Die Verwendung des Chors in Sinfonien von Gustav Mahler: Philosophische und technische Elemente des Chorgebrauchs
Adamilson Guimarães de Abreu, Chorleiter
- Einleitung
Gustav Mahler (1860-1911) wird als Meister der Instrumentaltechnik und des Orchestrierens angesehen. In Wirklichkeit nimmt aber seine Chormusik eine Vorrangstellung innerhalb seines kompositorischen Oeuvres ein, vor allem in den Sinfonien. Im Laufe der Zeit ist die Reputation Mahlers als großer Dirigent der Anerkennung als hervorragender Komponist gewichen. Heutzutage wird Mahler als das Ende einer ausgewählten Reihe ungewöhnlicher österreichisch-deutscher Sinfonie-Komponisten verstanden. Zusätzlich zu seinen neun Sinfonien, von denen fünf Chorteile und/oder Vokalsolisten verlangen, weist Mahlers hochgeschätztes Oeuvre eine weltliche Kantate und fünfzig Lieder auf (darunter auch orchestrierte). Trotz der auffälligen Präsenz von Singstimmen in Mahlers Kompositionen haben Wissenschaftler, statistisch gesehen1, seinem Vokalschaffen nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie seiner instrumentalen Kunst.
Untersuchungen zu Mahler sind reichlich in Form von Einzelstudien vorhanden. Das einzige Problem ist, wie schon erwähnt, ihre Zielrichtung: nur wenige beziehen sich unmittelbar, vollständig oder gezielt auf seine Chorbehandlung. Die spezifischsten sind neuere Arbeiten in Form von Artikeln oder Dissertationen. Mit Ausnahme einer einzigen Website sind alle von mir gefundenen in wissenschaftlichem Duktus; die Mehrzahl von ihnen erschienen erst in jüngster Zeit, Arbeiten amerikanischer und europäischer Forscher; sie beziehen sich auf sein ganzes Leben oder konzentrieren sich auf etwas anderes als seine Chorverwendung. Deshalb zielt meine Arbeit darauf, diese Studien nach zutreffenden Details zu durchsuchen. Andere wichtige Quellen sind persönliche Unterlagen wie Briefe, Erinnerungen, Bilder und Programmnotizen, die sich auf Mahler und seine engsten Begleiter beziehen. Und natürlich ist Mahlers Musik selbst in Form von Partituren und Aufnahmen von grundsätzlicher Bedeutung für meine Untersuchung.
Wenn man davon ausgeht, dass Mahlers Chormusik immer noch nur einen untergeordneten Rang einnimmt, habe ich mich darum bemüht, Quellen zu ermitteln, die sich mit der Behandlung oder Überprüfung des Chors in Mahlers Sinfonien Nr. 2 (1895) und Nr. 3 (1902) [die sogenannten Wunderhorn-Sinfonien] sowie Nr. 8 (1909) befassen, den drei Sinfonien mit Chorteilen. Den Schwerpunkt legte ich dabei auf musikalisch/philosophische Fragen und auf technische Elemente des Choreinsatzes, weil Mahlers Psyche und Lebensphilosophie nicht von seinen Kompositionen getrennt werden kann.
- Mahlers philosophischer und literarischer Hintergrund
Um die Musik Mahlers besser zu verstehen, ist es wichtig, Licht auf seine Lebensphilosophie zu werfen. Wenn man von den zahlreichen persönlichen Aussagen2 zu seinen eigenen Programmen für die Sinfonien3 ausgeht, von den großen mit ihm verbundenen literarischen Denkern, dann scheint es, dass metaphysische und eschatologische Fragen untrennbar mit Mahlers Leben und seinem Kompositionsprozess verbunden waren. Constantin Floros argumentiert auf diesem Wege, wenn er schreibt:
Gustav Mahler ist einer dieser Künstler, deren Kunst und Persönlichkeit nicht voneinander getrennt werden können. Sein sinfonisches Schaffen, so paradox dies auch erscheinen mag, drückt seine Weltsicht aus; es hat einen literarischen und philosophischen Hintergrund. Sein religiöses und philosophisches Denken kann nicht von seinem Werk getrennt werden.4
Dieser von Floros aufgezeigte Weg kann uns helfen, die Psyche von Mahler und ihre Umsetzung in Musik als Ausgangspunkt zum Verständnis seiner Chormusik aufzuzeigen.
Die Literatur und mit ihr verbundene Menschen spielten eine große Rolle im Rahmen von Mahlers musikalischem Oeuvre. Floros bekräftigend, argumentiert David Holbook: „In der Literatur haben wir nichts, das so grundsätzlich mit fundamentalen Existenzproblemen befasst ist wie Mahlers Werke.“5 Steven Johnson befasst sich detailreich mit den Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860) und Friedrich Nietzsche (1844-1900) sowie dem Komponisten Richard Wagner (1813-1883), drei Persönlichkeiten, die in der Musik Mahlers „ihren Fingerabdruck hinterließen“. Zum Beispiel stellt Johnson die Dualität der Gedanken heraus, die sich in Mahlers Dritter Sinfonie ausdrückt, zuerst verwurzelt in Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (1818)6 und dann in Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872)7. Nach Holbrook „würde Mahler eine gleiche Dualität in Wagners Artikel über Beethoven gefunden haben, von dem Mahler einmal sagte, es sei die beste Schrift über Musik“.8 Johnson deutet also an, dass Wagners Ruf nach einer Wiedererweckung des deutschen Geistes durch Beethovens Musik der einflussreichste Anlass für den jungen Mahler war.9
Eine andere wichtige Person der Literatur für Mahlers philosophisch/literarisches Denken war Johann Wolfgang von Goethe. Mahler verehrte Goethe tief und wurde besonders angezogen von der Schlussszene im zweiten Teil von Faustwegen ihrer Verbindung zu metaphysischen Themen.10 Mahler hatte eine Biographie von Goethe gelesen und, während die Achte Sinfonie entstand, schrieb seine Frau: „Goethe und Äpfel sind die beiden Dinge, ohne die er nicht leben kann.“11 Ganz klar übte Goethe einen starken Einfluss auf Mahlers Denken aus.
- Philosophieren mit Musik
Mahlers Sorge um den Lebenssinn ist die stärkste Triebfeder in seinen Sinfonien. Zu Komponieren war seine Art zu philosophieren, seine Suche nach Antworten auf die fundamentalen Fragen des Menschseins. Was sind wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn des Lebens? Was bleibt nach unserem Tod? Die von ihm für seine Sinfonien geschriebenen Programmskizzen sind nichts als ein Versuch sicherzustellen, dass seine Hörer den spirituellen Inhalt erkennen würden und seinen persönlichen Weg hin zu den ursprünglichen Fragen des Lebens.
Mahlers metaphysische Bezogenheit spiegelt die soziologische Angst der Jahrhundertwende oder den sogenannten Existentialismus des Fin de siècle, zeitgleich mit dem Zerfall des Österreichischen Imperiums. Peter Franklin, zum Beispiel, bezieht sich auf viele unübliche Züge, die sich in Mahlers Kompositionen vor konventionelle musikalische Merkmale drängen – wie etwa verschiedene Klangfarben, große Orchesterbesetzungen, extreme Lautstärken, räumliche Trennung von Instrumenten, Anspielungen auf Kräfte der Natur, und auf nachweisbare Formen populärer Musik. All diese unkonventionellen musikalischen Züge stellen die kulturellen Voraussetzungen von Mahlers Zeit infrage und kritisieren sie.12
Ein anderer offensichtlicher Aspekt von Mahlers Faszination für Metaphysik war sein Gefühl von Spiritualität als Ergebnis seines jüdischen Erbes in Verbindung mit seiner späteren Konversion zum Christentum (1897). Alma Mahler bemerkte, dass „seine geistlichen Lieder, die Zweite Sinfonie, die Achte Sinfonie, und alle Choräle in den Sinfonien auf seiner eigenen Persönlichkeit beruhen – und nicht von außen an ihn herangetragen wurden! Er verleugnete nie seine jüdische Herkunft – er war ein Judenchrist.“13 Diese Vermischung von literarischen, soziologischen, inneren und religiösen Einflüssen wird eine körperliche Gegenwart in Mahlers Musik finden.
- Die Vermittlung philosophischer Fragen in Musik
Noch wichtiger, als die metaphysischen Beweggründe hinter Mahlers Musik zu erkennen, ist es, auf Hinweise solcher Bedenken zu stoßen, die musikalisch in die Wirklichkeit übersetzt sind. Für Mahler „erschafft die Sinfonie eine Welt mit allen technischen Mitteln, die einem zu Gebote stehen“.14 Nietzsches These brachte Mahler möglicherweise dazu, einfache Volkslieder als wesentlichsten vorhandenen musikalischen Spiegel der Welt wertzuschätzen.
Mahlers offensichtlicher Gebrauch volkstümlicher Formen als musikalisches Spiegelbild der Welt ermöglicht ihm auch, persönliche Eigenschaften wie z.B. Ironie mitzuteilen. Henry Lea verteidigt, Mahlers Ironie sei freudianisch in der Bedeutung, dass seine Musik voller Anspielungen im Aufdecken unerwarteter Tiefe sei.15 Mahler verwendet volkstümliche Formen, um eine Nachricht jenseits der funktionalen Bedeutung von Volksmusik zu enthüllen. Seine stilisierten Märsche, Tänze und Volkslieder gestalten ihren üblichen Zweck (Menschen zusammenzubringen) in eine größere universelle Mitteilung über die menschliche Lage um.16 Beispielsweise ist der Chor bei Mahler eine individualisierte Stimme in dem Sinne, dass beständige Harmonie- und Rhythmus-Rückungen, verfeinerte Orchestrierung und die emotionale Qualität der Musik mit der Religiosität des Textes kontrastieren.17 Mahler etabliert seine Ironie musikalisch, indem er eine gemeinschaftliche Form verwendet, um genau das Gegenteil ihres Gemeinschaftsgefühls auszudrücken.
Eng verbunden mit Ironie ist Mahlers Sinn für Humor, der ebenfalls seine Musik durchdringt. Es ist wichtig, den hohen Grad von Mahlers Sinn für Humor zu betonen. Wie er selbst feststellt, „sollte Humor herangezogen werden, um nur die höchsten Gedanken auszudrücken, die sonst nicht geäußert werden können.“18 Sein Humor ist im Text und im musikalischen Ausdruck der Worte gegenwärtig, ohne jemals die Ernsthaftigkeit seiner Sinfonien als Ganzes zu kompromittieren.19 Zum Beispiel werden die Worte von Jesus im fünften Satz der Dritten Sinfonie belanglos gemacht durch die Anweisungen Mahlers „grob“, durch ein plötzliches Fortezeichen und die Rückkehr zu F-Dur – Elizabeth Teoli Abbate legt dar, dass es sich um das Fehlschlagen der Erhabenheit handelt.20 Und auch der Knabenchor, der wie Glocken klingt, hat einen humoristischen Effekt nach der Anspannung des vorhergehenden Satzes.
- Text und dichterische Ideen
Schon früher wurde suggeriert, dass Mahler ein humanistisches Programm in seinen Kompositionen hat, besonders in den Sinfonien. Beethoven hat den Präzedenzfall für Chormusik gegeben, also auch, dass Worte eine Botschaft an die Menschheit übermitteln. Im selben Sinne unternimmt Mahler den Schritt, diese Tradition fortzuführen.
Die Texte in Mahlers mit Vokalem verbundenen Sinfonien reflektieren seine dichterische Ästhetik zusammen mit seinem metaphysischen Anliegen. Die Texte in der Zweiten Sinfonie entfalten sich mit einer Verschmelzung von Christentum und pangermanischer Mythologie.21 Der letzte Satz ist eine dramatische Schilderung der Apokalypse, die als Hintergrund für den Choral über die Auferstehung dient. Der Text ist eine Mischung aus biblischen und Mahlers eigenen Worten. In der Dritten Sinfonie verkünden Mahlers Worte eine „nietzsche-schopenhauerische“ Feier des Willens, die Sterblichkeit zu überwinden.22 Der Text der Achten Sinfonie schließt theologische Ideen wie Gnade, Liebe und Erleuchtung ein. Im ersten Teil wird ein mittelalterlicher lateinischer Hymnus verwendet [Veni creator spiritus]; der zweite besteht aus der Schlussszene von Goethes Faust II.23 Dieser offensichtliche Widerspruch unterstreicht nur Mahlers soliden literarischen Hintergrund und die Idee, Text als zusätzliche Quelle zu verwenden, um mithilfe der eigenwilligen geistlichen Botschaft des Komponisten auf die Menschheit zuzugehen. Es gab viel Streit über die wahren philosophischen Absichten des Komponisten. Die eine Seite bevorzugt Christentum, die andere argumentiert mit heidnischen Untertönen, sogar mit religiösem Synkretismus.24 Welcher Seite seine Musik sich auch zuneigen mag – wenn sie es denn wirklich tut – , scheint Musik für Mahler sein Mittel auf der Suche nach geistiger Wahrheit zu sein, so dass wir den Text in der Folge nicht vernachlässigen können.
- Technische Bausteine der Chorverwendung
Mahler sah die menschliche Stimme als Schallquelle an, als einen unverwechselbaren Klang innerhalb der Orchesterinstrumente. In Bezug auf die Achte Sinfonie beschreibt Mahler die menschliche Stimme so: „Hier … werden Stimmen auch als Instrumente verwendet: der erste Satz ist streng sinfonisch in der Form, aber alles davon ist gesungen … eine ‚reine‘ Sinfonie, in der das schönste Instrument der Welt seinen eigentlichen Platz erhält.“25 Zoltan Roman behauptet, dass die Verwendung der menschlichen Stimme Teil von Mahlers musikalischer Entwicklung ist, von im Wesentlichen homophoner Orchesterbegleitung zur „Poly-Meliodizität“, in der der Stimme in Kompositionen wie der Achten Sinfonie eine identische Rolle wie den Instrumenten zugewiesen wird.26 Zum Beispiel verstärkt im 2. Teil, Takt 102 die fast monotone Akkordreihung der Tenöre und Bässe den harmonischen Hintergrund der Kontrabässe, der Harfe und des Harmoniums; dort wird melodisches Material kontrapunktisch zwischen den Stimmen und den Instrumenten aufgeteilt.27
Constantin Floros begibt sich noch tiefer in die Diskussion und legt dar, dass auch die Musik, weil sie gleichmäßig zwischen Singstimmen und Instrumenten verteilt ist, durch die Themen des Textes entziffert werden kann.28 Darüber hinaus werden die Themen „dergestalt instrumental geführt, dass sie wiederholt, transponiert, variiert, umgekehrt, augmentiert und miteinander verbunden sowie neu koloriert werden.“29 So näherte sich Mahler in seinem sinfonischen Konzept tatsächlich der Vokalstimme als Instrument.
Obwohl die Vokalstimme als Instrument eingesetzt wird, hat sie doch eine ausgeprägte musikalische Rolle in Mahlers Chormusik. Zunächst einmal wird das menschliche Timbre verwendet, um dichterische Bilder darzustellen, wie sie vom Text nahegelegt werden. Zum Beispiel weist die Verteilung der Klangfarben im Auferstehungschoral der Zweiten Sinfonie auf Musik hin, die sich langsam aus einer weiten Entfernung nähert, der Ruf des Engels, die Toten vom Staub zu erheben, genau wie es im Text herübergebracht wird.30 Ein weiteres Beispiel findet sich im fünften Satz der Dritten Sinfonie „Was mir die Engel erzählen“, hier ist die Klangfarbe ausgesprochen hell in Übereinstimmung mit der musica coelestis.31 Mahler orchestrierte den Satz mit Altsolo, Knaben- und Frauenstimmen, zusammen mit gestimmten Glocken,32 alles leichte und strahlende Klangfarben, mit denen die textliche Vorstellung der Musikpassage verstärkt wird.
Die Klangfarbe hilft Mahler auch bei der Verkörperung philosophischer Ideen wie Erleuchtung und Liebe, die als Kerngedanken der Achten Sinfonie dienen. Constantin Floros deutet auch an, dass eins der Themen (accende) besonders herausgehoben wird durch den Gebrauch von Knabenstimmen.33 Und Mahler unterscheidet auch zwischen den menschlichen Stimmen. Zum Beispiel berücksichtigt Mahler farbliche und klangliche Unterschiede, wenn er Frauen- und Knabenstimmen verwendet. Die Knaben singen einstimmig, während der Frauenchor reich vielstimmig gesetzt ist. Darüber hinaus sind schnellere Tempi dreistimmig, während bei langsameren Passagen Vierstimmigkeit verwendet wird.34 Diese Farbdifferenzierung dient also als ein wichtiges Mittel für Mahlers Darstellung von Ideen.
Stimmlage und -umfang sind andere Aspekte der menschlichen Stimme, um die Mahler sich in diesem Fall kümmerte, indem er sich an den großen Sängerinnen und Sängern seiner Zeit orientierte und seine Erfahrung als Operndirigent einbrachte.35 Der von ihm in seinen Werken verwendete Stimmumfang ist beträchtlich. Mahler überschreitet also die praktischen Grenzen einer gut ausgebildeten Stimme (von der großen Tredezime bis zu zwei Oktaven).36 Während die extremeren Stimmumfänge in der Zweiten Sinfonie gefunden werden, sind sie in der Achten Sinfonie eher einfach, vielleicht mit Rücksicht auf die zahlreichen Chöre, die er verlangt. Darüber hinaus liegt die Tessitur im extremen oberen Bereich des Stimmumfangs 37 Das Mittelregister (bei Altstimmen und Tenören) hat Leuchtkraft und Klarheit, eine Idee, die er seiner Orchestrierung entnommen hat, wo die Gesangsstimmen bis an die Grenzen ihres Stimmumfangs gedehnt werden.38 Die Stimme als bloße Klangquelle anzusehen mag sich im weiten Stimmumfang wiederfinden, der in Mahlers Sinfonien vom Chor verlangt wird.
Mahlers Chormusik enthüllt eine Balance zwischen den Techniken akkordischer Homophonie und vielschichtigem Kontrapunkt. Zusätzlich zur Tessitur spiegelt sich Mahlers Vorstellung und Verwendung der menschlichen Stimme auch strukturell. Zoltan Roman erörtert, wie Chorteile in Mahlers Sinfonien instrumental eingesetzt werden:
Diese Teile und Passagen sind durch eine allgemeine Kantigkeit gekennzeichnet, eingeschlossen unaufgelöste Oktavsprünge und nachfolgende Sprünge: von parallelen Intervallen und Akkorden, und von einer Vielzahl von Funktionen, die mit traditionellen „Füllrollen“ bestimmter Orchesterinstrumente identisch sind.39
Es ist deutlich, dass Beethovens Verwendung der menschlichen Stimme in seiner Neunten Sinfonie und seine Behandlung der Vokalsolisten als Instrument Mahlers eigene strukturelle Vorgehensweise stark beeinflusste.40 Abgesehen vom extremen Stimmumfang ist Mahler strukturell kein Erneuerer. Er arbeitet noch in den traditionellen Bereichen struktureller Chorverwendung. In der Zweiten Sinfonie agiert das Orchester als homophone Begleitung in dem Satz mit Chor. In der Dritten Sinfonie besteht ein Gleichgewicht zwischen den vokalunterstützenden und den eigenständigen, polyphonen Orchesterteilen. Und schließlich wechselt in der Achten Sinfonie die vokalunterstützende und die kontrapunktische Schreibweise, ohne klare Trennung.41
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass trotz der wegen der Sprünge und großen Schritte in vielen Passagen nicht eigentümlich vokalen Schreibweise die Struktur doch meist homophon ist, und wenn man Polyphonie im Vokalsatz findet, dann wird sie als dramatischer Baustein verwendet. Zoltan Roman zum Beispiel erklärt diesen dramatischen Gebrauch vokaler Mehrstimmigkeit in seinem Argument, dass „die imitativen Einstiege des fünfstimmigen Chors in der Zweiten Sinfonie, die sich im Verlaufe von zwanzig Takten vom pppbis zu ffsteigern, eine Wucht erreichen, die die folgende Choralcoda mit atemberaubender Majestät und Macht durchtränken.“42 Also scheint für Mahler Homophonie die grundlegende Struktur im Tonfall des Chores zu sein, abgesehen von der dramatischen Dynamik, die von seiner Verwendung der Mehrstimmigkeit ausgeht.
Die Vormacht der akkordischen Homophonie wird motiviert durch Mahlers Forderung nach Sprachverständlichkeit. Sprache meint hier Dichtung, die Mahler so nah ist wie Musik.43 Nichts übertrifft seine eigenen Worte, mit denen er sein Bemühen ausdrückt, den Text so klar wie möglich zu vermitteln: „Meine beiden Sinfonien [die Zweite und die Dritte] enthalten die inneren Gesichtspunkte meines ganzen Lebens, Wahrhaftigkeit und Dichtung in der Musik,“44 und „in meiner Sinfonie [der Achten] ist die menschliche Stimme, letzten Endes, Trägerin der ganzen dichterischen Idee.“45 Wenn man das bedenkt, mag es angemessen sein, zwei besondere sprachliche Verfahren in Bezug auf Klarheit zu erwähnen, auf die Zoltan Roman hinweist: zunächst die Chorpassagen, im Einklang oder in Oktaven, die den Text vermitteln und die inhaltliche Vielgestaltigkeit steigern, und dann die antiphonalen Passagen, die dem Wechselspiel zwischen vollen und Teilchören dienen.46 Homophonie ist also die natürliche Sprachverarbeitung Mahlers, wenn es darum geht, den Text in Sinfonien hervorzuheben.
Ein Teil der konservativen Behandlung des Chors spiegelt das Gleichgewicht zwischen Chor und Orchester, ebenso zwischen den Stimmen. Man beachte Mahlers Anweisungen im Finale der Zweiten Sinfonie, in der die Bässe ein B unterhalb des Systems haben. Zoltan Roman betont in diesem besonderen Zusammenhang, dass Mahler statt der Machbarkeit in den Bassstimmen ein genau berechnetes Anliegen mit dem Gleichgewicht hat, „maßgeblich für den ersten Einsatz des ‘Wiederauferstehungs‘-Chorals:“
Die Bässe dürfen keine Oktave höher singen, weil sich sonst die vom Komponisten gedachte Wirkung nicht einstellt; es ist nicht absolut wichtig, dass diese tiefen Noten auch gehört werden, dagegen zielt diese Art der Notation darauf, die tiefen Bässe sozusagen davon abzuhalten, das höhere B zu nehmen und damit die höhere Note zu verstärken.47
Außerdem gibt es wenige Verdoppelungen zwischen Chor und Orchester im genauen technischen Sinn. Tatsächlich ist das Gefüge des Orchesters mit Ausnahme der kulminierenden Passagen durchsichtig und dünn.48 Insgesamt könnte man angemessen feststellen, dass die Balance zwischen Chor- und Instrumentalstärken in allen Chorsätzen seiner Sinfonien gewahrt ist.
- Fazit
Eine Untersuchung des Vokalbereichs von Mahlers Musik, vor allem in Chorsätzen, verdient aus verschiedenen Gründen ernsthaftes Interesse. Erstens spielt, statistisch gesehen, die Singstimme in fast allen Kompositionen von Mahler eine Rolle. Zweitens hatte Mahler als Dirigent im Opernbereich die Möglichkeit, Kenntnisse über die Stimme zu erlangen – und er brauchte sie auch. Drittens ist jedem, der seine Lieder kennt, Mahlers seelische Zuneigung und Vertrautheit mit der Stimme klar. Und, als letzter Punkt: Mahlers Interesse an der menschlichen Stimme beschränkt sich nicht auf eine einzelne „Periode“, sondern zieht sich im Gegenteil durch seine gesamte schöpferische Zeit als Komponist. Trotz dieser Gründe wartet das chorische Werk von Mahler immer noch auf wissenschaftliche Aufmerksamkeit – bisher gibt es nur geringfügige Arbeiten zu diesem doch ziemlich großen Anteil an den Werken dieses Komponisten. Zoltan Roman deutet darauf hin, dass dies mit der Tatsache zu tun haben mag, dass Mahler kein Werk geschrieben hat, das als eigenständige Komposition in dieser Gattung angesehen wird.49 Stattdessen erscheint der Chor nur in größer angelegten Ausarbeitungen wie einem Liederzyklus, einer Kantate oder einer Sinfonie. Wie auch immer: Mahlers Chormusik wartet noch immer auf wissenschaftliche Bearbeitung, und ich hoffe, dass das Material meiner Recherchen in Zukunft zu weiterer wissenschaftlicher Beschäftigung anspornt.
- Referenzen
- Abbate, Elizabeth Teoli: Myth, Symbol, and Meaning in Mahler’s Early Symphonies. Ph.D. dissertation, Harvard University, 1996
- Alexander, Metcher F: Representative Nineteenth Century Choral Symphonies. M.M.-thesis, North Texas State University, 1971
- Bauer-Lechner, Natalie: Recollections of Gustav Mahler, hrsg. Dika Newling, Übers. Peter Franklin; Cambridge: Cambridge University Press, 1980 [deutsch: Erinnerungen an Gustav Mahler. Wien-Leipzig: E. P. Tal & Co., 1923. Revidierte und erweiterte Ausgabe: Herbert Killian (Hrsg.), Knud Martner (Anmerkungen): Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner.Hamburg: Wagner, 1984]
- Blaukopf, Herta (Hrsg,): Gustav Mahler – Richard Strauss Correspondence 1888-1911, transl. Edmund Jephcott. London: Faber and Faber, 1984 [dt: Blaukopf, Herta(Hrsg.): Gustav Mahler. Richard Strauss. Briefwechsel 1888-1911. Herausgegeben und mit einem musikhistorischen Essay versehen von Herta Blaukopf. München: R Piper & Co, 1980]
- Blaukopf, Kurt, und Herta Blaukopf: Mahler: His Life, Work, and World. London: Thames and Hudson, 2nded. 1991 [dt. Herta Blaukopf und Kurt Blaukopf (Hrsg.): Gustav Mahler. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit. Gesammelt und herausgegeben von Herta Blaukopf und Kurt Blaukopf. Mit Beiträgen von Zoltan Roman. Stuttgart: Hatje, 1994 – überarbeitete und erweiterte Fassung]
- Franklin, Peter: Mahler, Gustav.In: The New Grove of Music and Musicians. 2nd ed. 2001, Bd. XV, Sp. 602-631
- Franklin, Peter: Mahler: Symphony No. 3.New York: Cambridge University Press, 1991 (Cambridge Music Handbooks, Hrsg. Julian Rushton)
- Floros, Constantin: Gustav Mahler: The Symphonies. Portland: Amadeus Press, 1997
- Holbrook, David: Gustav Mahler and the Courage to Be. London: Vision Press, 1975 (Studies in the Psychology of Culture, unnummerierter Band)
- Johnson, Steven Philip: Thematic and Tonal Processes in Mahler’s Third Symphony. Ph.D. dissertation, University of California, Los Angeles, 1989
- La Grange, Henry-Louis de: Mahler, vol. 1. Garden City, NY: Doubleday, 1973
- La Grange, Henry-Louis de: Mahler, Vienna: Triumph and Disillusionment (1904-1907), vol. 3. Oxford: Oxford University Press, 1995
- Lea, Henry A.: Gustav Mahler: Man on the Margin. Bonn: Bouvier, 1985 (Modern German Studies Bd. 15)
- Mahler, Alma: Gustav Mahler: Memories and Letters, Hrsg. Donald Mitchell, Übers. Basil Creighton. London: Cox & Wyman, 1973 [dt. Alma Mahler: Gustav Mahler – Erinnerungen. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1991]
- Mahler, Gustav: Mahler’s Unknown Letters. Hrsg. Herta Blaukopf, Übers. Richard Stokes. London: Victor Gollancz, 1986 [dt.Gustav Mahler – Briefe. Hrsg. Herta Blaukopf. Wien, Hamburg : Zsolnay, 1982; sowie als Taschenbuch bei Reclam]
- Mitchell, Donald: Gustav Mahler: Songs and Symphonies of Life and Death. Vol. III. Berkeley: University of California Press, 1985
- Roman, Zoltan: The Chorus in Mahler’s Music. In: The Music Review XLIII/1 (February 1982), 31-43
Anmerkungen
- Zoltan Roman, The Chorus in Mahler’s Music. The Music ReviewXLIII/1 (Februar 1982), S. 32
- Jack Diether, in Mahler Juvenilia, Chord and Discord III/1 (1969), S. 68, interpretiert die letzte Zeile in Mahlers Skizze/Gedicht wie folgt: „Wenn ich keinen Sinn in meinem Leben erkennen kann, bin ich zerstört, bin ich nur mit meiner Nichtigkeit konfrontiert.“
- In seinen Programmnotizen zur Zweiten Sinfonie äußert Mahler deutlich seine Sorgen über Leben und Tod, in diesem Fall eine ziemlich optimistische Schau, da sie in der Auferstehung endet. Donald Mitchell Gustav Mahler: Die Wunderhorn-Jahre,Bd. 2 S. 183 (University of California Press, 1995)
- Constantin Floros, Gustav Mahler: The Symphonies(Portland: Amadeus Press, 1997), S. 54
- David Holbrook, Gustav Mahler and the Courage to Be(London: Vision Press, 1975), S. 12
- Arthur Schopenhauer The World as Will and Idea(London: Routledge and Kegan, 1957) [dt. Die Welt als Wille und Vorstellung]
- Friedrich Nietzsche: The Birth of Tragedy and the Case of Wagner(New York: Vintage Books, 1967) [dt. Die Geburt der Tragödie / Der Fall Wagner]
- David Holbrook, The Courage to Be, S. 8 (enthält Informationen über Wagners Studie)
- Steven Philip Johnson, Thematic and Tonal Process in Mahler’s Third Symphony(Ph.D. dissertation, University of California, Los Angeles, 1989), S. 9
- Constantin Floros, The Symphonies, S. 226
- Alma Mahler, Gustav Mahler: Memories and Letters(London: Cox & Wyman, 1973), S. 103
- Peter Franklin, Mahler, Gustav. In: The New Grove, 2nd ed., New York: Macmillan, 2001, Bd. 15, Sp. 615
- Alma Mahler, Memories and Letters, S. 101
- Peter Franklin, Mahler: Symphony No. 3(New York: Cambridge University Press, 1991), S. 37
- Henry A. Lea, Gustav Mahler: Man on the Margin(Bonn: Bouvier, 1985), S. 49
- S. 96
- S. 100
- Constantin Floros, The Symphonies, S. 104
- Elizabeth Abbate, Myth, Symbol, and Meaning in Mahler’s Early Symphonies(Ph.D. dissertation, Harvard University, 1996), S. 189
- S. 191
- Speziell die Edda, ein nordischer Mythos, der einen Bericht über das Weltende enthält. Heimdall, der aus der Vereinigung von Odin mit gleichzeitig neun Riesenschwestern entstand, wird als Hüter der Brücke Bifröst (des Regenbogens) ernannt, der Erde und Himmel miteinander verbindet. Er besaß ein Horn, um alle Kreaturen zum Kampf gegen seine Feinde aufzurufen, und der letzte Klang des ‚schallenden Horns‘ kündigt die Ankunft des finalen Kampfes an. Einige dieser Elemente werden in Mahlers Musik erkannt (s. auch Abbate, Myth, Symbol, and Meaning, S. 90-91).
- Elizabeth Abbate, Myth, Symbol, and Meaning, 72. Andere Forscher teilen diese Anschauung, dagegen lehnt Floros sie ab und übernimmt stattdessen Schopenhauers Vorstellung von Willen. Für Abbate stellen sich Mahlers musikalische Ziele und der intellektuelle Inhalt der Dritten Sinfonie Nietzsches zynischer Weltsicht entgegen.
- Eine genaue Analyse des Textes bei Donald Mitchell, Gustav Mahler:Songs and Symphonies of Life and Death, Bd. 3 (Berkeley: University of California Press, 1985).
- Die Autoren, die diese Meinung vertreten, sind jeweils: Donald Mitchell und Henry A. Lea; Herta Blaukopf und Natalia Bauer-Lechner; sowie Constantin Floros und Elizabeth Abbate.
- Donald Mitchell, Symphonies of Life and Death, S. 519
- Zoltan Roman, The Chorus in Mahler’s Music, S. 39
- S. 39
- Constantin Floros, The Symphonies, S. 68
- S. 223
- S. 77
- Der Text für diesen Abschnitt ist Armer Kinder Bettlerlied. Er bezieht sich auf den „süßen“ Gesang der Engel und die „göttliche Freude, die kein Ende hat“, die Geschichte der Schuld von Petrus und seine Absolution durch Jesus (siehe ibid. S. 104).
- S. 104
- S. 226
- Metcher Alexander, Representative Nineteenth Century Choral Symphonies(M.M.-Arbeit, North Texas State University, 1971), S. 176
- S. 148
- S. 189
- Eine Ausnahme ist die herkömmliche Tessitur für die Knaben; Alexander betont, dass sie wegen ihres besonderen Klangs innerhalb des musikalischen Satzes immer auffällig ist (vgl. ibid. S. 189).
- Die ganze Information findet man im Detail in Romans Artikel, zusammen mit Tabellen vergleichender Statistiken der Vokalteilnahme und der Vokalumfänge in allen Chor-Sinfonien und dem Klagenden Lied.
- Zoltan Roman, The Chorus in Mahler’s Music, S. 39
- Die unbequeme Tessitur im Tenor und Alt behindert die Tonqualität und Balance des Vokalquartetts gegenüber dem massiven Orchesterklang im Höhepunkt von Beethovens Neunter Sinfonie. Ihre Rolle ist, die Harmonie zu füllen, ein Zug, den Mahler später in seinen Sinfonien verwendet.
- Zoltan Roman, The Chorus in Mahler’s Music, S. 40
- S. 41
- Herta Blaukopf und Kurt Blaukopf führen in Mahler: His Life, Work, and World(London: Thames and Hudson, 1991) aus, dass Mahler sowohl das Talent für Musik wie für Literatur hatte.
- Natalie Bauer-Lechner, Recollections of Gustav Mahler, hrsg. von Dika Newlin, übers. von Peter Franklin (Cambridge: Cambridge University Press, 1980), S. 75
- Donald Mitchell, Symphonies of Life and Death, S. 519
- S. 41
- S. 38
- Zoltan Roman, The Chorus in Mahler’s Music, S. 42
- S. 31
Adamilson Guimarães de Abreu erwarb seinen Master in Chorleitung (2004) und Bachelorabschlüsse in Allgemeinen Wissenschaften (2002) und Musikerziehung (2015) an der University of Missouri – Columbia, EUA. Als Berufssänger hatte Abreu einen Zweijahresvertrag am Teatro Municipal de São Paulo (1991-1992). Zu seinen Auszeichnungen gehören ein dritter Platz beim 1°Concurso Nacional de Canto “Cidade de Araçatuba” (1996) und als Chorleiter das Erreichen des Finales des1° Concurso Nacional de Coros FUNARTE (1997), wobei sein Chor zu den sechs besten Chören des Landes gehörten. Adamilson Abreu forscht auf den Gebieten des Dirigierens und der Musikerziehung, insbesondere über den Einsatz des Chorsingens und der Chorleitung als pädagogische Werkzeuge beim Unterrichten von Musik. In der letzten Zeit war er Juror bei Gesangswettbewerben wie dem SESI´s II Festival da Canção inBrasilia, Brasilien, und als Chormeister engagiert für die Opern Romeo und Juliavon Gounod und La Traviata von Verdi beim III. und IV. Festival Internacional de Ópera da Amazônia.Derzeit ist Adamilson Abreu Fakultätsmitglied inVollzeit an der Universidade Federal do Paráin Belém – Brasilien. Email: abreu_2004@yahoo.com
Übersetzt aus dem Amerikanischen: Klaus L Neumann (Deutschland)