Inocencio Haedo und die Coral Zamora

von Rubén Villar, Technische Universität Valencia (UPV)

In der kleinen spanischen Stadt Zamora gewann ein Vokalensemble besonders zwischen 1925 und 1950 in der spanischen Musikszene an Bedeutung. Es handelte sich um den Coral Zamora, gegründet von Inocencio Haedo Ganza, Musiker, Dirigent und Komponist, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselfigur des musikalischen Lebens in der Stadt darstellte.

Inocencio Haedo wurde 1878 in der spanischen Stadt Santander geboren, wo er seine musikalische Ausbildung in der Stadtkapelle begann. 1892 wurde er dort als hauptberuflicher Piccoloflötenspieler[1] angestellt und verband diese Anstellung mit dem Erlernen der Harmonielehre, des Geigen- und Klavierspiels.[2]

1895 verließ Haedo mit seiner Familie Santander und ließ sich in Zamora nieder, wo er bis zu seinem Tod 1956 blieb. In diesen frühen Jahren arbeitete Haedo an seinem neuen Aufenthaltsort als Piano-, Flöten- und Geigenspieler, Arrangeur, etc.[3] Er begann auch eine Laufbahn als Komponist, und seine frühen Werke stammen aus dem späten 19. Jahrhundert. Bald interessierte er sich immer mehr für die Provinz Zamora und ihre Volksmusik, die ihm als Grundlage für einen Großteil seiner Chorkompositionen diente.

1900 gründete der Komponist seine erste bedeutende Musikgruppe: ein Vokalensemble für Männerstimmen mit dem Namen Orfeón El Duero.[4] 1906 wurde er zum Musikprofessor an der Fachschule für Lehrerinnen in Zamora ernannt[5], und ein Jahr später wurde er Musiklehrer am örtlichen Waisenhaus,[6] wo er das symphonische Blasorchester Banda Provincial de Zamora gründete.

1925 gründete Haedo sein wichtigstes und bedeutendstes Ensemble: Coral Zamora, einen 6-stimmigen gemischten Chor, dem der Komponist in den folgenden Jahren den größten Teil seiner Zeit widmete (er gab jedoch nie seine Lehrtätigkeit auf). Das Projekt seines neuen Ensembles war 1922 entstanden.[7] Dieser Chor behielt das Schema seines Vorgängers El Duero von vier Männerstimmen bei, fügte diesem jedoch zwei Frauenstimmen (Sopran und Alt) hinzu und bildete so einen sechsstimmigen gemischten Chor.

Das Debut fand im Juli 1926[8] am Nuevo Teatro von Zamora (heute Teatro Ramos Carrión) statt. Nach diesem ersten Konzert gab das Ensemble bald in ganz Spanien immer wieder Konzerte. 1927 verlieh die Königin Victoria Eugenia nach einigen Konzerten in Madrid dem Ensemble den Ehrentitel Real (königlich)[9], und daraufhin wurde der Chor bis zur Gründung der Republik 1931 in Real Coral Zamora umbenannt.

The Coral Zamora in its early years

1929, im selben Jahr, in dem das Ensemble Barcelona und andere Städte in Katalonien bereiste, wurde zwischen dem Coral Zamora und der Columbia Graphophone Company ein Vertrag zur Aufnahme eines Teils des Chorrepertoires auf sechs Schellackplatten unterzeichnet.[10] Die Sitzungen zur Aufnahme fanden in einem Ballsaal in Zamora statt[11] und es wurden 11 Stücke aufgenommen, die vom Coral Zamora gesungen und von seinem Gründer Inocencio Haedo dirigiert wurden. Der überwiegende Teil der Werke waren Haedos eigene Kompositionen.

Das Jahrzehnt zwischen dem ersten Konzert des Ensembles im Juli 1926 und dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 kann als Blütezeit des Chors bezeichnet werden. Während dieser zehn Jahre wurden mehr als 60 Konzerte veranstaltet, und 1935 begann eine Karriere außerhalb Spaniens, als das Ensemble Lissabon besuchen konnte und drei Konzerte gab. In einem davon war auch der Präsident der Portugiesischen Republik, António Óscar Carmona, anwesend.[12] Die Tour wurde teilweise von der spanischen Regierung finanziert[13], und Gastgeber war die Casa de España in der portugiesischen Hauptstadt.[14] Eine Reise nach Paris war zwei Jahre davor geplant worden,[15] fand aber nie statt.

1936 brach der Spanische Bürgerkrieg aus, und die Stadt Zamora befand sich von Anfang an in der Region, die von den Faschisten dominiert wurde. Aus diesem Grund wurde der Coral Zamora von der neuen Regierung für politische Zwecke benutzt, und es wurden zum Repertoire spanische, italienische, portugiesische oder deutsche faschistische Lieder und Hymnen hinzugefügt.[16]

Das erste Konzert während des Spanienkonflikts wurde im Januar 1937 in Salamanca veranstaltet,[17] der Stadt, in der General Franco zu dieser Zeit sein Hauptquartier eingerichtet hatte, und wo die verbündeten Länder ihre Botschaften hatten. Dieses Konzert war die Premiere, in der der Chor sein neues politisches Repertoire präsentierte, und unter den Besuchern waren viele Beamte der Regierung Francos und die Botschafter von Italien und Deutschland.[18] Bis zum Kriegsende 1939 trat der Coral Zamora nur selten und überwiegend bei politischen Veranstaltungen auf.

Nach dem Krieg hatte das Ensemble viele Mitglieder verloren, von denen einige inhaftiert, hingerichtet, im Kampf gefallen oder ausgewandert waren. 1940 formierte Haedo deshalb seinen Chor neu und nahm neue Mitglieder auf (Calabuig 1989, 197).

Zwischen 1941 und 1943 wurde der Coral Zamora ein Teil von Educación y descanso, der kulturellen Institution Francos, die die kulturellen öffentlichen Aktivitäten in Spanien während Francos Diktatur monopolisierte.[19] In dieser Institution war der Coral Zamora keine unabhängige und autonome Einheit mehr. Danach wurden die Auftritte bei rein musikalischen Konzerten des Ensembles (die übliche Aktivität des Coral Zamora vor dem Krieg) seltener, aber seine Beteiligung an politischen Veranstaltungen nahm zu und wurde die Hauptbeschäftigung des Ensembles nach dem Krieg. Der Chor hatte jedoch immer noch Gelegenheit, einige Konzertreisen während der 1940er Jahre zu machen, unter anderem die Teilnahme an einem Chorwettbewerb, der 1944 und 1946 in Madrid von Educación y Descanso  veranstaltet wurde,[20] 1945 ein Konzert in Oviedo[21] oder eine Reise nach Santiago de Compostela und La Coruña 1948.[22]

Die letzte Konzertreise des Coral Zamora führte 1951 nach Sevilla.[23] 1953, zwei Jahre später, zog sich der 75 Jahre alte Haedo aus seinem Berufsleben als Musiklehrer und Dirigent der Kapelle zurück, arbeitete jedoch bis 1956 weiterhin mit seinem Chor, bis seine gesundheitlichen Probleme wie Ohnmachtsanfälle und Schwerhörigkeit zunahmen und ihn endgültig zwangen, sein Ensemble zu verlassen.[24] Ein paar Monate später, im darauffolgenden August, verstarb der Musiker im Schlaf an einem Herzinfarkt.[25]

Nachdem der Komponist seine Arbeit niedergelegt hatte, bestimmte Educación y Descanso einen neuen Dirigenten. Es war der Militärmusiker Salvador Roig Olmedo aus Valencia,[26] der diese Stelle bis 1958 besetzte, als er zum Dirigenten der Toledo Infantry Academy Band ernannt wurde.[27] Unter der Leitung von Roig trat der Chor nicht öffentlich auf. Danach gab es in den Zeitungen vom Chor praktisch keine Nachrichten mehr. Was dann geschah, ist unklar, aber wahrscheinlich löste sich der Chor auf oder verschwand ganz.

Zur selben Zeit, als der Chor sich anscheinend aufgelöst hatte, wurde von den ehemaligen Mitgliedern des Coral Zamora ein neues Ensemble gegründet: der Coro Haedo, der die Chorwerke von Haedo weiterhin singen sollte.[28] Dieser neue Chor wurde von einem früheren Mitglied des Coral, Emilio Antón, geleitet, bestand kaum ein Jahr lang und gab nur ein paar Konzerte, von denen das bedeutendste in Madrid im Februar 1959 zur Spendensammlung für die Opfer der Tragödie stattfand, die sich in Ribadelago (Zamora) ereignet hatte, als ein Damm am Fluss Tera gebrochen war, 144 Menschen dabei ums Leben kamen und die ganze Stadt zerstört wurde.

Kurz nach diesem Konzert verschwand der Coro Haedo, und noch 1959 entstand ein neuer Coral Zamora.[29] Dieser Gruppe gehörten nur wenige Mitglieder aus Haedos Zeit an, und sie wurde auch von Antón dirigiert. Das Ensemble bestand bis in die 60er Jahre. Dieses Ensemble, das als letztes Ensemble seit der Gründung durch Haedo betrachtet werden kann, hatte nur ein paar kleine Auftritte in diesen Jahren, und soweit bekannt ist, fand der letzte 1964 statt.[30] Der Chor bestand bis ungefähr 1970, als er sich endgültig auflöste.

Was dem Coral Zamora seine Einzigartigkeit verlieh, war sein Repertoire. Ein Teil dieses Repertoires bestand aus Standardwerken aus der Renaissancezeit bis zum frühen 20. Jahrhundert, aber der größte und bedeutendste Teil des Repertoires des Coral Zamora, der die eigentliche Identität des Ensembles ausmachte, war die von Haedo komponierte Reihe von kurzen a capella-Stücken, die alle auf Volksliedern aus der Provinz Zamora basierten. Leider wurden diese Chorstücke immer weniger vom Ensemble gesungen, nachdem der Komponist 1956 den Chor nicht mehr dirigierte, so dass Haedos Werke in den letzten Jahren des Chors während der 60er Jahre nicht mehr aufgeführt wurden. Hinzu kam, dass diese Werke nie gedruckt wurden, und der Komponist selbst hatte es abgelehnt, sie für andere Ensembles zu kopieren, weil er dachte, dass andere Chöre und Dirigenten seine Werke nicht nach seinen Vorstellungen aufführen könnten. So existieren heute nur handgeschriebene Kopien von einigen Werken Haedos in unterschiedlich gutem Zustand. Viele davon sind aus dritter Hand oder unvollständig und manche davon sind ganz verloren gegangen. Diese Tatsache hat das Aufspüren der Gesamtheit der Werke behindert, auch wenn wir während unserer Recherchen die meisten dieser Werke wieder gefunden haben und so fast vollständig für zukünftige Proben oder Aufführungen zur Verfügung stellen konnten.

Rubén Villar hat einen höheren Abschluss als Bratschist vom Konservatorium in Vigo und einen Masterabschluss in Musikwissenschaft von der Internationalen Universität in La Rioja. Außerdem hat er seinen Abschluss als Lehrer an der Universität von Salamanca und in deutscher Philologie an der Universität von Valladolid erhalten. Zur Zeit arbeitet er als Bratschenlehrer am Musikkonservatorium in Ávila und schreibt seine Doktorarbeit über Inocencio Haedo am Technischen Universität von Valencia. Email: rvla55@hotmail.com

Übersetzt aus dem Englischen von Sibylle Walter, Deutschland

 

 

BIBLIOGRAPHIE

Bücher

Calabuig Laguna, Salvador. (1989). El Maestro Haedo y su tiempo. Zamora: Diputación Provincial.

Calabuig Laguna, Salvador. (1987). Cancionero zamorano de Haedo. Zamora: Diputación Provincial.

Casares Rodicio, Emilio (Hrsg.) (2002). Diccionario de la música española e hispanoamericana. Madrid (SGAE).

Zeitungen und Zeitschriften

Zamora’s oficial gazette

Heraldo de Zamora

Imperio

La Opinión de Zamora

El Adelanto

El Dardo de Plasencia

A Voz

O Século

Diário da Manhã

Merlú

Ritmo

Andere Schriftstücke

Datos biográficos del Maestro Haedo (1878-1941) (1941)

Coral Zamora concert programmes (1926-1951)

Ernennung von Haedo zum Musiker dritten Ranges durch den Stadtrat von Santander (24.03.1892)

Vertrag zwischen dem Coral Zamora und der Columbia Graphophone Company (1929)

Brief von Haedo an Teodoro Sánchez, Organist in Santander (1935)

Brief von Salvador de Madariaga an Higinio Merino (18.05.1933)

Brief von Henri Collet an Inocencio Haedo (21.04.1933)

Brief von Inocencio Haedo an Nicolás Gonzalez (1956)

Schriftstück über die Angliederung von Coral Zamora an Educación y Descanso (27.02.1943)

[1] Auszeichnung von Haedo als Musiker 3. Ranges durch die Stadtverwaltung Santander (24.03.1892), Privatsammlung.

[2] Ritmo (30.06.1930), S. 6.

[3] Beispiele in Heraldo de Zamora (07.12.1897), S. 3; Heraldo de Zamora (08.02.1899), S. 3; Heraldo de Zamora (04.08.1899), S. 3.

[4] Heraldo de Zamora (18.05.1900), S. 3; Heraldo de Zamora (22.05.1900), S. 2.

[5] Datos biográficos del Maestro Haedo (1878-1941) (Broschüre mit der Biographie von Haedo von 1941), Privatsammlung.

[6] Heraldo de Zamora (14.11.1907), S. 2.

[7] Calabuig, S. (1987). El Maestro Haedo y su tiempo. Zamora: Provinzialverwaltung.

[8] Heraldo de Zamora (04/07/1926), S. 1; Konzertprogramm  (04.07.1926), Privatsammlung.

[9] Heraldo de Zamora (22/05/1927), S. 1.

[10] Vertrag mit der Columbia Graphophone Company (30.08.1929), Privatsammlung.

[11] Datos biográficos del Maestro Haedo (1878-1941) (Broschüre mitHaedos biografischen Daten von 1941), Privatsammlung.

[12] A voz (26/03/1935); Diário da Manhã (27/03/1935).

[13] Datos biográficos del Maestro Haedo (1878-1941) (Broschüre mit Haedos biographischen Angaben von 1941), Privatsammlung.

[14] Heraldo de Zamora (14/02/1935), p. 1.

[15] Brief von Salvador de Madariaga an Higinio Merino (18.05.1933), Privatsammlung; Brief von Henri Collet an Inocencio Haedo (21.04.1933), Privatsammlung.

[16] Beispiele, die im Original in Haedos persönlichem Archiv gefunden wurden: Imperio (10.01.1943), Seiten 3, 6.; Heraldo de Zamora (20.01.1937), S. 2.

[17] Heraldo de Zamora (20.01.1937), S. 2.

[18] El Dardo de Plasencia (14.07.1903), Seiten 1, 2.

[19] Imperio (08.05.1941), S. 1, S. 2; Dokument über den Anschluss des Coral Zamora an Educación y Descanso (27.02.1943), Privatsammlung.

[20]Imperio, (14.04.1946), S. 3; Imperio, (26.04.1946), S. 3.

[21] Konzertprogramm (07.05.1945), Privatsammlung.

[22] Imperio, (10.08.1948), S. 3; Imperio, (12.08.1948), S. 1, S. 4. Imperio, (13.08.1948), S. 1.

[23] Konzertprogramm (05.10.1951), Privatsammlung; Imperio (05.10.1951), S. 1, S. 4.

[24] Brief von Inocencio Haedo an Nicolás Gonzalez (1956), Privatsammlung.

[25] Imperio (30.08.1956), S. 1, S. 2.

[26] Imperio (04.12.1956), S. 6.

[27] Konzertprogramm mit Curriculum der Toledo Infantry Academy Band (07.10.2017), Privatsammlung.

[28] Imperio, (23.05.1958), S. 5

[29] Imperio (27 de noviembre de 1960), p. 7.

[30] Merlú (yearbook from 1965), p. 40.