Ligeti von...

© G. Bublitz

Frieder Bernius

Schon beim ersten Anblick der Partitur von Ligetis “Lux aeterna” war ich wie vom Blitz getroffen. Sie hat mit einem Schlag mein Verständnis Neuer Musik neu geprägt und mich davon überzeugt, dass Ligeti der wichtigste Komponist der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Diese Überzeugung ist seither nicht erschüttert worden. Die Partitur seines “Requiem” hing 25 Jahre über meinem Schreibtisch, bis ich die Gelegenheit fand und die Reife erreicht hatte, die für dessen Aufführung und Aufnahme nötig ist. Darüber hinaus hat Ligetis Satztechnik mein Verständnis davon entscheidend beeinflusst, wie für Stimmen dieselbe Perfektion zu erreichen sei wie sie für Instrumente a priori selbstverständlich ist: durch einen weitgehenden Verzicht auf Vibrato und einen Ausgleich offener und geschlossener Vokale, was bei unterschiedlichen Halb- und Ganztonabständen die Intonation und die Balance von Stimmen entscheidend verbessern kann. Denn das geschlossene “U” in “Lux” wird immer leiser klingen als die offenen Vokale in “aeterna”, was dynamisch auszugleichen ist, und die offenen Vokale von “aeterna” benötigen andererseits eine gute Stimmtechnik, um sie auf derselben Tonhöhe wie “Lux” zu halten. Es war mir wichtiger als andere Auszeichnungen, dass mir Ligeti in einem Brief zu der Aufnahme von “Lux aeterna” geschrieben hat: “das ist eine seltene Freude”! Frieder Bernius, Gründer und künstlerischer Leiter des Kammerchor Stuttgart


Laura Antal

Ein Erleben der Verwandlung mit Ligeti

Im ersten Konzert des Free Voices Ensemble (https://szabadhangok.wordpress.com/) 2003 wurden zwei der Nonsense Madrigals von Ligeti aufgeführt. In den darauf folgenden Jahren führten wir immer mehr Stücke daraus auf und letztendlich das gesamte a cappella Vokalwerk von Ligeti. Als Chorleiterin und Person, die sich gern Herausforderungen stellt, habe ich es mir zur Inspiration und zum Abenteuer gemacht, Ligetis Musik zu unterrichten und zu interpretieren. Ich war dabei spezielle Stimmübungen für jedes Werk vorzubereiten und entsprechend sorgfältig herausgearbeitete Methodik einzustudieren. Ich war dabei auf der Suche nach der bestmöglichen Dirigiertechnik bzw. –gestik aber auch Technik der Taktung. In Hinblick hierauf war A Long, Sad Tale, das ich mit durchgehender Jazz-Taktung einstudiert habe, eines der anspruchsvollsten Stücke. Danach habe ich das Ensemble nicht mehr dirigiert, wenn das Stück wieder aufgeführt wurde, was jedoch selten geschah, da der Chor leidenschaftlich als Projektchor arbeitet. In unserem letzten Konzert haben wir Ligetis Technik der Komposition herausgearbeitet, die in Musica ricercata vorkommt. Die unterschiedlichen tonalen, strukturellen und atmosphärischen Eigenschaften der Sätze wurden musikalisch umgesetzt bzw. durch improvisierte Wortbeiträge von Sándor Weöres in Ton übertragen. Im Zuge dessen war es uns meines Erachtens gelungen, uns in den spannendsten Bereich der Chorimprovisation voranzutasten, indem wir zu Ligetis Musik mit den besten Fähigkeiten eines Interpreten beitragen konnte. Laura Antal, Dirigentin und außerplanmäßiger Professorin an der Universität von Pécs, allgemeine Musiklehre an der Zoltán Kodály Chorschule in Budapest, Ungarn

Übersetzt aus dem Englischen von J. Aaron Baudhuin, Deutschland


Sarah Newman

In diesem Jahr hatte ich das große Glück, mich gesanglich mit mehreren Werken György Ligetis zu den Gedichten Friedrich Hölderlins vertraut zu machen. So habe ich neben den „Drei Hölderlin-Phantasien“ für 16 Stimmen auch Ligetis einfaches, aber vielschichtiges Lied „Der Sommer“ mit aufgeführt. Als Vorbereitung auf beides habe ich mich intensiv mit Hölderlins tragisch-romantischem Leben beschäftigt und mit der Art und Weise, wie die verschiedenen Schaffensphasen seine Geisteshaltung (und geistige Gesundheit) widerspiegeln. Hat man das einmal durchschaut, erscheinen Ligetis Vertonungen in ihrer Struktur noch vollkommener. Die „Phantasien“ bestehen aus wunderschönen lyrischen Linien, von denen der Hörer nur einen kleinen Moment mitbekommt, bevor im Kanon die Farben zusammengewirbelt werden. Die melodischen und harmonischen Strukturen verlieren sich im Unbestimmten, aber hin und wieder blitzt ein Moment der Klarheit durch (man denke an „das Land“ in der 1. Hälfte des Lebens oder meine Lieblingsstelle in der 3. Abendphantasie „Sanfter Schlummer“), bevor sie wieder ins „Chaos“ abtauchen. Das Lied „Der Sommer“ ist vom Text her sehr einfach, doch die Komposition gibt Aufschluss über die Spätphase von Hölderlins Leben. Die täglichen Spaziergänge, bei denen er die Natur, die Schönheit und den Frieden seiner Umgebung genießt und sich mit der Tatsache zu arrangieren versucht, dass dies auch noch Bestand haben wird, wenn er längst von uns gegangen ist, werden in der Klavierbegleitung von Ligeti bildhaft dargestellt, während die Gesangslinie träumerisch dahinschwebt und sich ab und zu in Verzweiflung steigert, um sich dann sanft mit dem Unvermeidlichen abzufinden und wieder ins Träumen zu kommen. Für Sängerinnen und Sänger ist es eine spannende Angelegenheit, solch eine wunderbar komplexe und reiche Musik zum Leben erwecken zu dürfen. … Man muss nur aufpassen, dass man sich nicht verzählt! Sarah M. Newman, Sopranistin, USA/Deutschland

Übersetzt aus dem Englischen von Petra Baum, Deutschland


© Katinka Hustad

Yuval Weinberg

Vor ein paar Jahren, eben noch bevor ich offiziell mein Amt als Chefdirigent des SWR Vokalensembles begonnen habe, sagte mir die Dramaturgin des Chors, Dorothea Bossert, dass sie eine große Zahl von a cappella Stücken von György Ligeti gefunden hat, die nie publiziert wurden. Wir waren beide begeistert und entschieden, dass wir seine ganze Musik für unbegleiteten Chor aufnehmen würden. Dorothea nahm Kontakt auf mit der Paul Sacher Stiftung in Basel (die die Manuskripte besitzt) sowie mit Schott Music und einige Monate später fingen die neu gedruckten Partituren anzukommen. Zu unserer Überraschung waren alle diese frühen Werke, bis auf eines, auf Ungarisch. Viele der Stücke sind Bearbeitungen ungarischer Volksmusik, und einige sind seine eigenen Kompositionen verschiedener ungarischer Texte. Das erste, was wir gemacht haben, war, alles zu übersetzen und Sprachtrainer zu finden, die mit dem Chor und mir arbeiten würden. Für mich ist es faszinierend, den Lebensweg eines Komponisten durch sein musikalisches Werk zu verfolgen; beginnend mit wunderbaren Miniaturen aus den 1940er Jahren wie “Magány” oder “Temetés a tengeren”, dann seine “Éjszaka” und “Reggel” (1955- Nacht und Morgen), die ich als seinen ersten musikalischen Wendepunkt beschreiben würde; das bekannte “Lux aeterna” von 1966 und dann nach fast 20 Jahren, in denen er keine Chormusik komponierte, die gewaltigen “Three Fantasies after Friedrich Hölderlin”, die die ganze Bandbreite der stimmlichen Fähigkeiten eines Chors erkunden, voll von eindrücklichen Bildern, Wortmalerei und Polyphonie. Yuval Weinberg, Chefdirigent des SWR Vokalensembles Stuttgart

Übersetzt aus dem Englischen von Momoka Kushida, Lettland/Japan

 

György Ligeti Complete Works for a cappella Choir
SWR Vokalensemble
Yuval Weinberg
SWR Classic SWR19128CD