Book Review: Juliet Hess, Music Education for Social Change - Constructing an Activist Music Education (New York, Routledge, 2019)
Von Martin Berger
Unter den vielen lesenswerten musikpädagogischen Fachpublikationen der vergangenen zwei Jahre nimmt sicherlich das Buch Music Education for Social Change von Juliet Hess eine Sonderstellung ein und öffnet Räume für den weiteren Diskurs. An dieser Stelle möchte ich auf meine Rezension im PMER[1] verweisen, die allerdings unter philosophischen Gesichtspunkten der Musikpädagogik geschrieben worden ist. Da das Thema des Buchs auch für die Chorpädagogik relevant ist, werde ich es hier unter einem anderen Aspekt besprechen.
Hess’ Buch ist mit großer Hingabe und viel Herzblut geschrieben. Die Autorin beschreibt unsere Zeit als eine Zeit der sozialen Spannungen, der Ausgrenzung und des Hasses – eine Zeit, die durch “Sexismus, Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Heterosexismus, Cisgenderismus, Klassendenken, Behindertenfeindlichkeit, Anti-Immigrantenstimmung und anderen Formen der Unterdrückung” gekennzeichnet ist.[2] Für Hess ist Protest gegen diese Ungerechtigkeiten, gegen repressive Ideologien und Gewalt, wesentlich und dringlich und Musikpädagogik in diesem Kontext ein wirkungsvolles Instrument. Hess appelliert an Musikpädagogen, Wege zu finden, um Widerstand zu leisten, eine entschieden anti-oppressive Pädagogik zu entwickeln und, mit anderen Worten, Aktivisten für einen sozialen Wandel zu werden. Der Autorin zufolge sind Musik und Aktivismus bereits “untrennbar miteinander verknüpft”[3], da beide von Natur aus mit der Erforschung politischer, sozialer und kultureller Perspektiven verbunden sind. Inspiriert von der gesellschaftlichen Bedeutung aktivistischer Musik, interviewte die Autorin zwanzig “aktivistische Musiker” aus den USA und Kanada. Auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse skizziert Hess ein mögliches K-12-Curriculum, das “die Einbeziehung von gründlicher Reflexion und umsichtigem Handeln”[4] in den Vordergrund stellt und dadurch den Lernenden hilft, “sich der Bedingungen, die ihr Leben prägen, bewusst zu werden und über sie nachzudenken”.[5] Hess beruft sich insbesondere auf die Freirianische und Kritische Theorie als gedankliches Gerüst und fordert eine “dreifach facettierte Pädagogik für künftigen Aktivismus”[6], die verbindend, kommunikativ und kritisch ist. Ihrer Meinung nach werden “die Wertschätzung von Lebenserfahrungen, ihre Vermittlung durch Musik” und “eine Pädagogik des Wahrnehmens, die aus der Arbeit aktivistischer Musiker am kritischen Denken hervorgeht”[7], “die Bedingungen für künftigen Aktivismus unter Jugendlichen” schaffen und eine “mögliche praktische Umsetzung kritischer Musikpädagogik”[8] für die Zukunft bieten.
Obwohl ich dieses Buch für eine äußerst wertvolle Arbeit halte, möchte ich einige kritische Anmerkungen machen. Hess schafft für ihre Leser keinen klaren theoretischen Bezugsrahmen, was sich als problematisch erweist. Ihre Definition von “sozialem Wandel” bleibt ungenau, ihr Aufruf zu Wandel und Gerechtigkeit ist daher ein allgemeiner Aufruf, der sich nicht auf konkrete Inhalte bezieht. Der Begriff “sozialer Wandel” hat international unterschiedliche Bedeutungen. Während das Bemühen um soziale Gerechtigkeit und Umgestaltung in der angloamerikanischen Musikpädagogik von fundamentaler Bedeutung ist, ist diese Zielsetzung in anderen Kulturen eher selten. Viele asiatische Kulturen haben beispielsweise ein anderes Verständnis von Sozialität, und die Idee des selbstbestimmten Einzelnen, wie wir sie aus westlicher Sicht kennen, ist in vielen afrikanischen Kulturen unbekannt.[9] Die Tatsache, dass alle interviewten Musiker aus den USA und Kanada stammen, führt zu einer verzerrten Wahrnehmung und büßt die Möglichkeit ein, das Thema aus einer globalen Position zu betrachten. Es bleibt zudem ungeklärt, was aktivistische Musikpädagogik von “Musikpädagogik” unterscheidet. Die Einführung eines -ismus ist nicht unproblematisch, da er mit einer Mehrdeutigkeit verbunden ist. “Aktivismus wird gewöhnlich als ideologische Strenge (miss)verstanden, die keine anderen Meinungen zulässt, sowie als eine kraftvolle Vorgehensweise, die auf direkte und spürbare Aktionen abzielt, um ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen.”[10]
Beim Lesen des Buchs aus dem Blickwinkel der Chorpädagogik wird man jedoch mit einer basalen Frage konfrontiert: Verstehen wir Chorgesang immer noch als “soziale Angelegenheit” oder existiert er mehr und mehr “zum Selbstzweck”?[11] Dienen unsere Proben und Aufführungen der “Unterstützung des sozialen Wandels” oder sind sie ein “bedeutungsloser Rückzug in eine Welt der schönen Klänge”?[12] Es ist ein Traum seit Generationen und steht im Fokus der meisten Untersuchungen über Musikpädagogik und sozialen Wandel, dass Musikpädagogik […] nicht nur das Leben des Einzelnen beeinflusst, sondern auch dazu beiträgt, eine Gesellschaft zu verändern”.[13] Die Jahre vor der Corona-Pandemie haben zu einer großen Popularität von Chorwettbewerben geführt. Obwohl dies zu beeindruckenden und bewundernswerten musikalischen Leistungen geführt hat, scheint das Ziel der Perfektion der Aufführung die Frage in den Hintergrund gedrängt zu haben, ob wir noch nach einer außermusikalischen Relevanz in unserem Tun streben. Das Repertoire wird mehr und mehr danach ausgewählt, um ein Publikum (oder eine Jury) mit ausgefeilter Klangqualität und bestechender Virtuosität zu beeindrucken – die Frage, ob die Texte anspruchsvoll und wertvoll sind und Denkanstöße geben, steht dabei nicht mehr im Mittelpunkt. Haben Chorgesang, unser Repertoire und unser Musizieren noch eine andere Bestimmung als die, ästhetisch schön zu sein und Perfektion zu beanspruchen? Haben wir eine Verantwortung, eine gesellschaftliche oder gar politische Funktion? Mit anderen Worten: Hat unser Tun noch eine soziale Dimension? Chorgesang wird seit jeher als ein Beitrag zum gemeinschaftlichen Leben gesehen, und zwar in mehrerlei Hinsicht: durch die Formung des Einzelnen, durch die Erziehung der Jugend zu kritischen Denkern und engagierten Bürgern sowie als Instrument zum Aufbau einer kulturellen Identität und einer gerechteren Gesellschaft. Diese Frage ist nicht neu, aber die Lektüre des Buchs von Hess zeigt, dass die Diskussion in der Soziologie oder der Philosophie der Musikpädagogik viel wichtiger ist als in der Chorpädagogik.
Die Vehemenz, mit der Hess für die Überwindung sozialer Missstände durch Musikpädagogik plädiert (wenn dies überhaupt möglich ist), ist imponierend, beflügelnd und gibt zu denken. Die Autorin glaubt an die Kraft der Musik, an die Bedeutung der Bildung und an die Inspiration. Das allein macht es schon zu einer lohnenden Lektüre.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Balázsi-Funkhauser, Deutschland
Martin Berger, PhD, studierte Kirchenmusik, Musikpädagogik, Musikwissenschaft, deutsche Literatur und Chordirigieren. Während seiner Zeit als Musikdirektor am Würzburger Dom entwickelte er die Dommusik zu einer der führenden Einrichtungen ihrer Art in Deutschland. Als Professor für Chorpädagogik an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf unterrichtete er und entwickelte moderne Lehrmethoden für Chormusik weiter. In 2013 nahm er eine Stelle an der Universität Stellenbosch in Südafrika an, wo er den Stellenbosch University Chamber Choir gründete. Die Hochschule ist bestrebt, neben der praktischen Ausbildung junger Dirigenten, Lehrer und Sänger einen Prozess des Musizierens und Forschens anzustoßen, der musikalische Exzellenz, Kreativität, Forschungsleistung und soziales Bewusstsein miteinander verbindet. Als Professor für Chorleitung an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf trägt er zur Ausbildung von professionellen Dirigenten in Deutschland bei. Martin ist ein international geschätzter Dirigent, Leiter von Meisterklassen, Gastdozent, Juror und Wissenschaftler. Konzertreisen haben ihn in fast alle europäischen Länder, nach Australien, China, Singapur, Südafrika und in die Vereinigten Staaten geführt. E-Mail: mail@martinberger.eu
Übersetzt aus dem Englischen von Momoko Kushdia, Lettland/Japan
[1] Berger, M. (2022). Music Education for Social Change. Constructing an Activist Music Education by Juliet Hess (review). Philosophy of music education review 30.2 (2022): 207–212. [Musikerziehung für sozialen Wandel. Eine aktive Musikerziehung schaffen]
[2] Hess, J. (2019). Music Education for Social Change. Constructing an Activist Music Education. New York and London: Routledge, 4
[3] Hess, 5
[4] Hess, 16
[5] Hess, 19
[6] Hess, 150
[7] Hess, 150
[8] Hess, 150
[9] Siehe z. B. Agawu, K. (2003). Representing African Music: Postcolonial Notes, Queries, Positions. New York: Routledge or Tan, L. (2015). Reimer through Confucian lenses: Resonances with classical Chinese aesthetics. Philosophy of Music Education Review, 26(2), 183-201, um nur zwei Beispiele zu nennen.
[10] Berger, 209
[11] Kertz-Welzel, A. (2022). Rethinking Music Education & Social Change. Oxford, 13
[12] Kertz-Welzel, 13
[13] Kertz-Welzel, 7