Reisen – bis zu seinem Lebensende.

Händel lebte also zwei Drittel seines Lebens in England. Es kann demnach nicht überraschen, dass seine bedeutendsten und größten Kompositionen in England entstanden sind, u.a. 3 sog. Oden und die meisten seiner 25 Oratorien. Davon – insbesondere von den bei Carus verlegten „Alexander’s Feast“ (Ode), „Israel in Egypt“, „Saul“ und „Messiah“ (alles Oratorien)  – soll im folgenden die Rede sein. Alle diese Werke sind natürlich in englischer Sprache komponiert. Die Carus-Ausgaben bieten zusätzlich jeweils eine deutsche Übersetzung an.

The Great Music Hall on Fishamble Street, Dublin, where Messiah was first performed

Das sog. Englische Oratorium kann als „Erfindung“ Händels bezeichnet werden. In ihm verschmelzen seine Erfahrungen aus seinem Italien-Aufenthalt (incl. ital. Oper) mit Elementen des deutschen Passions-Oratoriums (s. Brockes-Passion 1719) und dem englischen Anthem. Er bediente sich überwiegend alttestamentarischer biblischer Stoffe, bei denen Szenen aus der Geschichte des israelischen Volkes im Mittelpunkt stehen, die er aber oft durch dramatische und/oder zusätzliche persönliche Beziehungstableaus  anreicherte und erweiterte. Es ging Händel aber weniger um eine dramatische Anlage der Oratorien (schließlich sind es keine Opern und eine szenische Aufführung war – trotz kleiner szenischer Hinweise in mancher Partitur – nicht intendiert!) als um Darstellung des feierlich Erhabenen und den Ausdruck von Affekten und Gemütsbewegungen. Auf die o.g. Werke bezogen heißt das, dass die Texte von „Messiah“ und „Israel in Egypt“ fast wörtlich der Bibel entnommen sind, „Saul“ auf die biblische Quelle zurück greift; allein das Libretto von  „Alexander’s Feast“ geht auf eine Ode von John Dryden zurück und wurde von Newburgh Hamilton verfasst. Die Texte der drei anderen Werke wurden von Charles Jennens zusammengestellt. Jennens darf wohl als der bedeutendste der Händel’schen Librettisten bezeichnet werden.

In der Chronologie der Entstehung und Uraufführung liegen die besagten Oratorien/Ode dicht beieinander. „Alexander’s Feast“ entstand 1735/36, „Israel in Egypt“ und „Saul“ komponierte Händel in den Jahren 1738/39, „Messiah“ folgte 1741/42. Es war eine sehr fruchtbare Phase in Händels Schaffen. Außer dem Oratorium „L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato“(1740) komponierte Händel noch weitere 11 (!) Opern in dieser Zeit, darunter seine wohl bekannteste „Xerxes“ und, als seine letzte Oper überhaupt, im Jahr 1741 „Deidamia“.

Man könnte vermuten, dass diese intensive Beschäftigung mit der Oper auch auf die Oratorien abgefärbt hat. Dies ist aber bei „Messiah“ und „Israel in Egypt“ überhaupt nicht der Fall. Hier wird erzählt, geschildert, dargelegt; und mit großem stilistischem Feingefühl werden programmatische Szenen plastisch ausgebreitet („Israel in Egypt“). „Messiah“ nimmt den Hörer mit hinein in die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu und lässt ihn mitfühlend Anteil nehmen. Dass hinter all dem das göttliche Wirken steht, wird vor allem in den großen Lobgesängen zum Schluss der Oratorien deutlich. „Messiah“ und „Israel in Egypt“ sind die Händel’schen Oratorien mit dem größten Choranteil, das letztere kann geradezu als Chor-Oratorium bezeichnet werden. Nimmt man die üblicherweise aufgeführten Teile II und III („Exodus“ und „Moses’ Song“), so sind von den 31 Nummern allein 20 für den Chor. Der Rest sind 4 kurze Rezitative und 7 Arien. Der 1. Teil, das Funeral Anthem, besteht gar ausschließlich aus Chornummern.

Da verhält es sich bei „Saul“ deutlich anders. Hier beträgt der Choranteil weniger als ein Viertel des Gesamtwerkes. Rezitative und Arien dominieren in einem Werk, das von 12 (!) Einzelpersonen bestimmt wird und damit dem Typus der Oper näher steht. Händel macht dies auch rein äußerlich deutlich, indem er das Werk in Akte und Szenen aufgliedert.

Dies trifft noch stärker in Teil II des Alexanderfestes zu, dem durchaus dramatischer Zuschnitt zu eigen ist.

Wie schon angesprochen, ging es Händel aber weniger um die dramatische Charakterisierung einzelner Personen, vielmehr arbeitet er mit sehr differenzierten musikalischen Affekten und subtilen Schilderungen von Gemütszuständen. Er lässt den Zuhörer teilhaben an den Emotionen der handelnden Personen. Dies allerdings verlangt vom Interpreten ein hohes Maß an Sensibilität in Bezug auf Wendungen und rhetorische Figuren, die in der Partitur aufzuspüren sind. Es gibt auch nur wenige dynamische Angaben, Artikulationshinweise sind äußerst spärlich, Wort/Ton-Beziehungen müssen entdeckt werden. Aber genau diese Dinge sind essentiell für das Verständnis der Musik, für die Aufhellung der Handlung und für die Lebendigkeit der Interpretation. Darin entscheidet sich, ob der Zuhörer nur einfach beschallt oder von dieser Musik gepackt wird. Der Interpret hat ein hohes Maß an interpretatorischer Gestaltungsfreiheit und damit zugleich eine große Verantwortung für eine dem Werk adäquate Wiedergabe. Für einen Dirigenten eine faszinierende Aufgabe und Herausforderung!

Es ist unmöglich, hier auf all diese Situationen in den genannten Werken einzugehen. Dies bedarf des eingehenden Partiturstudiums. Stellvertretend sei nur auf mehrere Nummern des Passions-Teiles (2.Teil) des „Messiah“ oder die Schilderung der Plagen in „Israel in Egypt“, die Klage Israels über Sauls und Jonathans Tod in „Saul“ oder die Totenklage im 2. Teil des Alexanderfestes (Nr. 7 – 10) hingewiesen. Das ist ganz große, bewegende, mitreißende, emotionale Musik.

The Handel Festival at The Crystal Palace, London, 1857

Hier kommt nun ein weiterer, nicht ganz unproblematischer Aufführungs-Aspekt ins Spiel: Die Frage der verschiedenen Fassungen und Bearbeitungen. Allein vom „Alexanderfest“ sind 5 Fassungen überliefert (1736, 1737, 1739, 1742, 1751). Carus bietet sowohl die Erstfassung von 1736 als auch die letzte von 1751 an. Die Unterschiede sind nicht unerheblich und es bedarf der sorgfältigen Abwägung, wofür man sich als Interpret entscheidet. Dennoch kann man davon ausgehen, dass diese verschiedenen Fassungen keine Werk-Fassungen, sondern Aufführungs-Fassungen sind, d.h., Händel hat das jeweilige Werk den vor Ort gegebenen Aufführungsmöglichkeiten angepasst (zur Verfügung stehende Instrumentalisten, Vokalsolisten, Chorqualität, Aufführungsraum, Unterhaltungsfaktor für das Publikum usw.) und damit versucht, die Erfolgsvoraussetzungen für die Wiedergabe an diesem Ort zu optimieren. Es ist dennoch angeraten, nicht beliebig die verschiedenen Fassungen durcheinander zu wirbeln.

    Von „Messiah“ sind ebenfalls 5 Fassungen nachweisbar (1742 Dublin; 1743 London; 1745/49 London; 1750 London; 1754 „Foundling Hospital-Fassung“), auf die aber hier nicht näher eingegangen werden kann. In der neuen Carus-Ausgabe sind alle Varianten übersichtlich hintereinander aufgeführt. Von Händel selbst nie aufgeführte Alternativen finden sich in einem Appendix, so dass der Dirigent für seine eigene Aufführung eine fundierte Entscheidung treffen kann. „Messiah“ und  „Alexander’s Feast“ sind die schon zu Händels Lebzeiten mit größtem Beifall aufgenommenen Oratorien/Oden. Sie fanden eine weite Verbreitung und sicherten Händel Erfolg und Ruhm. Nicht von ungefähr sind es eben auch genau diese Werke, die Mozart später komplett bearbeitet und in ein klassisches Orchestergewand gekleidet hat.

    Das Oratorium „Saul“ erfuhr in seiner Händel’schen Rezeptionsgeschichte 3 verschiedene Aufführungsfassungen: 1738, 1739, 1741. Die Carus-Ausgabe folgt der ersten Fassung von 1738.

    Ein Sonderfall stellt das Oratorium „Israel in Egypt“ dar. Obwohl heutzutage meistens nur die Teile II („Exodus“, Auszug des Volkes Israel aus Ägypten) und III („Moses’ Song“, ein großer Lobpreis Gottes) aufgeführt werden, ist es doch ursprünglich ein dreiteiliges Oratorium. Interessanterweise komponierte Händel zuerst den dritten Teil, danach den zweiten. Erst nach Abschluss dieser Kompositionen entschloss er sich, daraus ein dreiteiliges Oratorium zu machen, indem er Teil II und III die Klage der Israeliten über den Tod Josephs (Sohn des israelischen Erzvaters Jakob) „The Ways of Zion do mourn“ voranstellte. Dabei griff er auf eine bereits vorhandene Komposition („Funeral Anthem for Queen Caroline“) zurück, die er nur geringfügig anpassen musste. In dieser Vollständigkeit erklang das dreiteilige Oratorium 1739/40 in London. In der Fassung von 1756-1758 entfiel das einleitende Funeral Anthem, dafür übernahm Händel Teile aus verschiedenen anderen eigenen Oratorien. Für die Rezeptionsgeschichte von „Israel in Egypt“ ergaben sich daraus zwei Stränge: Einmal das Oratorium in 3 Teilen, zum andern nur der eigentliche Auszug aus Ägypten mit den Teilen II und III. Das Funeral Anthem (Teil I) lebt nach wie vor auch sein Eigenleben. Dieser Tatsache entspricht auch die neue Carus-Ausgabe, die Teil I für sich und die Teile II und III als eigenen Band heraus gebracht hat. Damit kommt sie der Praxis sehr entgegen.

The final bars of the “Hallelujah” chorus, from Handel’s manuscript (Scanned from The Story of Handel’s Messiah by Watkins Shaw, published by Novello & Co Ltd, London 1963)

Hinsichtlich der Besetzung entfaltet Händel eine große Variabilität. Die Instrumentalbesetzung des „Messiah“ darf als eine Art Grundbesetzung der Händel’schen Oratorien gelten: Zu den Streichern gesellen sich 2 Oboen und 2 Trompeten plus Pauke. Die Bassstimme wird natürlich mit Cello und Fagott besetzt. Dazu ein 4-5stimmiger Chor und 4 Solisten.

Bei „Israel in Egypt“ wird der instrumentale Part um 2 Flöten und 3 Posaunen erweitert. Der Chorpart ist über weite Strecken doppelchörig, und trotz der geringen solistischen Aufgaben sind 6 Solisten erforderlich.

„Alexander’s-Feast“ weist einen opulenten Orchesterapparat auf: zu 2 Flöten, 2 Oboen, treten 3 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten plus Pauken hinzu, und auch die Streicher sind mit 3 Violinstimmen, 2 Bratschenstimmen, einem Solo-Cello, Tutti-Celli und Kontrabass üppig besetzt. Der Chor weitet sich stellenweise bis zur Siebenstimmigkeit, 4 Solisten ergänzen den ganzen musikalischen Komplex.

Noch abwechslungsreicher gestaltet sich „Saul“. Allein 12 Solo-Partien (die aber ggfs. mit 6 Solisten abzudecken sind) sind gefordert. Das Orchester entspricht dem von „Israel in Egypt“, verlangt aber zusätzlich noch als besondere Klangfinesse ein Carillon und eine Harfe.

Eine grundsätzliche Bemerkung zur Besetzung des Continuo: Je nach musikalischer Gegebenheit, Charakter und Affekt eines Stückes kann die Besetzung variiert werden. Dies betrifft die Bass-Linie mit Violoncello oder Fagott, ggfs. sogar Gambe und Kontrabass bzw. Violone genauso wie den harmonischen Bereich mit Cembalo, Orgel und Theorbe oder Laute. Je größer die klangliche Vielfalt und der Charakter der Instrumente, umso lebendiger und Musik affiner kann der Continuo-Part gestaltet werden. Diese Instrumentenkombination ist die Basis einer jeden Aufführung und kann schon alleine für sich unglaubliche Wirkung erzielen.

The chapel of the London’s Foundling Hospital, the venue for regular charity performances of Messiah from 1750

Von erheblichem Einfluss auf das Klangbild war die Aufstellung des gesamten Ensembles. Sie unterschied sich nicht unerheblich von der kontinentalen des 19. und 20. Jahrhunderts. Dazu sei Hans Joachim Marx aus seinem Standardwerk „Händels Oratorien, Oden und Serenaten“ zitiert: „In der Mitte der Bühne (stand) die Orgel, links und rechts von ihr waren ‚amphitheaterartig’, d.h. halbkreisförmig Podien aufgebaut, auf denen stufenförmig angeordnet die Instrumentalisten saßen. Vor der Orgel stand wahrscheinlich das Cembalo, neben dem sich rechts und links die Generalbass-Instrumente (Violoncello, Kontrabass, Theorbe u.a.) gruppierten. Hinter dieser Gruppe waren auf den Podesten die Streich- und Blasinstrumente arrangiert, auf den obersten Stufen waren die Hörner, Trompeten, Fagotte und Kesselpauken postiert. Vor dem Orchester befand sich der Chor, am vorderen Ende der durch eine Balustrade abgeschlossenen Bühne saßen die Vokalsolisten. Wie bei Opern-Aufführungen war am Proszenium ein Vorhang angebracht, der erst bei Beginn der Oratorien-Aufführung geöffnet wurde….Der gravierende Unterschied zwischen den englischen Oratorien-Aufführungen des 18. Jahrhunderts und den kontinentalen des 19. und 20. Jahrhunderts besteht demnach in der Aufstellung der Vokalsolisten und des Chores vor und nicht hinter dem Orchester. Daraus ergibt sich schon in akustischer Hinsicht eine Bevorzugung des Vokalen vor dem Instrumentalen, die auch den ästhetischen Vorstellungen der Zeit entsprach….“*. Eine bedenkenswerte Aufstellung für alle Interpreten und Veranstalter, deren räumliche Gegebenheiten eine solche Alternative erlauben würden!

Zuletzt seien noch einige Gedanken zur Aufführungspraxis angebracht. Natürlich muss zunächst jeder Dirigent entscheiden, ob er eine Aufführung mit modernem Instrumentarium, evtl. sogar in der klassisch-romantischen Tradition, oder in historisch informierter Musizierpraxis gestalten will. Überzeugend interpretiert, können beide Varianten der Musik Händels gerecht werden. Dennoch verhehlt der Autor nicht, dass er bekennender Anhänger der historisch informierten Aufführungspraxis ist. Speziell bei Händel lässt sich die Musik durchsichtiger, leichter, farbiger, rhetorisch griffiger, plastischer, klanglich gewagter, virtuoser und insgesamt sprechender und erhellender darstellen, wenn man sich konsequent der historisch informierten Aufführungspraxis zuwendet. Dazu gehört aber nicht nur ein auf diesem Gebiet spezialisiertes Instrumentalensemble, sondern auch ein in der barocken Musizierpraxis geschulter und versierter Chor ebenso wie Solisten, die klangästhetisch und gesangstechnisch (Koloraturen, Diminutionen!) mit barocker Musik bestens vertraut sind.

Dies ist jedoch ein weites Feld, das eines besonderen Studiums bedarf. Einige Hinweise dazu finden sich in der Messias-Partitur der Carus-Ausgabe. Hier sei jedoch auf die einschlägige Literatur zur barocken Aufführungspraxis verwiesen.

 

* Hans Joachim Marx: Händels Oratorien, Oden und Serenaten. Vandenhoeck & Ruprecht

 

Jürgen Budday war bis 2016 der künstlerische Leiter und Gründer des Maulbronner Kammerchors und des Musikfestivals Klosterkonzerte Maulbronn. Mit dem Maulbronner Kammerchor errang er mehrere 1. Preise (u.a. den 5. Deutschen Chorwettbewerb in Regensburg). Mit dem Maulbronner Kammerchor und internationalen Star-Solisten führte er zwischen 1994 und 2007 einen Händel-Oratorien-Zyklus auf, der auch auf CD eingespielt wurde. Regelmäßige Aktivitäten als Gastdirigent, Workshop-Leiter und Juror im In- und Ausland. 1998 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes der BR Deutschland. Seit 2002 Vorsitzender des Beirates Chor beim Deutschen Musikrat und damit  Gesamtleitung und Jury-Vorsitz des Deutschen Chorwettbewerbs. 2011 Ernennung zum Professor durch den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg. 2013 Verleihung des Georg-Friedrich-Händel-Ringes. 2014 Berufung zum Künstlerischen Leiter des Internationalen Kammerchorwettbewerbs in Marktoberdorf. Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Maulbronn. www.jbudday.de. Email: info@jbudday.de