Zur Ausführung mikrotonaler Chormusik, Teil 2

Man macht sich die Hände schmutzig

von Robert Lopez-Hanshaw, Komponist und Dirigent

 

Emotionales Vorwort

Die meisten meiner Erfahrungen als Chorleiter bekomme ich bei Jugendchören und Laiengruppen. So muss ich normalerweise mit anderen Problemen und Schwerpunkten rechnen als vielleicht viele Leser der NMBx. [NewMusicBox, Internet-Zeitung für Neue amerikanische Musik, seit 1999]

Das Erste, was man über Chöre unterhalb der professionellen Ebene wissen muss, ist, dass wir uns nach meiner festen Überzeugung in ihr vor allem wegen der Gemeinschaft befinden. Da gibt es natürlich auch den Stolz auf die technische Ausführung! Aber viel mehr handelt es sich um die Vermittlung von Gefühl, dasselbe Gefühl zu erleben, und damit die Beziehungen der Gemeinschaft untereinander und mit einem Publikum herzustellen und aufrechtzuerhalten.

Außerdem ist es weitverbreitet, auf erfahrene Chorsänger mit beschränkter Fähigkeit zum Vom-Blatt-Lesen zu stoßen, die sich stattdessen auf ein fein entwickeltes Gespür verlassen, Melodien, die sie hören, zu behalten und zu wiederholen. Dann wird die Notation wie im mittelalterlichen Europa mehr zu einer Gedächtnisstütze als zu einer Anzahl ausdrücklicher Anweisungen.

Ein Faksimile der Handschrift für ‚Jubilate deo universa terra‘, das eine Reihe von linienlosen cheironomischen Neumen zeigt, die dem Psalmvers hinzugefügt sind.

Ein Vergnügen ist es, dass dies die Erfahrung gemeinsamer Musikausübung in den Bereich einer sehr großen Bevölkerungsgruppe bringt. Es ist eine Herausforderung, dass der Dirigent oft aus Notwendigkeit ein Lehrer ist. Daher gibt es für Laienchöre keine Garantie, dass die Sänger*innen das Bewusstsein für Partiturlesen haben werden, wie es das Kennzeichen eines Eliteensembles ist; und für viele ist garantiert, dass sie es nie erreichen werden!

Warum in aller Welt sollte irgendjemand versuchen, mikrotonale Musik in dieses Ökosystem zu bringen! Gut, es wird jedem helfen, die Aufmerksamkeit für Intonation zu verbessern – was dringend nötig sein kann. Aber, in eigener Sache: da gibt es neue Gefühlswelten zu erkunden, die mit den zwölf gleichgestimmten Tönen allein unerreichbar sind!

Ein Dirigent muss dagegen unter diesen Umständen das infrage stehende Stück an ein wahrscheinlich skeptisches Ensemble verkaufen. Wende deinen ganzen grenzenlosen Enthusiasmus an, um die folgenden methodischen Techniken zu unterstützen. Wenn die Sänger*innen dich schätzen, werden sie dem Stück eine Chance geben.

Alle Vorbehalte dann aus dem Weg, gehen wir zur technischen Seite.

 

Die technische Seite

Um mikrotonale Passagen beizubringen, empfehle ich einen „bimodalen, zielorientierten“ Zugang. Ich wählte diese Bezeichnung, weil ich eine Überschrift brauchte, die für einen Aufsatz genau war und gleichzeitig eindrücklich klang. (Es klappte.) Aber hier ist, was ich meinte:

Bimodal – das erfordert eine integrierte Wahrnehmung sowohl der horizontalen wie der vertikalen Seite jeder Tonhöhenänderung. Man muss sich also an die Beziehung einer neuen Tonhöhe zur gerade verlassenen Tonhöhe erinnern, aber auch den Zusammenhang innerhalb des Klangs, in dem man ankommt. In mikrotonaler Musik sind diese Aspekte oft eigenständig.

 Zielorientiert – dies bezieht sich auf das Vorwegnehmen des Bekannten, sei es nun melodisch oder harmonisch, oder sogar beides. Danach können sich Dinge, die sich einmischen, einfacher von selbst ergeben, sogar halb unbewusst.

Diese beiden Vorgehensweisen sind schon notwendig für gute Chormusiker*innen im Standardrepertoire, aber es ist nötig, sie für schwierige tonale Passagen unzweideutig zu verwenden. Ein Chorleiter könnte also an diesen Vorgehensweisen schon während des Semesters arbeiten, unmittelbar bevor ein mikrotonales Stück überhaupt auf dem Programm steht.

 

Ein tonales Beispiel der bimodalen Strategie

Eine beispielhafte Passage findet sich in O magnum mysterium von Francis Poulenc. Unter vielen Intonations-Problemstellen dieses Stücks beachte man den Tritonus im Tenor des Anfangs, der später mehrfach wiederkehrt.

Die ersten drei Takte in Francis Poulencs 4 Motets pour le temps de Noël, FP 152. 1

 Die meistens Sänger*innen können einen Tritonus herausbringen, aber es ist kein verlässliches Intervall. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man sie daran erinnert, wie er klingt, indem man Maria 2 [e-f-h] oder das Simpsons-Thema 3 [d-e-f-h] als Eselsbrücke nimmt. (Hier ist ein herzerwärmender roter Faden als Kommentar-Video: )

Sogar wenn jeder den Tritonus sicher trifft, wird doch jeder Einzelne ihn leicht anders ausführen, besonders wenn keiner der beteiligten Töne als Leitton dient. Der resultierende Ton des Ensembles kann unscharf sein. Und weil es ein „dissonantes“ horizontales Intervall ist, hat man oft die Erwartung, dass es auf einer Dissonanz landet.

Also, man singe es langsam, halte den Akkord auf einem langen Ton – und es wird klar, dass das verminderte C tatsächlich die Terz in einem G-Dur-Akkord ist!

Die Tenöre erleben diese Problemstelle nun ideell auf zwei Ebenen. Auf der einen singen sie einen Tritonus nach oben, ausgehend von der vorigen Note. Aber in anderem Zusammenhang besetzen sie eine klar „heimatliche“ Stelle in dem entstehenden Zusammenklang, die mit Tritonus-artigkeit nichts zu tun hat.

In Mikrotonalität ist es noch wichtiger, diese beiden verschiedenen Ebenen zu bewahren, weil diese Musik unweigerlich danach verlangt, einige unvertraute horizontale Intervalle zu singen – und weil der natürliche Instinkt der Sänger*innen meint, auf einer Vertikalen zu landen, die genau so „unvertraut“ ist, d.h. dissonant, und dieser Instinkt also vermutlich falsch ist.

 

Ein Satz zu Zielen

Wir kommen nun zum zielorientierten Teil der Annäherung. Wenn der Chor in mikrotonaler Musik zum Beispiel eine ungewohnte Abfolge kleiner Intervalle zu singen hat – man gebe ihnen eine grundsolide Idee des Intervalls, das sie umfassen, und die dazwischenliegenden Töne ergeben sich fast wie von selbst. Man kann sie später verfeinern, in einem zweiten Schritt.

Um zu bekräftigen, wie leicht dies klingen kann, wenn es geformt wird, gebe ich im Folgenden einen Ausschnitt aus einem Interview von Jacob Collier [*1994, Sänger, Arrangeur, Komponist und Multiinstrumentalist.], wo er dies unbekümmert an einer kleinen Terz zeigt. Versuch es selbst!

Die Transkription dieser Phrase, von June Lee [südkoreanisches Transkriptions-Genie] in einem Interview-Video aus dem Jahr 2017.4

Der zielorientierte Zugang ist nicht darauf beschränkt, bekannte Intervalle melodisch auszufüllen. Im weiteren Sinne handelt es sich darum, während einer Komposition eine Reihe von konzeptuellen Ankern anzubieten – wo die Singenden ihren Halt wiederfinden können, wenn sie ihn unterwegs verloren haben sollten. Das kann heißen, melodische Intervalle wie oben anzusteuern, aber auch harmonische Intervalle zum Intonieren anzusteuern (wie z.B. bei einem musikalischen Einstieg), oder aber Akkorde.

Das Neue ist hier, dass die Zielpunkte nicht musikalisch hervorstechend innerhalb des Stücks sein müssen – sie können auf unbetonten Taktteilen oder auf unbedeutenderen Stellen innerhalb des Satzes auftreten, usw. Sie müssen den Singenden nur schon bekannt sein, die sie dann zum Neukalibrieren benutzen können. Zum Beispiel könnte eine exotische Klangkadenz musikalisch beabsichtigt, muss aber nicht das konzeptuelle Ziel sein – diese Rolle könnte eine benachbarte, weniger wichtige, bekanntere Sonorität sein.

Hier ist ein Ausschnitt davon in einem meiner Stücke (ein Video kann davon man in NewMusicBox 5 anschauen):

Dies geht von einem richtigen A-Dur-Akkord zu einem 7:9:11 in der harmonischen Zwölftton-Serie, in der von mir bevorzugten Notation der 72-gleichteiligen Oktave (oder „72EDO“). Letztere ist überraschend leicht festzulegen, weil man eine sehr bekannte Stelle verlässt und jede Stimme sich im Grunde in Vierteltönen bewegt – ein Abstand, der sich leicht üben lässt. Der gemeinsame Grundton hilft auch.

 

Das Einrichten des Scaffolding*

Eine andere Sache, die man zum Unterricht von mikrotonaler Musik verwenden sollte, ist die pädagogische Idee des Scaffolding, oder die „Zone der nächsten Entwicklung“. Dies bedeutet, dass jedes neue Konzept sich zu unmittelbar benachbarten Konzepten in Beziehung bringen muss; und diese nebeneinanderliegenden Konzepte rufen den Einblick auf das persönliche Niveau hervor.

Ein Beispiel: Man lernt nicht zu lesen, indem jemand sagt, wie man lesen soll. Man lernt nur lesen, wenn man selbst die Verbindung herausfindet zwischen dem Klingen von Buchstaben und der Art, wie sie sich zu Wörtern zusammensetzen. Ein/e Grundschullehrer*in liefert nur die Voraussetzung für diesen Sprung durch das Einprägen von Buchstabenklängen und dann mit einfach zu entschlüsselnden Verbindungen (und anschließend mit nicht so einfachen).

Hier ist das Prinzip wichtig. Trotz der Attraktivität einer Methode mit Brachialgewalt wie z.B. das Auswendiglernen nach einer künstlich hergestellten (synthetisierten) Aufnahme (heutzutage leicht dank veränderter Technologie!), wird diese Vorgehensweise für die meisten Leute nicht Erfolg haben – weil sie die Bausteine zum „Festsitzen“ der neuen Intervalle nicht verinnerlicht haben. Und viele könnten zunächst nicht Willens sein, diesen großen technischen Sprung zu tun; nicht deshalb sind sie in einem Chor.

Also müssen wir nach der Möglichkeit suchen, wie wir das Scaffolding [den Gerüstbau]  anbieten können.

Wir haben schon zwei wichtige Dinge behandelt, die im normalen Chorsingen vorkommen und auf mikrotonales Singen angewandt werden können. Nun folgt eine Liste zusätzlicher Ansätze, von denen einer auf dem anderen aufbaut, und einige Hilfen, sie zu bewältigen. Es gibt zwei Pfade, den Weg der reinen Stimmung und den Weg äquidistanter Tonleitern.

 

Der Weg reiner Stimmung: ausdrucksvolle Intonation

Paradoxerweise beginnt dieser Weg mit dem Gegenteil reiner Stimmung: „ausdrucksvolle Intonation“ 6.

Kein anderer als Ezra Sims, der große Verfechter der Aufteilung der Oktave in 72 gleichgroße Schritte, wurde durch seinen studentischen Chorleiter Hugh Thomas auf den mikrotonalen Pfad gesetzt 7. Thomas verlangte von seinen Chören sehr hohe Leittöne vor der Auflösung in die Tonika, dazu sehr tiefe Quarten, wenn sie sich zu Terzen auflösten, unter anderem. Unter einem solchen Einfluss, sagt Ezra Sims, „ist man verpflichtet, es schwerzufinden, daran zu glauben (ganz gleich, wie Tasteninstrumente einen überzeugen wollen, dass es doch so ist), dass es nur ein gis gibt, eine Tonhöhe, die für immer und ewig festgelegt ist. Amen.“

Ausdrucksvolle Intonation in ihrer gröbsten Form ist sehr intuitiv. (Übertreibung der Tendenz ihrer Tendenztöne!) Wenn man also mit ausdrucksvoller Intonation das Ziel erreichen kann, Sänger*innen aus dem Denkweg fester Tonschritte herauszuschlagen, dann glättet das erheblich den Weg voraus.

 

Reine Stimmung aktuell

Auf der Website des Verlages Seeadot 8 von Fahad Siadat gibt es eine Serie von (weiter fortzuführenden) Artikeln, die in das Thema Reine Stimmung für Chöre einführen. Andere, ausführlichere, jetzt erhältliche Quellen sind die schon in meinem vorhergehenden Teil 1 aufgeführte Harmonic Experience von W[illiam] A[llaudin] Mathieu [Rochester, Vermont:  Inner Traditions International, 1997], ferner The Just Intonation Primer: An Introduction to the Theory and Practice of Just Intonation von David M. Doty [*1950] [San Francisco: Just Intonation Foundation, 1994], das eher genauer ist.

Ein erfahrener Chorleiter könnte sich dazu entscheiden, nur an einigen wenigen Intervallen zu arbeiten. Es ist sinnvoll, mit großen Terzen und harmonischen Septimen zu beginnen, weil sie einfach vorgeführt werden können. Man bringe einen Cellisten dazu, natürliche Obertöne zu spielen und vergleiche sie mit dem Klavier! Oder man lasse ein hochrangiges Barbershop-Quartett einige Akkorde einschwingen! Zunächst entwickelt man nur eine Idee, dass es mehrere verfügbare „Geschmacksnoten“ für ein gegebenes Intervall gibt, jede mit verschiedener Funktion.

Man verwende, was für das vorliegende Stück wichtig ist. Wenn der Chor nur die harmonische Septime seinem Vokabular hinzufügt, dann reicht das, um an einem Stück wie I’m Goin‘ Away von Ben Johnston zu arbeiten zu beginnen. Tatsächlich hat Jeff Gavett, der Leiter des Ensembles Ekmeles für zeitgenössische Musik, erfolgreich Universitätsensembles in Übungen Rose von Ben Johnston singen lassen – noch ein Stück, in dem der einzige „neue“ Klang die harmonische Septime ist.

 

Komma-Verschiebungen abschätzen

Ross W. Duffin ist bekannt durch sein Buch über mitteltönige und wohltemperierte Stimmungen How Equal Temperament Ruined Harmony (And Why You Should Care) [New York: Norton & Co., 2008]. Er schrieb aber auch eine wunderbare Verteidigung und Anleitung für die Methode der reinen Stimmung, die von der Lokalisierung und Verwendung des syntonischen Kommas abhängt. Das ist ein sehr hilfreicher Weg, systematisch über die Stimmung von Terzen, Sexten und Septimen im Unterschied zu Quarten und Quinten nachzudenken. Er ist frei im Internet zugänglich. 9 Und er enthält sogar Übungen, um typische Intonationsprobleme anzugehen, die sich einstellen können.

Das Hilliard Ensemble und die Nordic Voices verwenden jeweils die Grundmethode 10 (in Einzelheiten abweichend) bei ihren Übungen. Wenn Ihr Chor in einem Semester Renaissance-Kontrapunkt singt und die Intonation aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann man im kommenden Semester die Mikrotonalität weiter ausdehnen.

 

Erweiterte Reine Stimmung

Jetzt kommen wir zu unverständlichem Zeug. Mit viel Wiederholung und einer grundsoliden Referenz ist es möglich, Intervalle der höheren Obertöne der harmonischen Reihe auswendig zu lernen und wiederzugeben.

Eine mögliche Referenz ist Oberton-Singen 11, das – auf einer niedrigen Grundlage – verlässlich Oberschwingungen mindestens bis zum 14. Oberton hervorbringen kann, vielleicht noch mehr. Ein umgestimmtes digitales Tasteninstrument ist eine andere mögliche Quelle.

Hier sind aber auch beeindruckend viele Übungsansätze verfügbar: Andrew Heathwaite entwarf ein System, durch jedes mögliche Intervall zu singen, das zwischen den Gliedern einer bestimmten Gruppe von Oberton-basierten Tonstufen auftritt (die er reizvoll Singtervals nennt)12. Andere haben darauf aufgebaut. 13  Es ist überraschend logisch und intuitiv und verwendet Kodálys chromatische Solfège-Silben im Beweglichen Do, leicht verändert.

Wenn Chorsänger*innen sich das Zuhören, Verstehen und Singen dieser Art von Matrix als Teil der täglichen Übung angewöhnen würden, könnten sie sich bald ohne viel Mühen einem stark obertonhaltigen (oder untertonalen) Stück wie Contrasten von Henk Badings annähern.

 

Der Viertelton-Weg: Zwischen den Tönen

Wenn wir wieder am Beginn eines neuen Pfades starten, können wir die Fähigkeit der Leute, in etwa ähnliche Töne zwischen den Tonhöhen eines kleinen und bekannten Intervalls zu singen, dazu nutzen, ein Gitter von echten Vierteltönen zu entwickeln. Man könnte damit beginnen, dem normalen Einsingen einfach eine Übung hinzuzufügen: Sing f – ges, dann f – f einen Viertelton höher – ges; und dann dasselbe umgekehrt. Die Außentöne können natürlich einfach am Klavier kontrolliert werden. 14

 

Volle 24-Ton-Skala

Es wird dann richtig interessant, wenn man diese einfache Technik auf alle Zwischentöne der chromatischen Skala anwendet. Robert Reinhart [* 1975], der an der Northwestern University [Bienen School of Music, Chicago, Ill.] Musiktheorie und Gehörbildung unterrichtet, fügte den Vierteltönen zwischen den Solfège-Noten eigene Vokale hinzu, z.B. (im Internationalen Phonetischen Alphabet) /ra/ /rɛ/ /re/ /rɪ/ /ri/[1]5 für alle Varianten des re der zweiten Skala. Dann entwarf er fortschreitende Übungen, um das Ohr an die neuen Intervalle zu gewöhnen – und verwendete sie in der Klasse. In vielen Fällen heißt das, zunächst bekannte Intervalle zu singen; dann werden die Zwischenräume mit Vierteltönen gefüllt. Und schließlich werden nur die veränderten Tonhöhen gesungen, während man den bekannteren umgebenden Tönen zuhört.

Dies ist nur eine Erweiterung des Vom-Blatt-Singens in den Systemen des Beweglichen Do! Um zum Beispiel die Vorlage do-fa-la beizubringen (für Anfänger schwierig), kann man öfter die Dur-Skala singen und dann nach und nach die dazwischenliegenden Töne re, mi und sol fortlassen; erst hört man ihnen zu und macht dann den kognitiven Sprung, nur do-fa-la ohne Hilfe.

Reinhart hat über diese Sache vorgetragen und arbeitet zur Zeit an einer systematischen Sammlung von Übungen im Viertelton-Solfège, nach Schwierigkeit gestaffelt.

Man könnte dieses elementare Gerüst auch anwenden, um z.B. Halbtöne in Gruppen von Sechsteltönen zu teilen – oder ganze Töne in Fünfteltöne, wenn man enharmonische Stücke der Renaissance singt. 16  Die verwendeten Vokale in der erweiterten Solfège sind nicht so wichtig, solange man sie konsequent anwendet.

 

Noch tiefgründiger: die 72-Töne-Skala

Julia Werntz vertritt im Augenblick die Tradition der 72EDO-Hörfähigkeiten am New England Conservatory [Boston, MA] in der Nachfolge von Joe Maneri. Sie lehrt Studierende in Zwölfteltönen zu hören, aufzuführen und zu komponieren – das heißt, jeden Viertelton noch einmal zu dritteln. Ihre Klasse entwickelt zunächst ein Viertelton-Gerüst und entwickelt es dann weiter. Das Lehrbuch zum Kurs, Steps to the Sea: Ear Training and Composing in a Minute Equal Temperament [zunächst in: 1001 Mikrotöne / 1001 Microtones; Hrsg. Sarvenaz Safari, Manfred Stahnke. Neumünster: von Bockel Verlag, 2014; danach bei Frog Peak Music, 2015; ISBN-13: 978-0945996132] ist sowohl (mit vielen Hörbeispielen und CD) leicht verständlich wie leicht zu schaffen.

Während wir zu Zwölfteltönen gelangen, verzweigen sich die Pfade der reinen Stimmung und der äquidistanten Intonation. Besonders für Singende korrespondieren die einfacheren Intervalle der reinen Stimmung so komplett mit Tonhöhen im Spektrum der 72-stufigen Oktave, dass der Unterschied – ein Maximum von 5 Cents, meist unter 3 Cents – buchstäblich kaum mit der Stimme produziert werden kann.

Tatsächlich zeigt eine kürzlich erschienene Studie von Matthias Mauch und anderen 17 , dass selbst für erfahrene Sänger*innen sowohl die Unterschiedsschwelle wie der mittlere erzeugte Tonhöhenfehler einer beliebigen Note um 18 bis 19 Cent liegen – ein bisschen über einem ganzen Zwölftelton! Die Studie behandelte melodischen Sologesang, und die Intonationsgenauigkeit kann beim Obertonsingen 18 etwas höher sein (besonders beim Barbershop 19), aber nicht so viel, wie man denken würde.

(Verschiedene Quellen geben unterschiedliche noch eben wahrgenommene Tonhöhendifferenzen an, und 5-8 Cent ist der üblicherweise genannte Wert. Aber im Zusammenhang mit gesungenen Tonhöhen scheint ein wenig mehr Chaos zu herrschen.)

Zum Glück, falls man sich wundert, können Mikrotöne tatsächlich gelernt werden 20 , und die Gehörbildung in 72EDO hat wirklich das Ergebnis, die Tonhöhenunterscheidung und die Fähigkeit zur Erzeugung zu erhöhen. Es zähmt etliches des normalen Chaos beim Musizieren.

 

Das Endergebnis

Wenn Sie all dies mit Ihrem Chor erprobt haben, dann sind Sie besessen und die Singenden  sind Heilige. Was Sie tatsächlich tun sollten, ist, etwas herauszunehmen und unter diesen Möglichkeiten zu wählen, je nachdem was in dem Stück selbst vorgeht. Das habe ich getan. Wo ich selbst aber irgendeine besondere Technik noch nicht angewandt haben sollte, ist sie schon von anderen praxiserprobt worden. Alle tun wirklich das, was sie fordern.

 

Fazit: Praktische Einzelheiten

Es folgen ein paar verschiedene Vorschläge zum Lehren, die ich für den Unterricht im Mikrotonsingen mit Chören geben kann.

 

Benutzen Sie das Einsingen, um neue musikalische Konzepte zu untermauern, wenn das bisher noch nicht klar war. Warum soll man die ganze Zeit mit dem Singen von Dur-Tonleitern oder Arpeggien vergeuden, wenn man stattdessen Vierteltöne als Wiederholung üben könnte oder Obertonreihen aufbauen? Dies verkürzt die Unterrichtsdauer am mikrotonalen Stück selbst.

 

Spielen Sie auf keinen Fall einen Cluster anstelle eines dazwischenliegenden Tones, wenn Sie eine mikrotonale Melodie am normalen Klavier darstellen wollen. Das hilft nicht, sich den Ton vorzustellen („hören“ wir ein D, wenn C-E gespielt werden? Überhaupt nicht! Wie sollen wir also ein D um in Viertel erhöht hören, wenn D-Es gespielt wird?), man produziert eine Dissonanz, die der Chor Ihnen bereitwillig liefern wird. Besser den erhöhten Ton überspringen, oder noch besser:

 

Singen Sie vor, wo immer es möglich ist. Dies ist nicht nur leichter, als einem Tasteninstrument zu folgen, sondern beweist auch, dass die Stelle tatsächlich ausgeführt werden kann.

 

Stimmen Sie das Tasteninstrument um, wenn es digital ist. Die Aufgabe ist heutzutage grundsätzlich unbedeutend, wenn die Technologie verfügbar ist; vielleicht ist es für Sie persönlich nicht so. Wenn das so ist, und Sie die Person sind, die das hier liest, dann haben Sie bestimmt Freunde, die so große Nerds wie Sie sind, aber mit Computern. Sie können sie um einen Gefallen bitten oder sie dazu anstellen. BitKlavier 21 ist eine freie Software mit einer einfachen Lernkurve; wenn man in Max/MSP programmieren kann, sollten sie Pure Data 22 ohne viel Umstände verwenden können, auch das frei; oder Sie könnten für PianoTeq Standard 23 bezahlen, das eine professionelle Klangqualität und sehr gute mikrotonale Stimmmöglichkeiten mitbringt. Es gibt noch viele andere Möglichkeiten; aber diese reichen für den Anfang.

 

Kritisch ist es, eng mit dem Begleiter zusammenzuarbeiten, vor allem, wenn irgendwelche Tasten stark umgewidmet worden sind! Aber noch einmal, wenn Sie die Person sind, die dies liest, dann ist Ihr Begleiter wahrscheinlich auch dazu bereit.

 

Zuerst alle üblichen Fragen mit dem Chor besprechen –sprechen Sie den Rhythmus des Stücks, weisen Sie auf präzise Schlüsse hin, verwenden Sie ausdrucksvolle Phrasierung, erklären Sie den Text – so dass der Chor realisiert, wie viel sie schon wissen und was noch zu tun ist.

 

Eine gute Atemstütze ist absolut unentbehrlich. Fremdheit bringt Mangel an Selbstvertrauen mit sich, Mangel an Selbstvertrauen erzeugt eine falsche Atemstütze, die falsche Atemstütze erzeugt absackende Tonhöhe und schlechte Klangfarbe, all dies macht das Projekt unendlich schwieriger. Verlieren Sie also nie den Blick auf den gutgestützten Klang und kommen Sie oft auf ihn wieder zurück.

 

Am wichtigsten aber ist, dass Sie Freude an der Musik vermitteln. Und ist es nicht das, um was es immer geht?

 

Dieser Artikel erschien zuerst in NewMusicBox (nmbx.newmusicusa.org), dem Webmagazin von New Musiv USA, und wird hier mit Genehmigung nachgedruckt und übersetzt.

 

  

1 https://www.youtube.com/watch?v=cOVAJI7SLXE

2 https://www.youtube.com/watch?v=DyofWTw0bqY&t=31

3 https://www.youtube.com/watch?v=Xqog63KOANc

4 June Lee, Interview: Jacob Collier, Part I. https://www.youtube.com/watch?v=DnBr070vcNE – Seine volle Diskussion über das Subjekt startet bei 10:12, aber sehen Sie ruhig alles an, der Typ ist so geil.

5 Robert Lopez-Hanshaw, Vokas Animo (Performing Microtonal Choral Music: The End Product). https://nmbx.newmusicusa.org/vokas-animo/

6 Pamela Hind O’Malley, Cellist Pablo Casals on Expressive Intonation. https://www.thestrad.com/playing/cellist-pablo-casals-on-expressive-intonation/1434.article

7 Ezra Sims, Yet Another 72-Noter. Computer Music Journal. Vol. 12, No. 4 (Winter, 1988), pp. 28-45

8 https://www.seeadot.com/

9 https://casfaculty.case.edu/ross-duffin/just-intonation-in-renaissance-theory-practice/

10 Frank Havrøy, ‘You Cannot Just Say: “I Am Singing The Right Note”’. Music & Practice, Volume 1.    https://www.musicandpractice.org/volume-1/intonation-neue-vocalsolisten-stuttgart/

11 https://www.youtube.com/watch?v=vC9Qh709gas

12 Andrew Heathwaite, Singtervals. https://soundcloud.com/andrew_heathwaite/11-limit-singtervals

13 Casey Hale, N-Odd-Limit Diamond Solfege. https://archive.org/details/n-odd-limit_diamond_solfege

14  Dies ist ein Ausschnitt des Tucson Symphony Chorus bei dieser Aktivität, während des Einsingens für mein Stück vokas animo: https://www.youtube.com/watch?v=yRHH1ZYZEx8

15 Diese Vokalformen gibt es in englischer und deutscher Sprache, aber nicht in vielen anderen Sprachen. Für diese Sprachen können andere Zwischenvokale eingesetzt werden, wie z.B. /ra/ /rø/ /re/ /ry/ /ri/.

16 Elam Rotem and Johannes Keller, Emilio de’ Cavalieri’s mysterious enharmonic passage. https://www.youtube.com/watch?v=-tyIvhv1hc0

17 Matthias Mauch, Klaus Frieler, und Simon Dixon, Intonation in unaccompanied singing: Accuracy, drift, and a model of reference pitch memory. Journal of the Acoustic Society of America 136 (1), July 2014.

18 S. D’Amario et al., A Longitudinal Study of Intonation in an a cappella Singing Quintet. Journal of Voice 2020 Jan; 34(1):159.e13-159.e27.

19 B. Hagerman und J. Sundberg, Fundamental frequency adjustment in Barbershop singing. Speech Transmission Laboratory Quarterly Progress and Status Reports. 21 (1) 1980: 28-42.

20 Charles Norman Bates, Developing the ability to recognize microtones. PhD dissertation, 1992.

21 https://bitklavier.com/

22 https://puredata.info/

23 https://www.modartt.com/pianoteq

 

 * Scaffolding. Eine sehr gute deutsche Einführung gibt eine Masterarbeit der Universität Koblenz-Landau 2017:  Florence Voß, Scaffolding als Möglichkeit der Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen im Sachunterricht der Grundschule. [Auch mit Probeseiten im Internet oder als E-Book  zu finden.]

 

 

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Klaus L Neumann (Deutschland)