Hommage an Veljo Tormis
von Raul Talmar, Chorleiter und Pädagoge, Präsident des estnischen Chorverbandes
Dieser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, eine musikwissenschaftliche Abhandlung zu sein, er ist vielmehr die persönliche und emotionale Hommage eines Chorleiters an Veljo Tormis und dessen Oeuvre.
Meine ersten Berührungen mit den Werken von Veljo Tormis machte ich als Sänger in dem Jugendchor Noorus während der Erarbeitung und Aufführung des Liederzyklus Dialectic aphorisms, einer Vertonung von Texten des estnischen Dichters Juhan Liiv. Der ‚Dialog‘ genannte Eröffnungs- und Schlusspart öffnete mir als jungem Mann durch seine Schlichtheit und Verknüpfung von Musik und Text die Augen. Die erste Hälfte des Liedes, in der es um eine große Nation geht, ist in Fortefortissimo (fff), H-Dur, Andante Grandioso (chauvinistisch) geschrieben. Die zweite Hälfte, die von einer kleinen Nation handelt, ist geschrieben in Piano, h-Moll und mit Semplice (nationalistisch) überschrieben. Durch diese klare musikalische Gegenüberstellung gelangt Tormis zu einer stark verallgemeinernden Aussage, die sich über die Vorstellung mokiert, dass eine Nation ihre Liebe zum eigenen Land höher wertschätzt als die Liebe jedweder anderen Nation zu ihrem jeweiligen Land.
Anfang der 1980er Jahre hatte sich Tormis eindeutig gegen das Herrschaftssystem positioniert (oder von seinen Überzeugungen bewegen lassen, Position zu beziehen). Besonders erfolgreich war seine Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Hando Runnel. Beide waren sowohl alleine als auch gemeinsam Meister einer besonderen Form von Ironie und Sarkasmus, die der estnischen Sehnsucht nach Freiheit Ausdruck verlieh, und ich bin überzeugt, dass diese beiden geistigen Säulen eine sehr wichtige Rolle bei der sogenannten Singenden Revolution spielten.
Werke wie Reflections with Hando Runnel (1981), Reflections with Lenin (1982), Virumaa and Pandivere, The Estonian Man and His Kind, Secret Woman (1981), Step Forward (1984) verliehen dem wachsenden Nationalstolz der Esten einen starken Impuls.
Auf das Werk Reflections with Lenin möchte ich gerne etwas ausführlicher eingehen, da der Titel leicht einen falschen Eindruck vom Inhalt des Werkes vermitteln kann. Zunächst sei angemerkt, dass die 1982 geplante Premiere von dem sowjetisch-estnischen KGB verboten wurde und die Noten konfisziert wurden. Tormis hatte bis dahin bereits bewiesen, dass er nicht nur zwischen den Zeilen sondern auch im Klartext Dinge thematisieren konnte, die für alle Esten von Bedeutung waren, wobei er nationales Unrecht ins Lächerliche zog oder direkt scharf kritisierte. Allein der Text des zweiten Teils des sechsteiligen Zyklus hätte ausreichend Grund geboten, die Musik zu konfiszieren: „Wir müssen unterscheiden zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus der unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem einer kleinen Nation. Für die andere Art von Nationalismus tragen wir, die Nationalisten einer großen Nation, historisch betrachtet fast immer die Schuld an endloser Gewalt und Beleidigungen …“ (Lenin, Werke Vol. 36, Seite 556, Tallinn 1959). Man muss dabei bedenken, dass es sich hierbei um ein vierstimmiges Chorwerk handelt, das für jedermann zugänglich ist (es gibt sehr viele Chöre in Estland). Ich erinnere mich natürlich auch sehr gut an die vielen Momente, in denen die Kraft des ‚gesungenen Wortes‘ bei den Aufführungen zu spüren war, wo die Musik eine beinahe körperlich spürbare Resonanz zwischen Chor und Publikum hervorrief. Das war die Zeit, in der ich wahrhaftig verstand, dass die Macht des Wortes weitaus mehr ist als nur eine Phrase.
Ich möchte auch ein früheres Werk erwähnen, nämlich eine Kantate zum Gesangsfest mit dem Titel The Beginning of the Song (der Text stammt auch hier von Hando Runnel). Diese war für die Jubiläumsveranstaltung des Gesangsfests (Song Celebration) des Jahres 1969 geschrieben worden, die anlässlich des 100. Jahrestages des ersten Gesangsfestes begangen wurde. Auch in diesem Werk kommt durch entsprechende musikalische Bezüge der zur damaligen Zeit und der bereits hundert Jahre zuvor herrschende Wunsch nach Unabhängigkeit zum Ausdruck, eng ineinander in einer Botschaft verwoben, die zum Himmel aufsteigt.
Weltweit betrachtet ist der von mir hier beschriebene Veljo Tormis wohl eher ein unbeschriebenes Blatt. Es scheint mir jedoch, dass eben diese kreative Sensibilität und tiefe Vertrautheit mit der Seele einer kleinen Nation die Triebkräfte hinter Tormis‘ Schaffen waren und ihn bewegten, durch seine Werke direkt gegen Lügen, Gewalt und Unvergänglichkeit zu kämpfen, und auch die Triebkräfte hinter dem zweiten Teil seines kreativen Oeuvres waren, nämlich der Neubearbeitung sehr alter finnisch-ugrischen Volkslieder.
Tormis schloss 1956 sein Studium am Moskauer Konservatorium ab, an dem Vissarion Shebalin, sein Professor für Komposition, die Studenten antrieb, sich selbst durch ihre Nationalität auszuweisen und sich in ihren Werken nationaler Klangwelten zu bedienen.
1958 stießen Tormis und seine Studenten auf der Insel Kihnu zufällig auf eine Hochzeitsgesellschaft, die in alt hergebrachter und traditioneller Weise feierte. Er verbrachte drei Tage als Gast auf der Hochzeit (die tatsächlich so lange gefeiert wurde) und machte die Erfahrung, dass als Begleitung der Feierlichkeiten die ganze Zeit über nur Variationen über ein einziges Thema gesungen wurden. Diese Erfahrung, das Erleben einer lebendigen Tradition, weckte sein tiefes Interesse sowohl an der Folklore von Kihnu als auch ganz allgemein an der estnischen Folklore vergangener Zeiten. (Kihnu ist eine kleine Insel in der Ostsee, wo die Frauen bis heute volkstümliche Tracht tragen, aber dennoch auf Motorrädern unterwegs sind.) Dieser Ort inspirierte Tormis dazu, Volkslieder zu schreiben und sich dabei authentischer Muster zu bedienen. Dies brachte den ersten vierteiligen Zyklus Kihnu Wedding Songs hervor. In diesem Zyklus finden sich noch Runenlieder in verschiedenen Tonhöhen und Tonarten und in einer in gewisser Weise abgeänderten Form. Doch schon in seinem nächsten größeren Werk, das er 1966 in Angriff nahm, dem fünfteiligen Zyklus Estonian Calendar Songs (1966-1967), bedient er sich volkstümlicher Themen in unveränderten Form, und seit dieser Zeit gilt: „Tormis macht sich nicht Volkslieder zunutze, Volkslieder machen sich Tormis zunutze“ (oder um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: „Tormis does not use folk songs, folk songs use Tormis“).
Seit diesem Zeitpunkt können wir kontinuierliche Zyklen verzeichnen: Livonian Heritage (1970 – 5 Teile), Songs of Song and Singer (1971 – 5 Teile), Votic Wedding Songs (1971 – 7 Teile), Seven Livonian Folk Songs (1972).
Mit votischen und livischen Liedern erwuchs ein neuer Schaffenszweig: Lieder seelenverwandter Völker. Den Abschluss dieser monumentalen Arbeit bildet die Sammlung „Vergessene Völker“ („Forgotten Peoples“): Livonian Heritage, Votic Wedding Songs, Izhorian Epic, Ingrian Evenings, Vepsian Paths, Karelian Destiny.
Bei all diesen sechs Zyklen bedient sich Tormis Volkslieder (oder auch umgekehrt) in unveränderter Form; mittlerweile hat Tormis diesen durch seine einzigartige Handschrift neues Leben eingehaucht.
Und wegen der Bedeutung möchte ich nochmals hervorheben, dass diese Themen und Texte der paganen und schamanischen Zeit entstammen (bis ca. 3000 vor Christus), als die Macht des Wortes das Leben des Menschen viel unmittelbarer lenkte und leitete als es heute der Fall ist. (Aber man kann ja nie wissen …)
Irgendwie treffen diese beiden Zweige des Schaffenswerks von Tormis in Curse upon Iron aufeinander. Es handelt sich hier zwar nicht um reine Folklore, doch findet sich eindeutig etwas Ursprüngliches und Kraftvolles in diesem schamanischen Werk. Und zwar etwas so Kraftvolles, dass ich nach dem erstmaligen Hören noch lange Zeit nach dem Konzert in einem trance-ähnlichen Zustand verharrte.
Der Mythos über die Entstehung des Eisens hat seine Wurzeln in dem finnischen Epos Kalevala. Tormis wollte den Mythos jedoch in einem weiter gefassten und moderneren Sinne verstanden wissen. Die Idee zu einem solchen Werk keimte in ihm um das Jahr 1966, doch allein das Verfassen des Textes beschäftigte drei Männer, August Annist (Haupttext), Paul-Eerik Rummo und Jaan Kaplinski (Ergänzungen), ungefähr sechs Jahre lang.
Das Hauptmotiv von Curse upon Iron beinhaltet drei Noten, die gerade mal eine Terz umfassen (A, B, C). Die Schamanentrommel war anfänglich noch nicht vorgesehen, doch dies sollte sich als Folge des Moskauer IMC Kongresses im Jahre 1970 ändern, als Tormis zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, sogenannte authentische Kalevala-Trommeln zu hören. Von dem Moment an war ihm klar, dass er das Werk für gemischten Chor und Schamanentrommel schreiben würde. Ein anderer glücklicher Umstand war, dass Lennart Meri (von 1992 bis 2001 der Präsident Estlands) eine solche Trommel besaß. Bis 1972 dauerte die Fertigstellung des Werks, und die Zusammenarbeit mit dem Kammerchor von Tallinn und dessen Leiter Arvo Ratassepp konnte beginnen. Die Erarbeitung des Werks bis zur Aufführungsreife dauerte ein ganzes Jahr. Sind wir doch mal ehrlich: wahrscheinlich wissen die meisten nicht, wie man wirklich „einen Fluch ausspricht“. Tormis vermochte dies wohl intuitiv, doch für viele Sänger war diese Art Gesang wahrlich schockierend. Ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt verwies in einem Schreiben an Tormis darauf, dass dessen Beharren darauf, so zu singen, wie es die Komposition vorgebe, noch nicht da gewesene Grausamkeit sei. Um nur einige wenige Beispiele aus der Bandbreite zu nennen: guttural, durch die Zähne, scharf, betont, vulgär, zweideutig, unheimlich, farblos, dumpf, zitternd, kreischend, in Todesangst, streng, gebieterisch, mit „brechender“ Stimme, schreiend.
Ich glaube, Curse Upon Iron ist derzeit eines der bekanntesten Werke von Tormis, und ich bewundere noch immer die aktuelle Zeitbezogenheit des Textes. Ich denke, dass bei Konzertaufführungen außerhalb von Estland durch nicht Estnisch sprechende Ensembles vor einem nicht Estnisch sprechenden Publikum die uralte Weisheit gleichwohl vermittelt wird: „Everything created by man may turn against man himself if he starts using his creation without attention to ethics. The evil hidden in iron will turn against the man through the man himself; if people will not listen to the voice of reason, iron may destroy everybody. According to folk wisdom, knowledge about the essence and creation of things will give people power over them. “ – Tiia Järg, Vorwort zu der 1991 überarbeiteten Ausgabe von Curse Upon Iron, englische Übersetzung von Urve Läänemets. [„Alles vom Menschen Geschaffene kann sich gegen den Menschen selbst wenden, wenn er sich dieses Werkes ohne ethische Reflexion bedient. Das im Eisen verborgene Übel wird sich – durch des Menschen Hand veranlasst – gegen den Menschen selbst wenden; wenn die Menschen nicht auf die Stimme der Vernunft hören, dann vermag das Eisen die Menschheit zu vernichten. Es ist eine Volksweisheit, dass das Wissen um das Wesen und die Entstehung von Dingen dem Menschen Macht über diese Dinge verleiht.“]
Zur Bestätigung dessen möchte ich ein paar weitere Sätze aus der ins Englische übersetzten Fassung zitieren:
“…New eras, new Gods and heroes, and cannons and airplanes and tanks, and guns. New steel and iron, brand new, intelligent, precise, powerful killers, equipped with automated guiding devices, armed with nuclear warheads, missiles invulnerable to defensive rocketry…. … Damn you, bastard! Wretched iron! We are kinsmen, of the same breed, of the same seed we have sprouted, you are earth-born, I am earth-born, in the black soil we are brethren. For we both live on the same earth and in that earth we two will merge. There will be land enough for both.” [Übersetzung basierend auf der wortgetreuen englischen Übersetzung von Eero Vihman: „Neue Zeitalter, neue Götter und Helden, und Kanonen und Flugzeuge und Panzer, und Schusswaffen. Neuer Stahl und Eisen, brandneue, intelligente, präzise, leistungsfähige Killer, ausgestattet mit automatischen Zieleinrichtungen, bestückt mit Atomsprengköpfen, für Raketenabwehrsysteme unangreifbare Flugkörper …. … Verdammt, du Biest! Du elendes Eisen! Wir sind artverwandt, aus dem gleichen Holz geschnitzt, aus der gleichen Saat hervorgegangen, du bist aus der Erde hervorgegangen, ich bin aus der Erde hervorgegangen, im schwarzen Erdboden sind wir Brüder. Denn wir beide leben auf derselben Erde, und in der Erde werden wir eins. Es gibt Platz genug für uns beide.“]
Hatte Tormis Vorbilder? In seinen Vorlesungen erwähnte er Vissarion Shebalin, seinen Kompositionslehrer am Moskauer Konservatorium, der erkannte, dass sich der deutsche Ansatz der Harmonielehre nicht auf Runenlieder anwenden ließ, und der auf Claude Debussy als Beispiel für moderne Harmoniegestaltung verwies („er war sicherlich einer von denen, die mir auf die Beine halfen“). Tormis schätzte auch sehr die Werke und Ästhetik eines Béla Bartók und eines Zoltán Kodály, die volksmusikalische Traditionen ebenso sehr zu schätzen wussten. Tormis erwähnte auch, dass der Leitsatz von Modest Mussorgski, nach dem sich die Melodie nach der Sprachmelodie richten und psychologisch gerechtfertigt sein solle, ein in puncto Kreativität wichtiger Gesichtspunkt sei.
Auf jeden Fall war er stets ein eigensinniger Este, der sogar aus Eigensinn Komponist wurde (Autobiographie A Composer out of Stubbornness, Prisma Print Publishing Huse, 2000).
Abschließend möchte ich noch ein Zitat aus einem anderen Lied von Tormis anführen (Juhan Viiding, ins Englische übersetzt von Dave Murphy und Jaak Johanson: We are given), das vielleicht eine Ahnung davon vermitteln kann, welch bedeutende Persönlichkeit Tormis war, ist und bleiben wird.
“We are given the potion, we are taking the portion. Still there is air in proportion, but we sense the distortion. And if we feel the distortion that may kill all that’s breathing, why don’t we already gather? We need to get together. We cannot be believing, so far apart we are living. Still being pushed together, we’ll get it never ever. Room is forever needed, lasting through ages heeded. Still we feel the distortion. Still there is air in proportion. Still we feel the… Still there is air in…” [„Der Trank wird uns gereicht, wir nehmen das Quantum. Noch gibt es Luft im verhältnismäßigen Umfang, aber wir spüren die Veränderung. Und wir empfinden diese Veränderung, die alles, was atmet, töten kann; warum also kommen wird nicht zusammen? Wir müssen aufstehen und uns zusammentun. Wir können nicht im Glauben bleiben, unsere Lebenswelten sind so weit auseinander. Solange wir zusammengedrängt sind, werden wir es niemals erleben. Platz wird immer wieder benötigt, das Bleibende über die Jahrhunderte hinweg wurde erkannt. Noch spüren wie die Veränderung. Noch gibt es Luft im verhältnismäßigen Umfang. Noch spüren wird die … Noch gibt es Luft im …“]
Raul Talmar (geboren 1959) schloss 1982 sein Studium der Chorleitung an der Musikakademie in Tallinn ab. Er sang seit 1977 in dem gemischten Chor Noorus mit und war von 1991 – 2012 der hauptverantwortliche Leiter des Chores. Zurzeit leitet er den gemischten Chor K.O.O.R. sowie den gemischten Chor des BFM-Instituts der Universität Tallinn. Davor arbeitete er mit dem Männerchor Academic Male Choir der Technischen Hochschule Tallinn, dem Männerchor der Handelshochschule Helsinki, dem Frauenchor der Näherei Klementi Sewing Factory, dem Kammerchor Pärnu Mattone, dem nationalen Mädchenchor Leelo, dem Russischen Chor Tallinns und dem Konzertchor der St. Charles-Kirche in Tallinn. 2006 wurde er vom estnischen Chorverband zum Chorleiter des Jahres ernannt. Seit 1993 leitet Raul Talmar gemischte Chöre und Frauenchöre bei den Jugendgesangsfesten und seit 2004 alle estnischen Gesangs- und Tanz-Feste. 2011 hatte er die künstlerische Leitung des Estnischen Programms des 16. Studenten-Liederfestes Gaudeamus inne. Raul Talmar ist seit 2008 Assistent der Chorleitung an der Universität Tallinn und seit Juni 2013 Präsident des Estnischen Chorverbandes. E-Mail: talmar.pohi@gmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Petra Baum, Deutschland