Interview mit Paul Van Nevel, Direktor des Huelgas Ensembles

Jeffrey Sandborg, Direktor der Choraktivitäten und Wade Musikprofessor am Roanoke College

 

Der belgische Dirigent Paul van Nevel (geb. 1946) ist der künstlerische Leiter des Huelgas-Ensembles, das er 1970 gründete. Gemeinsam spezialisierten sie sich auf die Vokalmusik des Mittelalters und der Renaissance. Van Nevel studierte am Konservatorium in Maastricht und ist heute Gastdozent an der Musikhochschule Hannover, Gastdirigent des Dänischen Rundfunkchores und des Niederländischen Kammerchores.

Van Nevel gilt als Autorität auf dem Gebiet der Kulturgeschichte wie auch der  Notationskunde der frühen Musik und ihrer Aufführungspraxis. Seine ausgedehnten Forschungen führten zur Wiederentdeckung des Werkes von solch wichtigen Komponisten wie Gombert und Ciconia, letzter ein Repräsentant der ars subtilior, ein Repertoire mit immensen aufführungspraktischen Herausforderungen, das Van Nevel und das Huelgas-Ensemble wieder erhellten.

 

Paul Van Nevel ©Luk Van Eeckhout
Paul Van Nevel ©Luk Van Eeckhout

 

Huelgas leitet seinen Namen vom gleichnamigen Zisterzienserkloster nahe Burgos (Kastilien) ab, das den berühmten „Las Huelgas Codex“ beherbergt. Dort studierte van Nevel während seiner Studienzeit Manuskripte. Das Huelgas-Ensemble besteht im Kern aus 10 Sängern, welche je nach Erfordernissen des Repertoires (z.B. für Aufführungen von Thomas Tallis 40-stimmigem „Spem in Alium“) ergänzt werden.

Huelgas vielfach ausgezeichnete Diskographie mit über 50 Aufnahmen umspannt das Repertoire vom frühen Mittelalter bis hin zum Frühbarock. Zuletzt erschien die Aufnahme des Eton-Chor-Buches.

 Website:  http://www.huelgas.be/

 

Jeffrey Sandborg: Ist das Ihre Vollzeit-Beschäftigung?

Paul Van Nevel: Ja.

 

JS        Wie viele Konzerte geben Sie ihm Jahr mit dem Huelgas-Ensemble?

PVN   Wir geben nicht mehr als 25 bis 30 Konzerte. Und wir produzieren eine Aufnahme jährlich. Mein Büro arbeitet ein Jahr im Voraus, um die nächste Saison zu organisieren und zu planen.

 

JS        Bekommt Huelgas irgendwelche Unterstützungen?

PVN   Wir erhalten 220.000 € von der flämischen Regierung

 

JS        Wer sind die Sänger in Huelgas? Kommen die alle aus Belgien?

PVN   Das sind hauptberufliche Sänger, aber nicht alle aus Belgien. Im gestrigen Konzert beispielsweise waren die Länder Frankreich, England, Niederlande, Italien, Deutschland, Spanien, Österreich und Belgien vertreten.

 

JS        Wie wählen Sie ihre Sänger aus?

PVN   Seit 35 Jahren mache ich jedes Jahr ein Vorsingen, um genau die Sänger zu haben, die ich für die geplante Musik brauche.

 

JS        Welchen Stimmtypus suchen Sie grundsätzlich?

PVN   Für die Musik, die wir machen, braucht man Stimmen mit perfekter Intonation, einem perfekten Gefühl für die kompliziertesten Rhythmen und einem perfekten Gefühl für die historischen Aussprachen von Latein und Französisch. Ich suche nicht nach Sängern im Sinne des Chorsängers des 19. Jahrhunderts. Wir nähern uns der Musik nicht als Chorsänger, sondern als Solisten, im gleichen Geist, wie es die Komponisten dieser Musik taten, die allesamt selbst Sänger waren. Das Ziel ist, so gut wie möglich zusammen zu passen, so dass eine Einheit in jeder Stimme entsteht. Polyphonie ist die egoistischste Form der komponierten Musik. Jede Stimme muss individuell mit einem gemeinsamen Verständnis für Akzente und Rhythmen gestalten. Daher benötige ich Sänger, welche die gleichen Vorstellungen von diesen Dingen haben. Beispielsweise müssen sich die Sänger in der harmonischen Musik, welche wir gestern sangen (Polyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts) bewusst sein, dass sie die gleichen Terzen und Quinten singen. Das ist der einzige Weg, diese transparente Musik zu singen.

 

JS        Wie prüfen Sie speziell diese Qualitäten?

PVN   Die Vorsingen von Huelgas sind in Europa legendär. Nach einem zwanzigminütigen Vorsingen weiß ich alles, was ich wissen muss. Ich möchte wissen, ob die Sänger einen Hexachord singen können, ohne die Intonation zu verändern, ob sie pythagoreische Leittöne und mitteltönige Leittöne singen können. Wenn Sänger kommen und fragen: „Wo ist das Klavier?“ können sie gleich gehen. Ich lasse sie einen Text aus einem Petrarca-Gedicht lesen und bitte sie dann, diesen Text auf jedem Ton des Hexachords zu singen. Am Ende sollten sie die Tonhöhe gehalten haben, aber die meisten steigen oder sinken ab.  OK, das kann passieren, sie hatten eine lange Reise oder waren vielleicht nervös, aber es ist wichtig, dass sie bemerkt haben, ob sie zu hoch oder zu tief waren. Falls nicht, haben sie nicht die Verbindung von Ohr zu Stimme, die nötig ist. In den meisten Vorsingen finden wir niemanden, der diese Sachen beherrscht.

 

JS        Was prüfen Sie noch?

PVN   Was ich geschildert habe, dauert zehn Minuten. In der restlichen Zeit bitte ich sie, einige sehr komplizierte Rhythmen der ars subtilior zu singen. Dann bitte ich sie, noch etwas nach ihrer Wahl zu singen. Die Guten singen dann Gregorianik.

 

JS        Kommen diese Sänger für spezielle Projekte zusammen und kehren danach wieder zurück?

PVN   Genau.

 

JS        Benutzen Sie das gleiche Stimmungssystem für jedes Repertoire, oder wechseln Sie es je nach Stil?

PVN   Ich wechsle. Wir benutzen beispielsweise im morgigen Konzert mit mittelalterlichem Repertoire die pythagoreische Stimmung für den Machaut mit sehr hohen Leittönen, ebenso für Perotin. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts, um 1460, benutzen wir mitteltönige Stimmung, ab den letzten Werken von Dufay. Ab der Periode von Josquin nutzen wir mitteltönige Stimmung.

 

Huelgas Ensemble in concert ©Luk Van Eeckhout
Huelgas Ensemble in concert ©Luk Van Eeckhout

 

JS        Was macht diesen Wechsel notwendig?

PVN   Weil man Fauxbordun-Stil mit Sextakkord-Ketten hat, was nicht pythagoreisch intoniert werden kann. In der Musik dieser Periode würde die pythagoreische Stimmung durchgehend dissonant klingen. Die Komponisten werden dieses mitteltönig in ihren eigenen Ohren gehört haben.

 

JS        Wie entscheiden Sie, wie viele Sänger Sie pro Stimme besetzen?

PVN   Das hängt davon ab, für welche Kapelle das Stück geschrieben wurde. Wenn Sie beispielsweise das Repertoire von Ockeghem oder Josquin haben, dann wissen Sie, wir sind in Italien, in Mailand mit den Sforzas, aber auch in Manuta und sicher auch in der Capella Sistina im Vatikan. Dort waren zwei, drei, bis zu vier Sänger pro Stimme. Wissen Sie, das Gegenteil von unserer Idee der Interpretation kommt durch die englischen Alte-Musik-Gruppen, die, aus finanziellen Gründen, jede Stimme als Solo besetzen. Das hat jedoch nichts mit den originalen Verhältnissen zu tun. Wenn ich also dieses Repertoire mache, dann besetze ich zwei Sänger pro Stimme – jederzeit. Nur sehr selten mache ich das solistisch, und dann auch nur, wenn ein ganz besonderes Repertoire das erfordert.

 

JS        Wie können Sie sich über die „originalen Verhältnisse“ sicher sein? Quellen?

PVN   Genau. Archive, aus denen ersichtlich ist, wie viele Sänger bezahlt wurden, wann etc. Wer ging weg, wer ersetzte wen, wer starb, wer kam zurück. Ein festes Ensemble gab es in dieser Zeit nie. Glauben Sie nicht, das wäre ein Paradies gewesen: Die päpstliche Kapelle veränderte sich alle drei Wochen. Allerdings spreche ich derzeit von geistlicher Musik; die Madrigale und die Chanson waren streng solistisch.

 

JS        Wie war es mit dem mittelalterlichen Repertoire? Perotin, zum Beispiel?

PVN   Wir wissen, dass um 1200 sechzehn männliche Sänger in der Kapelle von Notre-Dame, Paris, sangen, dazu acht Chorknaben.
Der Raum, in dem die Organa gesungen wurden, Viderunt omnes beispielsweise, hat nichts mit dem zu tun, den wir heute sehen. Der Chor war durch eine große Mauer vom Kirchenschiff, wo das Volk war, getrennt, so dass die Musiker nicht zu sehen waren. Der Raum, in dem die Musik gesungen wurde, war klein im Verhältnis zum Rest der Kathedrale.

Organa wie Viderunt wurden immer an Festtagen gesungen, nicht an normalen Wochentagen. An den Festtagen war die Mauer, gegen die der Chor sang, immer mit Wandteppichen behangen, was die Akustik viel trockener machte. Der Nachhall in Notre-Dame ist neun Sekunden, aber das Viderunt wird bei einem Nachhall von drei bis vier Sekunden gesungen worden sein. Das sagt viel über das Tempo aus. Viele denken, wegen der Akustik, die wir heute hören, kann man es nicht schnell singen. Aber das war nicht die Akustik, in der Perotin arbeitete.

 

JS        Ich weiß, dass Sie interessante Sachen darüber zu sagen haben, welche wichtigen Sachen die Musik über die Personen aussagt, die sie gemacht haben, und welche tieferen Einsichten sie in das Leben der Menschen gibt, wie sie es vor Jahrhunderten gelebt haben. Könnten Sie uns einige dieser Sachen erläutern?

PVN   In der Geschichte der Malerei denken wir, dass der Kubismus von Picasso nicht von Memling oder Rubens gemalt werden konnte. Was die Entwicklung von Malstilen über Personen oder Lebensumstände aussagen, ist uns recht klar. In der Musik ist uns dies vermutlich weniger klar, aber es ist das Gleiche.

Beispielsweise war das Gefühl für eine perfekte Intonation oder einen perfekten Rhythmus, einen mathematisch perfekten Rhythmus, viel einfacher in jenen Tagen als heute. Ich bemerke das bei meinen Vorsingen. Junge Sänger haben mehr und mehr Schwierigkeiten, mathematisch exakt das zu singen, was notiert ist. Eine punktierte Achtel mit zwei Sechzehnteln klingt wie eine Triole.

Genauso ist es mit dem berühmten Kanon Qui habitat von Josquin. Wenn die Sänger nicht das Gefühl besitzen, perfekt auf dem tactus zu singen, kommt die ganze Architektur des Werkes ins Wanken. Die Klarheit und Perfektion ist die gleiche, wie wir sie in Japanischen Tuschezeichnungen sehen. Die sind so perfekt. Schönheit war gleichbedeutend mit Perfektion. Oder andersherum ausgedrückt: Perfektion wurde als Schönheit wahrgenommen. Wenn man beispielsweise Josquin nicht rhythmisch perfekt singen kann, wird es zu etwas, was jedermann kann, und das ist nicht im Sinne des Komponisten dieses Stiles. Selbst ohne Uhr und Computer hatten diese Leute ein tiefes Gespür für alle Aspekte von Zeit. Glauben Sie mir, Josquin hat genau gewusst, wann es 8:15 und nicht 8:20 war.

Und dieses Gespür für Zeit war viel sinnlicher und mehr ans Leben geknüpft als heute. Beispielsweise waren im 15. Jahrhundert die Stunden im Winter nicht die gleichen wie im Sommer. Man teilte damals jeden Tag (Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang) und jede Nacht in 12 Stunden auf, daher war eine Stunde in der Winternacht in deren Gefühl viel länger als eine Nachtstunde im Sommer. Es gab eine Flexibilität in der Zeit, und diese konnte in der Zeitwahrnehmung der Musik gespürt werden.

Heute wird jeder, von der Stunde der Geburt bis zur Todesstunde, mit einem Beat begleitet. Unsere Kinder leben ihr ganzes Leben mit einer Batterie, mit Rockmusik: Schlag, Schlag, Schlag. Aber sie haben ihr eigenes Gefühl dafür verloren, was eine Sekunde ist. Der Puls eines Computers oder einer Uhr ist extern, und unabhängiges Denken findet nicht statt.

 

JS        Nach meinem Wissen ist der „Grundschlag“ dieser Musik vom menschlichen Puls abgeleitet.

PVN   Ja, aber vergessen sie nicht, dass der Puls heute nicht der gleiche ist wie im 16. Jahrhundert. Er ist heute schneller.

 

JS        Blutdruck?

PVN   Ja. Und sicherlich das städtische Leben, so wie hier in New York. Und die ganze Umgebung, die unseren Körper beeinflusst hat. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Inder Zeit von Lasso, Josquin des Pres und Dufay trat der Stimmbruch mit 18 ein. Heute in Europa mit elf oder zwölf, mindestens fünf Jahre früher als im 15. oder 16. Jahrhundert. Es gibt darüber aktuelle Studien. Das hat mit Ernährung und Konservierungsstoffen zu tun, die alle unser Hormonsystem beeinflussen. Und es gab eine Ruhe im Leben, weniger Stress und der gleiche Tagesablauf jeden Tag, so dass der Körper sich nicht verändern musste.

Noch ein Beispiel zu dieser körperlichen Veränderung: Vor ein paar Monaten nahmen wir das Eton Chorbuch auf. Das gilt als die rhythmisch komplizierteste Polyphonie, die es gibt. Die Oberstimmen sind unglaublich schwierig, und Sie können sie heute nicht mit Kindern machen. Elf- oder Zwölfjährige können das nicht. Aber damals hatten sie bereits acht Jahre musikalische Ausbildung und konnte das singen.

Außerdem ist zu verstehen, wie sie ihr Gedächtnis nutzten. Wir können das daran sehen, wie sie Musik zusammensetzten. Komponieren war Addieren. Brumel hat nie die Partitur gesehen, die wir gestern Abend sangen. Erst ab dem 16. Jahrhundert erachteten es die Musiker als nötig, die Stimmen vertikal (als Partitur) zusammenzuschreiben.

Die Sänger hatten nur ihre eigene Stimme, wodurch sie sich absolut auf die Intonation konzentrierten. Sie waren gezwungen, zu hören.

Als wir begannen, Stimmbücher in Huelgas zu nutzen, sagten die Sänger: „Paul, du machst uns das Leben schwer“. Nach drei Proben bemerkten sie, dass wir viel weniger Zeit brauchten, uns um Intonation zu kümmern. Die Sänger hörten genauer aufeinander, gerade so, wie sie es im 15. Jahrhundert taten. Die Musik war in der Luft und wurde durch die Ohren kontrolliert.

 

JS        Wie organisieren Sie ihre Proben und bereiten ihre Partitur vor?

PVN   Zu Beginn spreche ich viel, weil ich beispielsweise bereits Entscheidungen über Textunterlegung und ficta getroffen habe, aber nachdem wir begonnen haben, ist es besser für die Sänger, sich selbst zu finden, und dann gibt es immer Diskussionen. Ich bereite die Partituren vor, aber nicht endgültig, sondern als Arbeitsmittel.

 

JS        Ich vergesse immer, Sie über Ihre musikalische Ausbildung zu fragen.

PVN   Ab dem zwölften Lebensjahr sang ich zwei Stunden täglich im Chor der bischöflichen  Schule in Hasselt. Danach ging ich ans Konservatorium um Technik zu lernen.

 

JS        In Gesang?

PVN   Blockflöte und Dulzian. Ich hatte nie eine Gesangstunde. Ich war der erste Sänger in Huelgas, aber die Kritiker waren nicht beeindruckt (Gelächter).

 

 

 

Jeffrey SandborgJeffrey Sandborg hat den Naomi Brandon- und George Emery Wade-Lehrstuhl für Musik am Roanoke College inne, an dem er seit 1985 Leiter der Chorabteilung ist. Zu seinem Repertoire gehören die Hauptwerke für Chor und Orchester (Verdi Requiem, Mozart Große Messe in c-moll, Händel Messias), die er mit dem Roanoke Symphonie Orchester zur Aufführung brachte. Außerdem leitete er die Roanoke Valley Choral Society and Orchestra mit Vaughan Williams‘ Hodie, J.S. Bachs H-moll Messe und den Requiems von Joonas Kokkonen und Andrew Lloyd Webber. Sandborg gibt Kurse, ist Mitglied in Jurys, er ist Arrangeur, Komponist und Chorwissenschaftler. Er ist der Autor von English Ways: Interviews with English Choral Conductors und unzähligen Artikeln im Bereich von Chor- und Gesangsliteratur und Praxis. Email: sandborg@roanoke.edu

 

 

Übersetzt aus dem Englischen von Stefan Schuck, Deutschland

Edited by Hayley Smith, UK