Modernität und Chormusik

Aurelio Porfiri, Chordirigent und Chorlehrer

 

Es geschieht oft, dass der Wert eines Stückes in der Chormusik hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit der als Modernität definierten Kategorie diskutiert wird, einer Kategorie, die im Übrigen konzeptionell abstrakt ist. Nach Meinung einiger Musiker und Musikliebhaber gilt ein Stück nur dann als „modern“, wenn es bestimmte Charakteristika enthält, die es als solches klassifizieren, mit anderen Worten ein klares Zeichen des Fortschritts in der Musikkreativität aufweist. Auf dieses Konzept der „Kreativität“ kommen wir gleich noch zu sprechen. Zu den besagten Charakteristika gehören: der bewusste Einsatz von chromatischer Harmonik, schwieriger Rhythmen und außermusikalischen Elementen (Percussion, Gesang, etc.). Wenn ein Stück in der Chormusik diese Elemente – oder zumindest einige davon – nicht aufweist, gilt es nicht länger als modern und wird in der Regel als „spät romantisch“, „altmodisch“ oder ähnliches abgetan. Was an dieser Herangehensweise jedoch besonders interessant heraus sticht, ist die Tatsache, dass sie ohne Berücksichtigung der verschiedenen Ansätze in der Chormusik vollzogen wird. Diese Meinung setzt auch eine Art vereinheitlichte moderne Musikgrammatik voraus, die als Muster gilt, also eine Grammatik, die in Realität gar nicht existiert, vor allem in den „modernen Zeiten“ nicht. Natürlich darf man bestimmte Voraussetzungen dieser Argumentation nicht außer Acht lassen; Voraussetzungen, die genau dieser Argumentation zugrunde liegen und oft gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Ich würde sagen, dass die hegelianische Idee der Musikgrammatik eine dieser Voraussetzungen ist. Sie beschreibt einen ungestörten Pfad von der Konsonanz in die Dissonanz. Während unterbewusst also ein Standpunkt der materialistischen Dialektik bezogen wird, ist die Sprache das Ergebnis (Synthese) aus These und Antithese; sie verändert sich und entwickelt sich ständig aus der Vergangenheit weiter und „betrügt“ die Vergangenheit in gewisser Weise. Diese Idee, wie gesagt, stammt aus jüngerer Zeit. Natürlich haben Komponisten früherer Jahrhunderte auch ständig versucht, ihre Sprache dem zeitlichen Wandel anzupassen. Aber dies geschah mit sehr viel Respekt vor den vorangegangenen Modellen, die es nicht zu zerstören, sondern vielmehr als Grundlage für etwas Neues, Besseres zu nehmen galt. Unter den Komponisten des Barocks beispielsweise wurde es als notwendige Begabung angesehen, eine Motette im stile antico (im Stil der Renaissancemusik) komponieren zu können. Tatsächlich finden sich Spuren dieser Haltung auch heute noch. Ich erinnere mich, dass ich in meiner letzten Examensprüfung für Chormusik und Chorleitung eine Motette im Renaissancestil schreiben musste. Die Gegenwart schöpft aus der Vergangenheit. Das ist die (wahre) Idee der „Kreativität“, nicht im Sinne einer andauernden Revolution musikalischer Sprache, sondern eines punktuell geschaffenen Dialogs mit der Vergangenheit, selbst wenn viele der herausstechendsten Charakteristika dieser musikalischen Vergangenheit nicht respektiert werden. Das spiegelt das Konzept einer guten Komposition (von Lateinisch „componere“ – Dinge zusammenfügen) wider. Für manche Menschen bedeutet es jedoch, dass das Konzept nur in eine Richtung weiterentwickelt werden sollte, obwohl es aber doch traditionellerweise eine klare Verbindung mit der Sprache der Vergangenheit gibt.

Ich halte es auch nicht für angebracht, ein Stück rein theoretisch zu beurteilen. Vieles in der Chormusik ist zu religiösen Zwecken komponiert worden und unterliegt speziellen Auflagen und Verpflichtungen. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass diese Art von Musik „nicht modern“ sein kann; selbst ein Militärmarsch, der in heutiger Zeit komponiert wird, unterliegt Auflagen und Merkmalen aus vergangener Zeit, damit er als Marsch identifizierbar wird. Musik wird selbstverständlich auch für funktionale Zwecke komponiert, nicht nur für theoretische oder abstrakte. Sehen wir uns die Definition von Kunst nach George Dickie an: „Ein Werk der Kunst ist eine spezielle Art von Artefakt, das für eine kunstfreudige Öffentlichkeit bestimmt ist“ (Dickie1984, S.80). Kunst, wie auch Musik, sind in gewisser Weise institutionell und können nicht als reines Abstraktum betrachtet werden. Über die Beziehung zwischen dem verschlossenen Charakter und der Offenheit eines Kunstwerks lässt sich viel streiten (Erler, 2006), aber ersterer ist eine Dimension, die man nicht unterschätzen sollte. Außerdem bringt die institutionelle Beschaffenheit von Musik (oder zumindest viele Aspekte davon) auch Einschränkungen hinsichtlich der Sprache mit sich, die bei einer rein abstrakten Beurteilung nicht berücksichtigt werden. Manche Menschen lassen in ihre Stellungnahme zu einem Stück aus der Chormusik nur die musikalische Sprache an und für sich einfließen. Inwiefern die Charakteristika, die wir weiter oben besprochen haben, zutreffen. Es gibt beispielsweise manche Komponisten, die Texte aus der christlichen Tradition verwenden wie „Pange Lingua“. Der Text wird hauptsächlich aus Gründen der rhythmischen und melodischen Akrobatik eingesetzt, und diese Komponisten ernten dafür großen Beifall als Pioniere der „Modernität“. Ich jedoch betrachte diese Vorgehensweise als Involution der musikalischen Sprache, weil hierbei die Bedeutung der jahrhundertealten Worte per se nicht berücksichtigt wird. Oliver Messiaen hat eine Komposition mit dem Text „O Sacrum Convivium“ unterlegt. Er verwendet ein sehr modernes, harmonisches Verfahren, zeigt aber auch ein tiefes Verständnis für die Bedeutung des Textes. Der Unterschied zwischen ihm und anderen wird klar. Antoine Compagnon hat uns mit einem seiner Bücher bereits geholfen, zwischen Avantgarde und Modernität zu unterscheiden (Compagnon, 1994). Avantgarde versucht, sich von der Vergangenheit abzuheben. Viele der von oben beschriebenen Menschen angeführten Behauptungen finden sich in den Ideen der sogenannten „Ritter der Modernität“ wieder. Außerdem gibt es noch eine weitere Beobachtung, diesmal auf geografischer Ebene. Manche musikalischen Charakteristika sind bestimmten Nationen oder geografischen Regionen eigen und sollten auch in diesem Kontext betrachtet werden. Dieser Gedanke lässt sich noch lange weiterspinnen, weshalb ich es dabei bewenden lasse.

 

The first page of the “O Sacrum Convivium” by O. Messiaen
The first page of the “O Sacrum Convivium” by O. Messiaen

 

Für mich ist also wichtig, zwischen der Idee und der Sprache zu unterscheiden. Sprache drückt die Idee aus, ohne dabei selbst die Idee zu sein. Ich weiß, dass „das Mittel die Botschaft ist“, aber ich weiß auch, dass McLuhan seine Arbeit mit „Das Mittel ist der Stimulus“ betiteln wollte. Ich halte diese letzte Version relevanter für uns: Das Mittel, also die Sprache der Musik, kann uns beruhigen wie eine Massage, aber lässt uns vielleicht vergessen, was noch wichtiger ist als Sprache: die Idee. Ich denke wirklich, dass die Idee modern sein muss, nicht so sehr die Mittel. Das Mittel, sprich die Sprache, ist ein Werkzeug, und wenn die Idee neu ist, kann das Werkzeug zu etwas Neuem beitragen. Es stimmt, dass es viele Stücke in der Chormusik gibt, bei denen eine stark im Einklang stehende Sprache den Eindruck von etwas Altem vermittelt. Aber das Problem ist nicht die Sprache, sondern die Idee. Vielleicht ist sie nicht ausgereift oder existiert noch gar nicht. Wenn einem Stück aufrichtige und frische Emotionen zugrunde liegen, kann jede Sprache die Tiefe dieser Gefühle vermitteln. Schaut man sich die modernen, wirklich erfolgreichen Chorkomponisten an, stellt man fest, dass keiner von ihnen ein Avantgarde-Komponist ist. Alle verwenden unterschiedliche Sprachen, manchmal auch recht konsonantenreiche, aber immer mit dem gleichen Ziel: ihre Ideen dem Publikum zu kommunizieren. Was heutzutage, nach Jahrzehnten der musikalischen Avantgarde, als Bruch mit der Tradition und Vergangenheit angesehen werden kann, ist ein C-Dur-Akkord. Das beweist, dass die Behauptungen zur Modernität mit all den Konditionen, die wir zuvor gesehen haben, eigentlich gar nicht aufgestellt werden sollten. Kreativität ist eine „magische Kraft“, die alle Materialien ungeachtet ihre Herkunft vereint. Wir sollten uns auch an die Worte von Antimo Liberati (Rambotti, 2008), Sänger im Chor der Sixtinischen Kapelle zu Barockzeiten, erinnern, die er in einem Brief an Ovidio Persapegi schrieb: „[…] la musica è una mera opinione e di questa non si può dar certezza veruna“ (Musik ist reine Ansichtssache, und deswegen lässt sich nichts mit Sicherheit sagen). Das ist eine sehr relativistische Aussage und bedeutet, dass alles möglich ist. Ich denke, jegliche Beurteilungen sind mit Vorsicht zu genießen, denn diejenigen, die sich für Ritter der Modernität halten, sind vielleicht sogar schon in der Vergangenheit festgehalten.

 

BIBLIOGRAFIE

  • Compagnon, Antoine (1994). The Five Paradoxes of Modernity. New York (NY), USA: Columbia University Press
  • Dickie, George (1984). The Art Circle. A Theory of Art. New York (NY), USA: Haven Publications
  • Erler, Alexandre (2006). Dickie’s Institutional Theory and the “Openess” of the Concept of Art. Postgraduate Journal of Aesthetics. Band 3. Ausgabe 3. Seiten 110-117
  • Rambotti, Fiorella (2008). “La Musica è una Mera Opinione e di questa non si può dar certezza veruna”. Antimo Liberati e il suo Diario Sistino con una riproduzione della Lettera a Ovidio Persapegi. Perugia (Italien): Morlacchi Editore

 

 

Aurelio Porfiri

Aurelio Porfiri ist sowohl Chorleiter als auch Komponist an der Santa Rosa de Lima Schule (Macao, China), Musikdirektor an der Our Lady of Fatima Mädchenschule (Macao, China), Gastdirigent in der Abteilung Musikerziehung am Konservatorium in Shanghai (China) sowie Künstlerischer Leiter des Verlags Porfiri & Horvath (Deutschland). Seine Kompositionen werden in Italien, Deutschland und den USA veröffentlicht. Er hat mit mehr als 200 Artikel erheblich zu zahlreichen Veröffentlichungen auf dem Themengebiet der Chor- und Kirchenmusik beigetragen. Außerdem ist er Autor von 5 Büchern. Seine E-Mail-Adresse lautet: aurelioporfiri@hotmail.com

 

 

Übersetzt aus dem Englischen von Magdalena Lohmeier, England

Edited by Theresa Trisolino, UK