Iannis Xenakis (1922-2001) Gewalt und Sanftheit einer mathematisch-musikalischen Revolution

 

Isabelle Métrope, Chefredakteurin

Noch heute ist das Geburtsdatum von Iannis Xenakis umstritten. 1921 gemäß einiger wiederentdeckter Ausweispapiere, 1922 offiziell… Letzteres wurde schließlich vom Komponisten und von der Geschichte übernommen. So feiern wir in diesem Jahr den hundertsten Geburtstag eines absolut untypischen und nicht klassifizierbaren Mannes, revolutionär aber doch ruhig, überbordend aber auch minuziös, Musiker und Architekt, begeistert von der Natur, von Zahlen, von Gesetzen, aber auch von der Freiheit, und tief verbunden mit seiner Heimat Griechenland… und zwar mit der antiken!
Ursprung

Xenakis erinnerte sich gern an die Bedeutung seines Namens: “kleiner Ausländer” oder “sanftmütiger Ausländer”. Das Suffix -aki ist ein Diminutiv, welches “klein” oder “sanft” bedeuten kann. Xeno (Ξένος) seinerseits bedeutet “Ausländer, Fremder”.  Diese Bedeutung war für einen Mann nicht ohne Bedeutung, der überall fremd war oder sich so fühlte. In einer griechischen Gemeinde in Rumänien geboren, dann Internatsschüler in Spetses (einer griechischen Insel im Golf von Nafplio), später nach Frankreich verbannt, sagte er oft, dass er “fünfundzwanzig Jahrhunderte zu spät geboren wurde” und mit dem Fallschirm aus dem antiken Griechenland im westlichen zwanzigsten Jahrhundert gelandet war.
Musik begleitete seine Kindheit, und die Flöte, die ihm seine Mutter schenkte (sie starb, als er fünf Jahre alt war), weckte definitiv sein Interesse. Während seiner Internatsjahre in Spetses widmete er sich dem Studium von Philosophie, Mathematik und den Naturwissenschaften. 1938 kam er nach Athen und machte die Aufnahmeprüfung für die Polytechnische Hochschule mit der Idee, Ingenieur zu werden. Abends studierte er Analyse, Kontrapunkt und Harmonie…

Eine Wiedergeburt

Im Jahr 1946 wurde Iannis Xenakis, der schon seit einiger Zeit politisch engagiert war (er wurde mehrmals inhaftiert und sogar zum Tode verurteilt), von Granatsplittern getroffen (die Briten hatten Athen 1944 von den Nazi-Besatzern befreit, kämpften aber auch gegen die kommunistischen Demonstrationen, bei denen Xenakis in vorderster Reihe stand), die die Hälfte seines Gesichts zerstörten. In höchster Not gerettet, verliert er ein Auge, aber er überlebt und flieht 1947 heimlich aus Griechenland – mit seinem Ingenieursdiplom in der Tasche – mit der Absicht, in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Aber er bleibt in Frankreich hängen.

Später wird er in seiner Musik mehrmals versuchen, das Geräusch des Projektils, das in sein Gesicht eindrang, zu reproduzieren – ähnlich besessen bleibt er auch vom Klang der Straßenkämpfe in der Hauptstadt, eine Art ohrenbetäubender Musik.

Natur, Antike

Bevor wir chronologisch fortfahren, sei kurz das Weltbild, der Kosmos, von Iannis Xenakis erwähnt.   Sein imaginäres Eden ist das antike Griechenland, die Natur sein absolutes Vorbild.  Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt dieser Welt. Sie ist allumfassend und monumental – genau wie seine Werke, die geradeso blendend sind wie verwirrend, und das mit einer Intensität, die an Sättigung grenzt. Durch sie wollte er “die Menschheit verändern”.[1]

Xenakis und die Architektur

Als er 1947 nach Paris kam, wurde er Assistent des Architekten Le Corbusier. Gleichermaßen begeistert von Physik wie von Philosophie, von Kunst und von Sport begann er, die Verbindungen zwischen Musik und Architektur zu erforschen. Anfang der 1950er Jahre gab er für seine Kompositionen das traditionelle Notenpapier zugunsten des Millimeterpapiers auf, das viel besser zu seinem absolut nichtlinearen System passte und nicht auf harmonischen Theorien beruhte, sondern auf… mathematischen Gesetzen.  1954 wird Metastaseis sein erstes Werk sein, in dem die Musik gänzlich aus mathematischen Prozessen entsteht, wie sie auch in der Architektur verwendet werden.

Abstract of the score of metastaseis © Les Amis de Xenakis

Dieses zehnminütige Werk, das für fünfundsechzig Instrumente komponiert wurde, ist das Emblem der Synergie, welche Xenakis zwischen Musik und Architektur erstellt: Metastaseis ist sicherlich die Anwendung einer mathematischen Idee, aber die grafischen Skizzen der Partitur dienen später als Basis für die Gestaltung des Philips-Pavillons, der 1958 für die Weltausstellung in Brüssel errichtet wurde.   Dieser Pavillon wird Xenakis’ letzte Zusammenarbeit mit Le Corbusier, aber nicht seine letzte Konstruktion sein  – das Diatope, ein Gebäude, das anlässlich der Einweihung des Centre Pompidou im Jahr 1978 geschaffen wurde, um das Werk La Légende d’Er zu beherbergen, wird mathematische Prinzipien auf akustische Anfordernisse anwenden (zum Beispiel war es wichtig, ein Maximum an freiem Volumen aufgrund der Flugbahnen der für die Aufführung verwendeten Laserstrahlen zu erreichen).

Pavillon Philips © Herbert Behrens – Anefo

Xenakis und seine musikalische Ära

Als Xenakis nach Paris kommt, will er seine musikalische Ausbildung fortsetzen, wird aber von allen bedeutenden Komponisten abgelehnt, weil sie der Auffassung sind, seine Art zu komponieren sei “keine Musik”. Von allen außer einem, Olivier Messiaen, der ihm rät, seinen atypischen Weg beharrlich fortzusetzen und ihm erlaubt, seine Vorlesungen zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt ist die serielle Musik in Frankreich im Aufwind, aber Xenakis setzt dem überholten (und vom Wesen her melodischen) linearen musikalischen Diskurs eine, wie er sagt, Klangbewegung “der Massen” entgegen, die Bewegung großer komplexer Ensembles. Diese werden nicht mehr von den Gesetzen der Harmonie, sondern von denen der Zahlen regiert, welche ihrerseits von den Gesetzen der Natur inspiriert werden. Er selbst vergleicht diese Klänge mit Geräuschen, die von der Natur erzeugt werden: So entsteht das Geräusch des Regens durch Tausende von Wassertropfen, wobei wir uns inmitten dieses Klangs befinden und daher nicht in der Lage sind, ihn linear wahrzunehmen.  Hinzu kommt, dass sich das gesamte Werk ändert, wenn auch nur der Klang eines einzigen Tropfens verändert wird.

Er widersetzt sich so sehr allen melodischen Systemen, dass er 1955 La crise de la musique sérielle veröffentlicht. In diesem Artikel, der in der ersten Ausgabe der vom deutschen Musiker Hermann Scherchen herausgegeben Gravesaner Blätterveröffentlicht wurde – in französischer Sprache –, weist Xenakis auf die Sackgasse hin, in die sich die serielle Musik hineinmanövriert hat: Sie wird von sich her eingegrenzt durch die Zahl der zwölf Töne, die ihr von der Originalserie auferlegt werden, sowie durch ihre Organisationsregeln. Außerdem ist Xenakis der Ansicht, dass diese “lineare Polyphonie” selbstzerstörerisch ist, da die Komplexität ihrer Konstruktion es dem Zuhörer nicht erlaubt, jede einzelne Klanglinie zu verfolgen. Dieses im Wesentlichen lineare System führt des Weiteren zu einem Klangresultat, das sich keinen musikalischen Linien mehr nähert, sondern einer Masse. Dem setzt er die Unabhängigkeit eines jeden Klangs entgegen – also dessen Freiheit. Dabei stellt sich ihm, der gerade die von der Natur inspirierte Bewegung der Massen bevorzugt, die fatale Frage: Wie kann man diese Massen verständlich machen? Er wendet sich den Gesetzen der Physik und Mathematik zu, die auch die Architektur bestimmen, insbesondere den Wahrscheinlichkeitstheorien. Sein erstes Werk sogenannter “stochastischer” Musik (mit Hilfe eben dieser Wahrscheinlichkeitsrechnungen komponiert) ist Achorripsis (1957), für 21 Instrumente.  

Verräumlichung gestern und heute

Wie wir oben gesehen haben, denkt Xenakis global. Für ihn steht der Mensch nicht im Mittelpunkt der Welt, er ist vielmehr ein winziger Punkt des Universums und mit ihm verwoben.  Die Klangmassen, die er sich vorstellt, werden immer von der Natur inspiriert: ein Vogelschwarm, eine aus Tausenden von Sternen zusammengesetzte Galaxie, die Meeresströmungen… Parallel zu seiner Klangforschung (er wird später zu einem der Pioniere der computergestützten Musik) strebt er eine Verräumlichung von Musik und Licht an, welches er mittels Blitzlichter, Laserstrahlen oder wahnwitziger Projektoren in seine Kompositionen integriert. Die Verräumlichung, gut sichtbar in seinen Partituren und Gegenmittel zur linearen Musik, geht über die rein musikalische Komposition hinaus: Gelegentlich verteilt Xenakis seine Musiker unter die Zuhörer – oder umgekehrt (insbesondere in Nomos gamma 1967). Heutzutage ist man auf solche Strategien musikalischen Eintauchens schon gefasst. Aber wir befinden uns in den 1960er Jahren: Damals ist das Konzert noch frontal: auf der einen Seite die Interpreten, auf der anderen das Publikum!  Heutzutage findet die Musik – insbesondere die vokale – Gefallen daran, dem Publikum ein unmittelbareres musikalisches Erlebnis zu ermöglichen, indem es die Musiker mitten unter die Zuhörer oder um sie herum gesellt, ganz gleich, ob das betreffende Werk daraufhin komponiert wurde oder nicht.

Vokalmusik

Seit Zyia im Jahr 1952 komponiert Xenakis mit und für die Stimme, dabei gilt sein Vokalwerk hauptsächlich dem Chor. Für den Einsatz der menschlichen Stimme gilt ähnliches wir für sein übriges Werk: gern frei von Schreibgewohnheiten und zahllosen Regeln, vor allem von stimmlicher Rhetorik. Seine mathematischen Prinzipien wendet er sowohl auf die Stimme als auch auf die Instrumente an und entwickelt eine eigene Notation für die gewünschten Effekte wie auch bestimmte Symbole für Glissandi, Anweisungen zur Nachahmung eines Instrumentalklangs (“pizz.“ zum Beispiel) oder grafische Darstellungen, welche die Vorstellungskraft der Sänger ansprechen sollen (z. B. Klangwolken).  Nach dem Vorbild von Nuits(1967), für zwölf Stimmen, erkundet er verschiedene Formen stimmlichen Ausdrucks: Beifallsbekundungen, Husten, Hauchen, Stöhnen usw. Wobei er die Töne mit einer Fülle von Vorzeichen versieht – schwierig zu lesen, aber überaus spannend.

Abstract of the score of Oresteia © Copyright 1967
by Boosey & Hawkes Music Publishers Ltd.
Reproduced by permission of Boosey & Hawkes Music Publishers Ltd.
Solely for the use by International Federation for Choral Music

Da er sich eher als Altgrieche denn als moderner Zeitgenosse fühlt, benutzt Xenakis bei seinen Vokalwerken das alte Griechisch, wie z.B. in der Orestie, einem Werk für Chöre und vierzehn Instrumente, das von einigen professionellen Vokalensembles auch heute noch aufgeführt wird.

Polytope

Die Polytope, deren erstes 1971 auf dem Shiraz Festival im Iran (Polytope von Persepolis) aufgeführt wurde, stellen ein Konzept von Xenakis dar, das seine verschiedenen Forschungsgebiete synthetisiert.  Das beeindruckendste und symbolträchtigste war das von Mykene, Griechenland, im Jahre 1978. Das  Polytope à Mycènes vereinte die Musik von Orestie (nach Texten von Aischylos),  die Lieder A Hélène sowie  die von Oedipe à Colonne, für   Chöre und Instrumente,  mehrere Lieder und Interpolationen in alter mykenischer Sprache, dazu Geschichten aus der Ilias, Psappha für Solo-Perkussionist, Persephassa für ein Ensemble von Perkussionisten, sowie Mycenae Alpha, ein elektroakustisches Werk (das vollständig mithilfe des UPICkomponiert wurde, einem von Xenakis entwickelten tool, das aus einer Art Grafiktablett besteht, das mit einem Computerprogramm gekoppelt ist und es so erlaubt, Zeichnungen in Klänge umzuwandeln). Durch die unterschiedlichen Positionierungen der Ensembles innerhalb der antiken Stätte von Mykene war die musikalische Immersion bereits gegeben Aber Xenakis fügte dem natürlich weitere sensorische Elemente hinzu: Kinder mit Fackeln, deren Flammen Muster bildeten, Lichteffekte, die von Projektoren erzeugt wurden, die aus der Flugabwehr stammten (!!) und sogar eine Herde von dreitausend Ziegen, deren Hörner mit Kerzen geschmückt waren! Auch die Einwohner der Region waren an dieser gigantischen Produktion beteiligt, zusammen mit den Chören der Universität der Provence, dem Ensemble der Lothringischen Philharmonie, den Percussions de Strasbourg… das alles unter der Leitung des Schweizer Dirigenten Michel Tabachnik.

Diese immersive und für die damalige Zeit überdimensionierte Veranstaltung vereinte an fünf aufeinanderfolgenden Abenden 40.000 Zuschauer. Vor allem aber war diese kluge Mischung aus Antike, Moderne, Forschung, Licht, akustischer Musik (Chöre, Schlagzeug) und Elektroakustik (Alpha) die erste Aufführung eines Werks von Iannis Xenakis auf griechischem Boden – dieser hatte nach 27 Jahren Exil im Jahr 1974 erstmals wieder sein Heimatland betreten!

Polytope de Mécènes © Les Amis de Xenakis

Und heute?

Zeitgenössische Komponisten elektroakustischer Musik (und viele andere, wie sein Schüler Pascal Dusapin) wandeln auf den Spuren von Xenakis. Sein 1966 gegründetes Team für musikalische Mathematik und Automatisierung, das mehrmals umbenannt wurde und jetzt Iannis Xenakis Center heißt, war jahrzehntelang Labor für musikalische und wissenschaftliche Kreationen (insbesondere durch die Schaffung des oben genannten UPIC-tools). Was die Polytope betrifft (Persepolis, Cluny, Montreal, Mykene…), so bleiben sie ein besonderes Element von Xenakis’ Arbeit und werden Vorläufer sein.  Wenig später lässt sich der französische Musiker Jean-Michel Jarre, damals junger Komponist elektroakustischer Musik und Schüler von Pierre Schaeffer (ebenfalls ein Pariser Kollege von Iannis Xenakis), für sein erstes großes Freiluftkonzert in Paris von ihm inspirieren. Bald werden verschiedene Musikstile in verschiedenen Regionen der Welt dieses Konzept reproduzieren, um multidisziplinäre Freiluftkonzerte zu veranstalten, wobei sie elektroakustische Klänge, Musikerensembles, Lichteffekte und Inszenierung zusammenbringen. Das Tal von Mykene war seit 1978 nicht mehr Schauplatz von Polytopen, aber so wie in den griechischen Theatern immer noch die Lieder und Geschichten von Homer und Sophokles erklingen, erinnert sich die antike mykenische Stätte noch heute an die erschütternden – und triumphalen – Klänge des kaum fassbaren und einzigartigen Werks von Iannis Xenakis, Mathematiker, Komponist und Architekt, für immer unklassifizierbar.

CDs
  • Xenakis, Choral Music (Medea; Nuits; A Colone; Serment; Knephas). New London Chamber Choir, Dir. James Wood, Hyperion, 1998.
  • Xenakis: Phlegra – Jalons – Keren – Nomos Gama – Thalleïn – Naama – A l’île de Gorée. Ensemble Intercontemporain, Michel Tabachnik, Pierre Boulez, Sylvio Gualda, Ensemble Xenakis et al. Warner classics, 2007.
  • Sammlung von 14 CDs mit den Werken von Xenakis bei mode records.
Bücher
  • Xenakis Matters. Contexts, Processes, Applications. Sharon Kanach, Ed. Pendragon Press, 2012
  • Kanach, Sharon: Performing Xenakis. Pendragon Press, 2010
  • Musik und Architektur. Architectural Projects, Texts, and Realizations of Iannis Xenakis. Sharon Kanach, Ed. Pendragon Press, 2008 (erhältlich auf französisch bei Editions Parenthèses mit dem Titel “Musique de l’architecture”)
  • Iannis Xenakis, un père bouleversant. Mâkhi Xenakis. Actes Sud 2022
Videos

 

Isabelle Métrope ist Sängerin, Chorleiterin und Chefredakteurin des International Choral Bulletin. Sie studierte Sprachen & Wirtschaft sowie Musikmanagement, außerdem Dirigieren, Gesang und Musikpädagogik – dies alles Ursache wie auch Ergebnis einer zwanghaften Neugierde, die logischerweise zum Interesse an der systematischen Musikwissenschaft führte. Abgesehen vom Singen – solistisch und in mehreren Berufschören – gehören Layouten, Übersetzen, Kuchenbacken, Fotografieren und Reisen um das Mittelmehr zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. E-Mail: choralmagazine@ifcm.net

 

Übersetzt aus dem Französischen von Reinhard Kißler, Deutschland

 

[1] Auszug aus einem Interview, das im Dokumentarfilm „Xenakis Revolution – Baumeister des Klangs“ ausgestrahlt wurde, www.arte.tv