Für Liebe und Leben: 1 Jahr nach dem 100. Jahrestag des Völkermords in Armenien öffnet armenische Chormusik weite Horizonte
Von Maya Shavit, Chorleiterin und Lehrerin
Eindrücke von 10 Tagen mit den kleinen armenischen Sängern und ihrem Maestro, Tigran Hekekyan
Vorwort
Als eingeladene Gastdirigentin hatte ich das Privileg eines gemeinsamen Konzerts mit Maestro Hekekyan und durfte durch die Augen der Kinder den Wert der Kultur im Allgemeinen und der Chormusik im Besonderen für die junge Generation Armeniens erleben.
Der Anfang
Meine Verbindung zu Armenien begann mit “Die vierzig Tage von Musa Dagh“ von Franz Werfel, das ich als junges Mädchen las. Das Buch hinterließ einen tiefen Eindruck in meiner Seele. Armenien wurde mehr als der Name eines Landes.
Die ersten Klänge armenischer Musik hörte ich während des WSCM in Minneapolis. Ein junger Chor aus Armenien mit einem verblüffend frischen Klang und ungewöhnlichem Repertoire, geleitet von Tigra Hekekyan, nahm meine Ohren und mein Herz gefangen. Der nächste Schritt war eine Einladung zu einer Meisterklasse in Jerusalem.
Tigran Hekekyan und Aaren Saluveer arbeiteten gemeinsam eine Woche lang mit 50 jüdischen und arabischen jungen Sängern. Das Repertoire – armenisch und skandinavisch. Großartige Musik von armenischen Komponisten neben dem skandinavischen Programm.
Der armenische Völkermord – der 100. Jahrestag
Vor dem 100. Jahrestag des Völkermords in Armenien lud mich Maestro Hekekyan ein, zu kommen und mit seinem Chor ein gemeinsames Konzert vorzubereiten. So kam ich im April 2015 für 10 unvergessliche Tage voller Arbeit und Konzerte mit kleinen armenischen Sängern nach Armenien. Das Konzert sollte einen Bezug zu der Woche der Veranstaltungen zum 100. Jahrestag des Genozids haben. So beinhaltete das Programm gemäß dem Namen des Konzerts – For love and life – Lieder und Werke, die Hoffnung und Gebete für Frieden und Freiheit ausdrückten. Die Woche der Veranstaltungen rund um den 100. Jahrestag vereinte die ganze Gemeinde. Es lag in der Luft, und beim Besuch des Denkmals zwei Tage später war die Beteiligung des armenischen Volks laut und eindeutig: Sie kamen aus allen Ecken des Landes mit Kindern, um Blumen auf dem wachsenden Berg, der schon um das ewige Feuer entstanden war, zu legen.
Der Chor
Die Kinder des Chors sind jung, aber professionell. Ihre Fähigkeit, Neues zu lernen, geht einher mit einem echten Enthusiasmus, so gut wie möglich zu sein, mit dem Ausdruck des Respekts gegenüber dem professionellen Team vor ihnen, ihrem eigenen Dirigenten, dem Pianisten, den Assistenten und jedem Künstler, der kommt, um mit ihnen zu arbeiten. Ich brachte in unsere Arbeit eine andere Nutzung des Raums, Experimente mit Klängen und andere Ideen, die neu für die Kinder waren, mit ein, und die Reaktion der Kinder war verblüffend. Ich nannte sie “Kinder von einem anderen Stern…“ Es gab viel hebräischen Text zu lernen, aber die Kinder kannten alles bereits auswendig, als ich ankam. Noten wurden in den Proben nur für musikalische Hinweise wie Dynamik, Tempo, Phrasierung und Ausdruck etc. benutzt. Ein Lied wie ’As clay in potter’s hand’ von Yoni Rechter, das auch das Lernen komplexer Bewegungen verlangte, brachte ihnen meine Tochter Vered Shavit bei, und die Kinder liebten die Arbeit mit ihr. Alles Hebräische wurde perfekt ausgesprochen, so dass es einfach war, an der Bedeutung und all den musikalischen Aspekten zu arbeiten.
Tigran Hekekyan
Überflüssig zu sagen – Maestro Hekekyan ist einer der wichtigsten und beliebtesten Menschen der armenischen Kultur. Er ist ein wahrer ’workaholic’, der sich um das große Ganze genauso sorgt, wie um ein einzelnes Kind, das etwas zusätzliche Aufmerksamkeit benötigt. Sein Dirigieren reißt Sänger und Zuhörer gleichermaßen mit, und der Chor reagiert darauf mit bedingungsloser Hingabe. Man braucht nur in ihre Gesichter zu sehen! …
Der armenische Geist
In den Augen eines Besuchers, der nur kurz verweilt wie ich, verdeutlichen viele Symbole den armenischen Geist: die Bewahrung der frühen Christianisierung, die Erfindung des armenischen Alphabets, die ästhetischen Prinzipien und die Schönheit, die in Yerevan mit seinen Gärten, Skulpturen und großzügigen öffentlichen Plätzen besonders deutlich wird. Und da ist der Ararat, der majestätische schneebedeckte Berg, von dem du an einem klaren Tag ’bis ins Unendliche’ sehen kannst. Er steht für Geschichten, Legenden und die Sehnsucht nach einer Zeit, als der Berg an der armenischen Grenze stand
Der Völkermord ist die prägendste Geschichte von allen, aber jetzt, 100 Jahre später, kann das armenische Volk mit einem Geist vorwärts sehen, der auf seiner starken Kultur gegründet ist. In der Musik macht die Vielzahl der Komponisten, die Legenden, Traditionen und Innovation zum Leben erwecken, die armenische Chorszene zu einer sehr lebhaften. ’Klassische’ Komponisten wie Mashtots, Komitas und Robert Petrosian sind die Grundfesten der armenischen Chormusik. Jedoch ist die jüngere Generation der Komponisten sehr aktiv und fügt ein reiches und vielfältiges Repertoire hinzu. Auf dieser Liste findet man David Haladjyan, Myrzoyan, Edgar Hovhannisyan, Arthur Aharonyan, Stepan Shakaryan, Ervand Erkanyan, Svetlana Aleksanyan und Vahram Sargsyan.
Das Konzert: For love and life
Es war ein Gemeinschaftskonzert, achtsam verwoben vom Maestro, von Orlando di Lasso zu Nancy Telfer, von einem Ladino-Lied zu Haladjian, von Yoni Rechter zu Sting und von englisch zu armenisch, lateinisch, hebräisch… die Kinder waren das Herz und die Seele des Konzerts, wie Ton in unseren Händen.
Erebuni Yerevan
‘Mein uralter Erebuni, du wurdest Yerevan’
Dieses patriotische Lied von Edgar Hovhanessian ist bei Jung und Alt beliebt. Es war das Zugabestück des Konzerts. Für dieses Lied kam der junge, in weiß und gelb gekleidete Chor auf die Bühne zu dem dort bereits singenden Chor. Der erste Klavierakkord weckt erregtes Flüstern im ganzen Saal. Die Augen der Sänger strahlen, und die Emotionen füllen die Luft. Maestro Hekekyan zieht mich zur Mitte der Bühne, damit ich den letzten Vers übernehme, mit einem überraschenden gemeinsamen Dirigat des Endes. Das Publikum erhebt sich und stimmt in die letzten Zeilen mit großer Erregung ein.
Dieses Konzertende bedeutete für mich der armenische Geist. Dies geht über den Genozid hinaus, dies ist für die Zukunft, für die junge Generation.
Nachdem ich nach Hause zurückgekehrt war, schickte ich den Kindern ein paar Zeilen:
‘Ihr mögt jung sein, aber eure Herzen und Seelen strahlen durch euer Singen – so klar wie fließendes Wasser, so hell wie Sterne, so frisch wie Morgentau, aber laut und stark wie das armenische Volk.’
Dank muss an das unterstützende musikalisch/pädagogische Team gehen: Marine Margaryan, die unglaubliche Pianistin, Marine Avetisyan und Manuel Ohanyan, die assistierenden Chorleiter, die dafür sorgen, dass dieses besondere Juwel weiterhin seine Botschaft von Liebe, Schönheit und Frieden ausstrahlen kann, in alle Welt.
Geboren im Kibbutz Maa’barot, Israel, studierte Maya Shavit an der Hochschule für Musiklehrer in Tel-Aviv und ist Absolventin der Musikwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Tel-Aviv. Sie studierte Chorleitung in Israel bei Maestro Gary Bertini und an der Guildhall School of Music in London bei Maestro John Alldis. Sie ist Gründerin und musikalische Leiterin des Efroni Girls’ Choir von 1981 bis 2013. Der Chor hat sich durch Konzertreisen in Europa einen internationalen Ruf erworben. Maya ist Initiatorin vieler jüdisch-arabischer Choraktivitäten, mit denen sie Brücken zwischen den Kulturen bauen will: Maya Shavit war Vorstandsmitglied von Hallel, der israelischen Chororganisation (2002-2008), und war Vorstandsmitglied von IFCM, der Internationalen Föderation für Chormusik (2005-2011). E-Mail: efronichoir@gmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Anne Uhlig, Deutschland