Das Beste draus machen
Interview mit Tim Sharp and Gent Lazri
2020 war ein seltsames Jahr für das Musikleben. Dennoch entstanden Events, fanden Konzerte statt und CDs wurden vor oder während des Lockdowns aufgenommen. Im Jahr 2021 entstehen gerade ganz neue Formate, die von dieser herausfordernden Situation, in der sich alles ändert, inspiriert und angestoßen wurden. Wir haben zwei Organisatoren solcher Projekte getroffen: den Leiter des Pop-up Messiah Chors, Tim Sharp (USA), und den Gründer von CHORALSPACE, Gent Lazri (Deutschland), und mit ihnen darüber gesprochen, wie man in unsicheren Pandemiezeiten etwas Neues erschaffen kann.
Lieber Herr Sharp, lieber Herr Lazri, Ihre Projekte sollen 2021 beginnen – nach einem sehr schweren Jahr für die gesamte Musikwelt. Was gab Ihnen die Kraft, in diesen stillen und sorgenvollen Monaten solche Projekte zu entwickeln?
TS: Die Kraft für dieses Projekt zog ich aus der Zusammenarbeit mit anderen Chorleiter*innen, die nicht aufgaben und in dieser fürchterlichen Zeit ihre musikalischen Ziele weiter verfolgten. Sie wollten ein Teil dieser Initiative sein und ermutigten mich, weiter Pläne zu schmieden und mir Gedanken zu machen, wie wir mit unseren Sänger*innen unvergessliche Momente erschaffen könnten.
GL: Irgendwann während des vergangenen Jahres kam der Moment, in dem uns allen klar wurde, dass diese Krise nicht einfach plötzlich zu Ende sein würde. Der Weg aus dieser Pandemie ist ein Wandlungsprozess, dessen Ergebnis eine neue Art der Chorlandschaft sein wird. Das bietet viele Chancen, fordert aber auch viele neuartige Fähigkeiten. Das ist eine einzigartige Chance für die Chorsänger*innen, dieses “neue Normal” nicht einfach nur zu akzeptieren, sondern eine neue Chorcommunity zu bilden.
Herr Lazri, Sie bringen gerade das Projekt CHORALSPACE auf den Weg. Es findet sowohl in Berlin (Deutschland) statt als auch Online. Herr Sharp, Sie bieten demnächst ein besonderes Mitsingprojekt in Georgia, Tennessee und Oklahoma (USA) an. Bitte beschreiben Sie kurz diese Projekte.
GL: Die CHORALSPACE-Academy ist als Online-Universität gedacht. Im Angebot sind 38 Workshops mit führenden Dozierenden aus der ganzen Welt. Außerdem sind acht kreative Sitzungen mit Teilnehmenden und Mentor*innen geplant. Es wird ein umfassendes akademisches Programm für Teilnehmende jeden Alters. In den Kursen sollen sie dazu ermutigt werden, neue Projekte kennenzulernen und selbst zu schaffen. Der Ansatz ist demnach sehr praktisch.
TS: Die Veranstaltung ist ein “Pop-up Messiah Choir”, bei dem die Leute in ihren Autos singen oder bei ihrem Auto auf einem Parkplatz stehen und zu einer UKW-Radioübertragung den Soundtrack und die Probenanweisungen für Händels Messias hören und singen, alles rund um einen restaurierten World Traveler Airstream-Anhänger aus dem Jahr 1958.
Im Jahr 2021 ein Projekt aus der Taufe zu heben – nach einem sehr schwierigen Jahr, in dem die gesamte Musikwelt mit finanziellen Problemen kämpfen musste – wie konnten Sie da, trotz COVID-Krise, finanzielle Unterstützung finden? Welche Organisationen stehen hinter Ihren Projekten?
TS: Ich bin der Initiator und Leiter dieser Veranstaltungsreihe. Ich werde die Bemühungen persönlich mit meinen eigenen finanziellen Ressourcen ankurbeln, aber ich werde auf meine institutionellen Unterstützer an der Trevecca University und dem Center for Community Arts Innovation und dem Tulsa -Chor für Marketing- und Kommunikationsunterstützung zurückgreifen. Darüber hinaus werden die unterstützenden Chöre “in natura” helfen – mit Unterstützung bei Marketing und Kommunikation und anderer unentgeltlicher Hilfe. Die sponsernden Organisationen sind das Center for Community Arts Innovation an der Trevecca University in Nashville, TN (USA) und der Tulsa -Chor (Tulsa, Oklahoma). Das Projekt wird immer vier kooperierende Chöre einbeziehen, die den Pop-up Messiah Choir ausrichten, den Parkplatz für die Veranstaltung zur Verfügung stellen und bei der Werbung helfen.
GL: Wir haben keinerlei finanzielle Unterstützung für die Academy – bis jetzt. Dafür ist unsere Fakultät sehr motiviert und hat zugesagt, dass die Kurse zu einer sehr fairen Gebühr angeboten werden können. Die Non-Profit-Organisation CHORALSPACE 2021 gGmbH wird die Organisation übernehmen und schafft die Struktur für die Kurse. Das Projekt ist als Non-Profit-Projekt konzipiert und die Kosten für die Online-Universität werden unter den Teilnehmenden aufgeteilt. Dieses Crowdfunding und die finanzielle Beteiligung der Teilnehmenden sind essenziell für den Erfolg der CHORALSPACE Academy.
Was genau ist neu an Ihren Projekten?
GL: Die Academy-Sessions sind Orte des Lernens, Kreativseins und Auftretens. Die Phasen des chorischen Prozesses werden dabei eng miteinander verwoben sein. Zusätzlich zu den 38 Workshops wird es 8 kreative Sitzungen geben, in denen die Teilnehmenden ihre eigenen Projekte entwickeln und präsentieren können. Wir werden diesen Prozess als Mentor*innen begleiten und den Teilnehmenden helfen, ihre Ideen zu verwirklichen. Die CHORALSPACE-Aufführungsprojekte stehen den Teilnehmenden der Akademie offen, um ihre Ideen auf die Bühne zu bringen und mit internationalen Ensembles zusammenzuarbeiten. Dies ist der innovative Ansatz der CHORALSPACE Academy.
Das “Neue” an diesem Erlebnis ist die Verwendung einer älteren Technologie, der UKW-Übertragung, um Chormusik einzustudieren und zu begleiten, die Verwendung eines Retro-Airstream-Anhängers, um eine Menge von Sänger*innen zu versammeln und anzuziehen, und die Verwendung eines Chorklassikers, Händels Messias, um ihn als Singalong für eine Vielzahl von ausgebildeten und ungeübten Sänger*innen zu verwenden.
Als Standorte für die ersten Veranstaltungen wurden Atlanta (Georgia), Nashville (Tennessee), und Tulsa (Oklahoma), festgelegt und Kooperationspartner*innen kontaktiert. Die UKW-Übertragung wurde getestet, und der restaurierte World Traveler Airstream von 1958 wurde als Hingucker und Markenzeichen der Veranstaltung “Pop-up Messiah Choir” ausgestattet. Die Noten stehen den Sänger*innen als QR-Download zur Verfügung, einmal in einer Version für versierte Sänger*innen und einmal für Anfänger*innen, die keine Noten lesen können.
Weshalb mussten genau diese Projekte ins Leben gerufen werden?
TS: Das ureigenste Anliegen ist es, dass das Singen im Chor mehr Beachtung findet durch diese Initiative. Das wird besonders wichtig, wenn wir nach der Pandemie wieder beginnen, neue Sänger*innen für unsere Chöre zu suchen. Händels Messias wurde dazu ausgewählt, weil dieses Werk schon oft für die Zusammenarbeit großer Sänger*innengruppen genutzt wurde und weil es eine universelle Botschaft von Frieden und Versöhnung transportiert. Auch populäre Songs werden zum Aufwärmen zum Einsatz kommen, um auf das Singen des Messias vorzubereiten. Alle eingehenden Spenden sollen den teilnehmenden Chören zugutekommen, die das pop-up-Gemeinschaftssingen unterstützen.
GL: Die Chorlandschaft ist im Wandel, und das nicht nur wegen der Covid-19-Pandemie. Künstlerische Innovation, Sichtbarkeit für das Publikum und der Inklusionsgedanke sind Themen, die dringend einen internationalen Raum brauchen, um konzipiert und umgesetzt werden zu können. Wir müssen professionellen Chorsänger*innen und Amateur*innen Weiterbildung anbieten und sie motivieren, die Initiative zu ergreifen, um das Interesse am Chorsingen und unsere diesbezüglichen Projekte zu vergrößern. Chormusik spielt eine besonders wichtige Rolle in unseren Gemeinden. Viele Menschen haben das erst begriffen, als das Chorsingen verschwunden war. Wenn wir wiederkommen, müssen wir uns über unsere Stellung und die Sichtbarkeit unserer Rolle Gedanken machen. Es reicht nicht, einfach darauf zu warten, dass man Anerkennung findet. Absolvent*innen der CHORALSPACE Academy sollen in diesem Prozess eine aktive Rolle spielen – unsere Aufgabe ist es, ihnen das nötige Handwerkszeug für diese Aufgabe an die Hand zu geben.
Welche Zielgruppe haben Sie für Ihr Projekt?
GL: Unser Projekt richtet sich an alle, die etwas mit Chorgesang zu tun haben. Die wichtigste Zielgruppe sind sicherlich Chorleiter*innen und Musikvermittler*innen. Aber wir möchten auch Sänger*innen, Komponist*innen und Chormanager*innen ansprechen. In jedem Chor gibt es einen harten Kern motivierter Mitglieder, die in das Ensemble viel Zeit investieren. Diesen Menschen möchten wir das Handwerkszeug zur Verfügung stellen, das sie brauchen, um gute Projekte zu konzipieren. Zusätzlich möchten wir sie in ein internationales Chornetzwerk einbinden. Alter spielt bei diesen Überlegungen hinsichtlich der Zielgruppe keine Rolle. Lernen ist in jedem Alter eine wichtige Aufgabe.
TS: Das Ziel ist es sowohl, unterschiedliche Gruppen zusammenzubringen, die bisher noch nicht zusammengearbeitet haben um den Chorgesang zu unterstützen, als auch Menschen, die Lust haben, in einem neuen und innovativen Setting zusammen zu singen. Wir wünschen uns, Menschen mit Chören in Kontakt zu bringen, denen sie sich später anschließen können. Außerdem ist das Projekt eine Gelegenheit für Menschen, die gerne den Messias singen möchten – und dies möchten wir in einem informellen und entspannten Setting möglich machen.
Haben Sie das Projekt schon vor der Pandemie konzipiert?
TS: Die Idee des pop-up Chors war da – und die Notwendigkeit, dem Chorgesang in einer neuen und niedrigschwelligen Form eine Plattform zu geben, aber erst die Pandemie hat das Projekt ins Rollen gebracht. Dann hatte ich die Idee, all das mit einem neugestalteten Airstream-Wohnwagen zu verbinden, was aktuell sehr “in” ist. Er soll viele Menschen anziehen und die Aufmerksamkeit der Medien für den Event auf sich ziehen.
GL: Die Notwendigkeit einer internationalen Online-Universität für Chormusik bestand schon lange Zeit. Die technischen Möglichkeiten und Ideen wurden während des ersten Lockdowns, im Frühling 2020 deutlich.
Welche organisatorischen Herausforderungen für Ihre Projekte brachte die Pandemie mit sich?
GL: Die Pandemie war ein Beschleuniger der CHORALSPACE Academy. Die Notwendigkeit einer Erneuerung wurde nun in der Chorszene erkannt. Gleichzeitig vermissen wir alle die Bühnen und Probensäle, die eine zentrale Funktion im Kosmos der Chormusik haben. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, eine Fortbildung zu entwickeln, die ohne diese Komfortzone auskommt.
TS: Die Pandemie hat keine Herausforderungen mit sich gebracht. Sie hat vielmehr bewirkt, dass die Idee umgesetzt wurde – durch die Notwendigkeit, in einem sicheren Umfeld zu singen und im Freien. Nach der Pandemie soll diese Idee fortgeführt werden – als Möglichkeit, das Chorsingen interessanter zu machen, um neue Sänger*innen in bereits existierende Ensembles einzubinden und um darauf aufmerksam machen, wie schön Chorgesang ist.
Warum sollten IFCM-Mitglieder an Ihrem Projekt teilnehmen?
GL: IFCM-Mitglieder sind international gut vernetzt und sehr an innovativen Projekten in der ganzen Welt interessiert. Die CHORALSPACE-Academy bietet ihnen eine Plattform, auf der sie lernen, ihre Ideen verwirklichen und ihre Projekte aufführen können.
TS: IFCM-Mitglieder können an diesem Projekt als einem Akt der Lobbyarbeit für den Chorgesang teilnehmen, aber auch einfach deshalb, weil sie gerne singen. Unser World Symposium for Choral Music haben wir immer mit einem Gemeinschaftssingen begonnen, und dieses Projekt folgt dieser Tradition – wenn wir zusammenkommen, erleben wir zusammen die Freude am Singen eines bekannten Musikstücks.
Informationen
- Titel der Veranstaltung: POP-UP-MESSIAH-CHOR (mit Tim Sharp)
Zeit: Frühjahr 2021
Ort: Atlanta (Georgia); Nashville (Tennessee), Tulsa (Oklahoma) (USA)
Website: TheTimSharp.com - Titel der Veranstaltung: CHORALSPACE Academy 2021/22
Zeit: 7. September 2021-28. Juni 2022, 38 wöchentliche Workshops, jeden Dienstag um 19:00 (MEZ); drei Wochen Weihnachtspause (Dezember/Januar), zwei Wochen Osterferien (April)
Ort: von zu Hause aus oder von jedem Fernarbeits- oder -Studienplatz weltweit
Website: choralspace.org
Übersetzt aus dem Englischen von Justine Gehring-Plaum