Man Erlebt, Was Man Besingt – Die Neue Chorlandschaft Deutschlands

Ein Interview über die „chor.com“ mit Dr. Henning Scherf, dem Präsidenten des Deutschen Chorverbandes

 

von Graham Lack, ICB Consultant Editor

 

Zwischen dem 22. und 25. September dieses Jahres findet zum ersten Mal die „chor.com“ statt, eine Messe, die dem Thema „Chorsingen in Deutschland“ gewidmet ist. Die chor.com ist Workshop und Symposium: Sie ist anerkannte Weiterbildungsmöglichkeit und Diskussionsforum für aktuelle Themen aus Musikpraxis und -wissenschaft, Kultur- und Gesellschaftspolitik. Sie richtet sich an Chorleiter, Sänger, Wissenschaftler, Fachleute sowie Musik- und Kulturfreunde. Das Interview mit Dr. Scherf führte Graham Lack.

 

Wann wurde die Idee von „chor.com“ geboren? „Es war Moritz Puschke, unserer wunderbarer und fantasievoller Geschäftsführer (des Deutschen Chorverbandes, Anm. d. Red.), der nach reiflicher Überlegung die Frage stellte: ‚Wie bringen wir die Personen, die in Deutschland Chöre leiten, mit ihren Chören, mit den Journalisten und Verlegern zusammen?‘ Aus einer rhetorischen Frage wurde schnell Realität: es sollte eine Messe stattfinden, die sich dem Thema Chormusik widmet. Wir suchten sofort nach einem geeigneten Ort und überraschenderweise meldete sich Dortmund. Die Dortmunder waren hoch interessiert, sich als Chorstadt zu definieren. Es folgte eine Zeit der ehrgeizigen Planung. Seit langem pflege ich eine Freundschaft mit dem Oberbürgermeister der Stadt Dortmund, inzwischen gibt es dort in fast jeder Grundschule einen Chor. Übrigens wurde der Name ‚chor.com‘, der sicherlich mit unserem medialen Zeitalter zu tun hat, auch von Herrn Puschke erfunden.“

 

Welche Ziele haben Sie für die „chor.com“ ausgearbeitet? „Wir bestimmen zuallererst einen Ist-und-Soll-Zustand der deutschen Chorlandschaft. Die chor.com ist ein Auftakt für eine 2-jährige Fortsetzung, immer in Abwechslung mit dem Nationalchorfest, mit dem wir jedes zweites Jahr wandern. Bei chor.com soll eine Grundidee in die Köpfe der Leute gehen: hier haben sie alle die Chance, was Neues auszuprobieren…wo sich die große Zahl begeisterter Sänger und Sängerinnen treffen kann. Bei dem ‚Day of Song‘, im Juni 2010, gab es eine unglaubliche Zahl Chöre, die im ganzen Ruhrgebiet aufgetreten sind. In Stadien, bei Schalke 04 z.B., haben Chöre gesungen. Es war eine ganz große Bewegung, die eine riesige Öffentlichkeit fand. Auch die Journalisten waren extrem begeistert. Wir waren alle ermutigt durch große Emotionen und ich hoffe, dass wir bei der bevorstehenden chor.com dies neu bestätigen können.“

 

Was ist der genaue Ausgangspunkt für diese neue Initiative? „Wir hoffen dass es bald in jeder Grundschule Deutschlands einen Chor gibt, und dass jedes Kind eine Chance hat, im Chor zu singen. Dies sind sehr ehrgeizige Ziele. Darüber hinaus wollen wir einerseits eine gewisse Professionalität einbeziehen…eine Art Zugpferd wenn man so will…anderseits wollen wir die große Breite erreichen. Wissen Sie, 5000 Kindergärten machen mit! Aus dem alten ‚FELIX‘ (eine Qualitätssiegel für Musik in deutschen Kindergärten, Anm. d. Red.) wurden nun ‚die Carusos‘ – ein Name, der übrigens auch als Marke geschützt ist – und wir glauben, dass dadurch die Kinder nicht alleine gelassen werden, wenn sie in die Grundschulen gehen. Es gibt eine enorme Begeisterungsfähigkeit der kleinsten Kinder. Wir haben einfach unglaubliche Erfahrungen mit denen und ich glaube zu wissen, dass es hier ganz großes Potential gibt, die den Stellenwert des Chorsingens in der Gesellschaft erhöhen wird.“

 

Waren andere Länder für Sie ein Vorbild? „Also, wenn die nordischen Länder dies können, ich meine salopp ausgedrückt ‚gut singen‘, warum wir nicht? Ich glaube, dass die APO (Außerparlamentarische Opposition, Anm. der Red.) in den 1960er Jahren viel kaputt gemacht hat, in dem sie außerhalb der Parlamentes stattfand und kein Sprachrohr in den im Parlament vertretenen Parteien gefunden hat bzw. gar nicht haben wollte. Es ist m. E. damals in der Kulturpolitik wirklich bergab gegangen. Was die Ausbildung der Musiklehrer anbelangt, befanden wir uns in einer trostlosen Situation. Heute, Gott sei Dank, gibt es ein neues Interesse der Eltern.“

 

Im amerikanischen Englisch redet man von einem „top down“ bzw. „bottom up approach“. Welche Auswirkungen hat die neue Bewegung, die bei der diesjährigen „chor.com“ zu bemerken sein wird, für die alten Verbandsstrukturen? „Im Kulturbereich gibt es viel Konkurrenz. Wir müssen und können in der Kulturpolitik nur mit großer Resonanz werben. Wir haben eindeutig das Argument auf unserer Seite. Millionen von Menschen in Deutschland wollen singen. Es ist eine Art Prävention wie in der Gesundheitspolitik. ‚Empowerment‘ heißt es doch im Englischen oder? Es geht um das gemeinsame Singen. Also, weg von der Melancholie. Und bitte ja nicht zum Pharmamittel greifen! Es soll ein vitales Lernfeld entstehen, in dem man sich als Person entwickeln kann.“

 

Wie gehen Sie um mit dem unangenehmen Phänomen „Jammern auf hohem Niveau?“ Wie kann das bekannte Problem mit dem Chorleiter, der eigentlich „nur“ Organist ist, und nicht unbedingt gut singen (d. h. gut intonieren) kann, behoben werden? Was ist mit der berühmt berüchtigten „Knochenarbeit“ in der Probe? Und wie kann man den Chorleiter überzeugen, ohne Klavier auszukommen? Ich sehe, dass Harald Jers einen Vortrag über Intonation auf der „chor.com“ hält. Man kann es nur begrüßen! „Wir brauchen keine resignierten Leute. In die Chorleiterausbildung muss kräftig investiert werden. Unsere Musikakademien müssen weiter unterstützt werden. Es muss neue Musiklehrerfortbildungskurse geben. Wir können uns nur über die Qualität der Chorleiter und -Leiterinnen definieren. Wir müssen alle Leute motivieren: alle Personen die Chöre leiten, in Chören mitwirken, in der Schule unterrichten, Artikel über das deutsche Chorwesen schreiben, und letzten Endes im Umkreis eines Chores agieren. Ein gutes Beispiel ist der ‚Wir können nicht singen Chor‘. Gerade haben wir (Juni 2011, Anm. der Red.) ein neues und innovatives Curriculum für ‚die Carusos‘ ausgearbeitet, mit Markus Lupke. Es soll neue Orientierungsmaßstäbe geben. Die Kernfrage lautet: Wie können wir den Kindern gute saubere Intonation beibringen? Es steckt viel Arbeit drin. Darüber hinaus wollen wir nicht nur Konzertauftritte schaffen, sondern auch Weiterbildung fördern und neue Wettbewerbe ins Leben rufen. Der Bremer Ratschor, der aus dem berühmten Bremer Domchor entstanden ist, bleibt eine feine Adresse. Wir arbeiten auch ganz eng mit der Deutschen Kammerphilharmonie zusammen. Manche Karten kosten bis € 30-40! Aber die Konzerte sind immer voll. Wir leisten uns professionelle Solisten und somit eine Perspektive.“

 

Man könnte behaupten – hier sollte ich gleich die Samthandschuhe anziehen –, es fehlt innerhalb des deutschen Chorwesens ein gewisses „Obertonbewusstsein“. Intonation ist sicherlich das Zauberwort schlechthin? Das Publikum quälen mit schlechter Kunst ergibt keinen Sinn, oder? „Chorleiter haben Chöre zu leiten. Durch und durch. Und die Obertongeschichte ist uns vertraut. Hier müssen Stimmbildung und Gehörbildung unbedingt gekoppelt werden. Das eigene Körpergefühl ist enorm wichtig. Wo sitzen die Töne denn? Wo im Körper? Wie fühlt sich das dann an? Eine Terz, eine Quart, eine Quint oder die Oktave? Ich singe gerne, und sehr gerne große Partituren. Auf Tonbildung zu konzentrieren mobilisiert mich. Besonders nach einem langen Tag. Das sind meine Erfahrungen zumindest.“

 

Was verstehen Sie unter „best practice“, und „excellence“, wie steht es mit der Zusammenarbeit mit bzw. einer Lernbereitschaft z. B. gegenüber der IFCM oder ACDA? „Es gibt die Deutsche Chorjugend unter Robert Göstl (ein ehemaliger Regensburger Domspatz). Und der Jugendkammerchor ist neu. Gerade haben wir uns entschlossen, 2012 eine Reise nach Venezuela zu organisieren. Wir wissen, es ist eine enorm wichtige Erfahrung für junge Menschen, in einem solchen Land aufzutreten. Es geht hier um unsere zukünftigen Chorleiter und Chorleiterinnen! Es geht um eine Förderungsperspektive. Wir kommen damit aus der nationalen Musiksprache heraus, nach dem Prinzip‚ ich zeige euch neue Musikkulturen. Hier entsteht, wenn man so will, eine neue Schnittstelle, die auch für international operierende Verbände wie die IFCM und ACDA von Belang sein muss. Ich habe jahrelang in Nikaragua gearbeitet…seit Anfang der 80er Jahre. Dort haben wir zwei Musikschulen gegründet, das Projekt heißt ‚Pan y Arte‘ (Brot und Kunst). Ich hoffe, ich gehe mit gutem Beispiel voran.“ 

 

Was ist Ihre Meinung zum Image der Chormusik im deutschen Fernsehen? Kommen wir endlich von der „Gotthilf-Fischer-Monokultur“ weg, und von der „Hitparade der Volksmusik“? Haben sich neue Vertreter solcher kommerziellen Massenbewegungen schon längst in Szene gesetzt? Welchen Einfluss haben die vielen Casting-Shows? Und sind die berühmten Bemerkungen von Adorno über Chorsingen als eine„Anbiederung ans Volk und dessen angeblich heile oder naturhafte Kräfte“ und der „Vorrang des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen, die Diffamierung des Intellekts“ endlich Schnee von Gestern? „Ich habe mit solchen medialen Phänomenen nicht viel am Hut. Wichtig ist, wir schauen nach vorn und versuchen, die neue Energie, die offensichtlich z.B. in den Grundschulen vorhanden ist, in das deutsche Chorwesen einfließen zu lassen. Schließlich haben wir dort unglaublich viel Arbeit in den letzten Jahren geleistet. Irgendwann werden wir ernten, das was wir gesät haben.“

 

Hartnäckig wie ich bin, bleibe ich beim selben Autor, laut Adorno: „Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei“. Vielleicht aber nehmen wir lieber seine Beschreibung des Chorsingens als ein „Sanktioniertes Schutzgebiet der Irrationalität“ ins Visier? „Ein schönes Zitat, das zum Thema ganz gut passt. Kunst hat was Schönes, eventuell auch was nicht ganz Nachvollziehbares…es hat mich übrigens unglaublich gefreut, mit Ihnen über die neue Chorlandschaft Deutschlands zu plaudern. Bis die Tage…vielleicht sehen wir uns in Dortmund.“

 

Mehr Informationen unter: www.chor.com

 

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