Lithuania Cantat und Erster Internationaler Wettbewerb für Chöre und Orchester ‘Birštonas Cantat’, 2018

Theodora Pavlovitch, Chordirigentin und Professorin

 

Litauen – das größte der baltischen Länder – ist berühmt für seine Chortradition. Viele litauische Chöre, Dirigenten und Komponisten sind in der ganzen Welt wegen ihrer künstlerischen Leistungen hoch geachtet.

Betrachten wir die Geschichte des Landes, so können wir eine ganze Reihe eindrucksvolle Fakten hinsichtlich seiner Entwicklung und internationalen Beziehungen entdecken. Der Name Litauen erschien zum ersten Mal im Jahre 1009 AD (Edvardas Gudavičius, Lithuanian History: From Ancient Times to the Year 1569, Vilnius, Seite 28, ISBN 5-420-00723-1). Das Großherzogtum Litauen entstand im 13. Jahrhundert und war einer der erfolgreichsten und mächtigsten Staaten Europas. Im 15. Jahrhundert war es das größte Land Europas und erstreckte sich über die heutigen Territorien Litauen, Belarus (Weißrussland) und die Ukraine, und Teile Russlands und Polens gehörten ebenfalls dazu. Das Christentum wurde Anfang des 14. Jahrhunderts zur offiziellen Staatsreligion. Die dynastische Union mit Polen (im Jahre 1385) führte zu einer starken Beziehung zwischen den beiden großen Ländern. Der so entstandene polnisch-litauische Staatenbund bestand bis 1795. Die Ausdehnung des russischen Reiches radierte Litauen von der Landkarte, und die Litauer lebten unter der Herrschaft des russischen Kaiserreiches bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Litauen wurde 1918 als unabhängiger Staat wieder neu gegründet und bestand als solcher bis zum Anfang des Zweiten Weltkrieges, als das Land von der Sowjetunion erst besetzt und später eingegliedert wurde. Fast 120.000 Menschen (5% der Bevölkerung) wurden deportiert, und Tausende mehr waren zwischen 1944 und 1953 politische Gefangene.  Zahlreiche führende intellektuelle Persönlichkeiten und fast alle katholische Geistliche gehörten zu den Deportierten. Viele von ihnen kehrten nach 1953 nach Litauen zurück. 1990/91 wurde die staatliche Souveränität wieder hergestellt („Act of Re-Establishment“), und 2004 wurde das Land in die Europäische Union aufgenommen. 

Chorsingen spielte seit Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der litauischen Kultur. Der erste litauische Chor machte sein Debüt am 17. Februar 1895 mit einem Konzert aus Anlass des zehnten Jahrestags der litauischen Gesellschaft  “Birutė”. Im Dezember 1895 wurde die Litauische Sängerschaft Tilsit von Vydūnas (Vilius Storosta) gegründet. Die Gruppe gab danach Konzerte, Abende, z.B. zum Johannisfest in Tilsit, Klaipėda, Gumbinė, Verdainė, Rusnė, Ragainė, Juodkrantė, Smalininkai. Bis zu tausend Menschen kamen zu den Konzerten aus Anlass der sogenannten litauischen Winter- und Sommerfeste, die dann später – ab 1902 – Sängerfeste genannt wurden.  1899 versammelte der Komponist Juozas Naujalis die Mitglieder seines Domchors von Kaunas und gründete den geheimen „Daina“-Bund.

Die demokratischen  Entwicklungen in Litauen im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts haben die Gesellschaft stark verändert, und die litauische Chormusikwelt  hat sich stark belebt und weiter entwickelt. Das erste litauische Gesangs- und Tanzfest dieser neuen Epoche fand 1994 statt; Teilnehmer waren u.a. litauische Emigranten aus den USA, Kanada, Australien, Argentinien, Deutschland, Polen, Lettland, der Ukraine, Russland und Belarus (Weißrussland). 1.200 emigrierte Sänger, Tänzer und Instrumentalisten sangen, tanzten und spielten zusammen mit 26.000  Litauern. Im Gedenken an die Organisatoren des ersten Sängerfestes 1924 gab es ein Konzert im Sängertal von Kaunas und eine Komposition, gewidmet den litauischen Sängerfesten, wurde feierlich uraufgeführt.  Das Fest findet jetzt alle vier Jahre statt, dieses letzte vom 30. Juni bis 6. Juli.

Heutzutage gibt es Hunderte von Chören in Litauen, und in Vilnius alleine sind drei Gewinner des European Grand Prix for Choral Singing aktiv: der gemischte Chor ‘Brevis’ (Ltg. Gintautas Venislovas) 2003, Jauna Muzika (Ltg. Vaclovas Augustinas und Romas Skapas) 1993, und der Kammerchor des Konservatoriums von Vilnius, (Ltg. Tadas Sumskas) 1991. Der bekannteste litauische Komponist und Chordirigent Vytautas Miškinis hat über 400 weltliche und etwa 150 sakrale Stücke geschrieben, die in der ganzen Welt gesungen werden.

Das Programm von Lithuania Cantat umfasst sechs große Chorveranstaltungen: das Internationale Chor- und Kompositionsfestival, genannt nach dem litauischen Musikpatriarchen Juozas Naujalis, das Festival für geistliche Musik – Kaunas Musica Religiosa, Kaunas Cantat, Siauliai Cantat, Cantate Domino; und das neueste, das Erste Internationale Festival und Wettbewerb Birštonas Cantat, fand in Birštonas, einem wunderschönen Kurort in Litauen, vom 17. bis 20. Mai 2018 statt. Die teilnehmenden Chöre und Orchester kamen aus Schweden, Polen, Estland, Russland und Litauen.

Die führende Persönlichkeit von Lithuania Cantat und zugleich der Gründer ist Rolandas Daugela – Außerordentlicher Professor am Musikgymnasium Juozas Naujalis und Dozent an der Musikakademie der Vytautas Magnus Universität. Er ist bekannt als Dirigent des Kammerchors Cantate Domino, des akademischen Chors VMU ‘Vivere Cantus’ und des Juniorchors der Juozas Naujalis Musikschule; er war auch Chefdirigent bei den Sängerfesten von Kaunas und dem Litauischen Weltsängerfest. Als Jurymitglied  hat er an einer Reihe von Chorwettbewerben und Festivals in Italien, Polen, Lettland, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Mazedonien teilgenommen. Seit 1992 hat er das Programm von Lithuania Cantat zusammengestellt und ist seitdem künstlerischer Leiter der Veranstaltung.

Eine weitere wichtige Persönlichkeit und voller Energie hinter der Kulisse von Birštonas Cantat ist die Festival-Managerin Silvija Prockyte – Mitglied des Jugendausschusses der European Choral Association – Europa Cantat und Chordirigentin des  Akademischen Chors VMU ‘Vivere Cantus’.

Beide waren zusammen mit ihrem Team verantwortlich für die fantastische Organisation und die wunderbare Atmosphäre von Birštonas Cantat. Die teilnehmenden Chöre waren glücklich, und alle gaben ihr Bestes.

Ein besonderer Festivalgast war das berühmte Sofia Vocal Ensemble (Stockholm, Schweden) unter Leitung von Bengt Ollén. Der Chor war Gewinner des European Grand- Prix for Choral Singing 2012 und einer der eingeladenen Chöre beim 10. Weltchorsymposium in Südkorea 2014. Das Sofia Vocal Ensemble sang beim Eröffnungskonzert von Birštonas Cantat ein wunderschönes Programm mit dem Titel ‘Sun, Sea and Hope’ (Sonne, Meer und Hoffnung) mit zeitgenössischen und traditionellen Stücken von schwedischen und anderen Komponisten.

Über die nächsten Tage präsentierten die teilnehmenden Chöre und Orchester ihre Programme in den wunderschönen Konzertsälen des Kulturzentrums und dem Kurhaus von Birštonas.

Die Gewinner der Goldmedaille des Festivals:

• Kammerchor Senza Rigore der Karol Lipinski Musikakademie Wroclaw, Ltg. Jolanta Szybalska-Matczak (Polen) in den Kategorien ‘Musica Sacra a Cappella’ und ‘Jugend- und Studentenchöre’
• Gemischter Chor ‘Tume’, Ltg. Rudolfs Bacans (Lettland) in der Kategorie ‘Erwachsenenchöre’
• Das Vokalquartett desJuozas Gruodis Konservatoriums, Ltg. Raimonda Navickiene und Rasa Ivanauskiene (Litauen) in der Kategorie ‘Pop- und Jazz Musik‘
• Young Symphonists of Saint-Petersburg, Ltg. Dmitry Vorobjev (Russland) in der Kategorie ‘Jugendorchester’.

• Der Polizeichor ‘Chorus Menticum’ (Tartu, Estland) erhielt einen Sonderpreis für seinen einzigartigen Ausdruck und sein attraktives Programm.

Die Ziele des neuen Festivals, nämlich, Chortraditionen zu bewahren, neue Genres der Chormusik vorzustellen und zu entwickeln und Chöre und Jugendorchester aus verschiedenen Ländern und Kulturen zusammenzubringen sind erfüllt worden!   Die Organisatoren des  Birštonas Cantat Festivals 2018 verdienen stehenden Applaus für ihre fantastische Teamarbeit, ihren Enthusiasmus und ihre Energie!  Sie haben bewiesen, dass ein neues Festival sehr erfolgreich sein kann, wenn die Vision stimmt und gute Laune vorherrscht. Wir freuen uns alle jetzt schon auf die nächsten Internationalen Festivals für Chöre und Orchester Birštonas Cantat!

 

Theodora Pavlovitch ist Professorin für Chordirigieren und Leiterin der Fakultät für Dirigieren der bulgarischen Nationalen Musikakademie. Sie leitet den Kammerchor Vassil Arnaoudov, Sofia, und den Classic FM Radio Choir (Bulgarien). 2007/2008 dirigierte sie den Weltjugendchor, der von der UNESCO mit dem Titel Artist for Peace (Künstler für den Frieden) ausgezeichnet wurde, eine Anerkennung des Erfolgs des Weltjugendchors als eine Plattform für interkulturellen Dialog durch Musik.  Prof. Theodora Pavlovitch wird häufig als Jurymitglied zu internationalen Chorwettbewerben eingeladen, sowie als Dirigentin und Dozentin auf renommierte internationale Chorveranstaltungen in 25 Ländern in Europa sowie in die USA, Japan, Russland, China, Hong Kong, Taiwan, Südkorea, Israel. Seit 2012 repräsentiert sie Bulgarien im  World Choral Council (Weltchorrat). Email: theodora@techno-link.com

 

Übersetzt aus dem Englischen von Jutta Tagger, Frankreich