Eine Tausend Jahre alte Tradition: die Chorkunst der Ukraine

Juri Tschekan, Dozent und Mitglied des nationalen Komponistenverbandes der Ukraine

 

Berufschöre gibt es in der Ukraine seit über tausend Jahren.  Diese Kunst reicht zurück bis ans Ende des zehnten Jahrhunderts, der Zeit, als der Großfürst von Kiew, Wladimir der Große, die Taufe aller Bewohner der Ukraine anordnete (988).  Sie hat viele hervorragende Leistungen vollbracht: die asketische Einstimmigkeit des Mittelalters; eine prachtvolle barocke Mehrchörigkeit; einmalige klassische Chor-Konzerte; elegante romantische Miniaturen; Volksliedbearbeitungen; Kantaten, Oratorien und Opern; und moderne, zeitgenössische Kompositionen.  Diese Leistungen zieren zu Recht die wichtigsten Kapitel der Musikgeschichte der Welt. 

Die Chormusik besitzt eine besondere Bedeutung für die nationale Kultur der Ukraine.  Die Charakteristika eines nationalen Musikstils wurden in ihrer Chormusik entwickelt.  Die Chormusik verkörpert das wahre Fundament der nationalen ukrainischen Mentalität, und die Seele ihrer Menschen.

Die Chormusik der Ukraine und ihre hervorragenden Leistungen sind jedoch vielen in der Welt unbekannt.  Das liegt daran, dass die Ukraine jahrhundertelang keinen eigenen Staat hatte.  Sie stand im Schatten anderer Staaten und Weltreiche.  Ihre Künstler wirkten oft in den Territorien fremder Kulturen, und ihre Leistungen wurden – da es keinen ukrainischen Staat gab – anderen Ländern angerechnet.  Vom Mittelalter bis in unsere Tage gehörten die Territorien der Ukraine (die Region Kiew, Tschernihiw-Siwerschtschina, Wolhynien, Podillia, Halitschina, Slobodiwtschina, die Bukowina, Transkarpathien, Noworosia und die Krim) zeitweise zum Großherzogtum Litauen, manchmal zur polnisch-litauischen Union, oder zur österreichischen Monarchie, zu Transsilvanien, zu Moldawien, zu Ungarn, zum Khantum der Krim, zu Polen, zu Rumänien, oder zu den ottomanischen, russischen, österreichisch-ungarischen oder sowjetischen Weltreichen.  Die Ukraine wurde erst 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ein wirklich unabhängiger Staat.  Erst dann trat die ukrainische Chorkultur endlich aus dem Schatten heraus, den die diversen Weltreiche über sie geworfen hatten, und sie stellte sich mit voller Stimme der Welt vor als eine originelle, einmalige und hochrangige Kultur, mit all ihren Errungenschaften, ihrer Unterschiedlichkeit von allen anderen Chorkulturen, und ihrer sehr eigenen Identität.

Wegen seiner Erfahrungen in verschiedenen historischen Zeitabschnitten mit den prägenden Einflüssen der byzantinischen und der westlichen Traditionen bestand das historische Schicksal der Menschen der Ukraine und ihrer Kultur, insbesondere der Chorkunst, darin, dass sie zum Mittler zuerst zwischen Byzanz und Westeuropa auf der einen Seite, und im Laufe der Zeit auch zwischen Europa und Russland wurden.  Trotz dieser Rolle als Vermittler zwischen Süd und Nord, und Ost und West, behielten ukrainische Kultur und Chorkunst über Jahrhunderte hinweg ihre unverkennbaren Charakteristika und ihre Originalität.  Wir wollen fünf Zeitabschnitte der ukrainischen Chormusik untersuchen, mit unserm Hauptaugenmerk auf ihrer künstlerischen Dimension.

 

Die Chorkultur des Ukrainischen Mittelalters, die Gründung einer Nationalen Tradition

Das Mittelalter dauerte in der ukrainischen Kultur über sechshundert Jahre, vom Ende des zehnten bis zum Anfang des siebzehnten Jahrhunderts.  In der kulturellen Fachsprache wird es als “theozentrisch” beschrieben.  In der Musik der ukrainischen Berufschöre spiegelt sich diese Periode im znamenni Gesang wieder.  Dieses Singen ist von den Idealen der “Theozentrik” geprägt und mit der christlichen Kirche verbunden.  Wir finden weder üppige Polyphonie noch farbenfrohe harmonische Fortschreitungen, keine atemberaubenden virtuosen Soli oder hohe Töne, die die Kraft und den Tonumfang der Sänger zur Schau stellen sollen.  Es gibt keine dynamischen Kontraste, um dramatische Effekte hervorzurufen.  Die Dynamik ist leise, verhalten und bescheiden.  Alles richtet sich auf das Herbe, nichts zielt auf das Schaffen von äußerlichen Eindrücken, sondern es geht darum, ein tiefes Verständnis dessen zu erreichen, worum es geht.  Das ist die kirchliche Monodie der Ukraine, eine nationale Tradition, die sich aus der dunkelsten Vergangenheit bis in unsere Tage erhalten hat.  Ihr Echo erklingt noch heute in der schwingenden Melodik der Klöster und in den überlieferten Gesängen in ukrainischen Kirchen.  Was ist Monodie?  Einstimmiges Singen, zumeist von Männerstimmen.  Die ältesten christlichen Kirchengesänge von Byzanz und Rom, z. B. die Gregorianik, sind monodische Kompositionen. 

Aus der Einführung des Christentums auf dem Gebiet der modernen Ukraine, dem “Kiew Rus”, ergab sich die notwendige Einführung angemessener Rituale, und ein unabdingbarer Teil dieses Rituals war die Chormusik.  Dadurch, dass sie das Christentum nach östlichem Ritus aus Byzanz akzeptierte, schloss sich die ukrainische Kultur der fortgeschrittensten und vollendetesten musikalischen Tradition des Zeitalters an: der byzantinischen Kirchenmusik mit ihren Ritualen, Chorälen, Texten und Musikformen, sowie ihrer systematischen Einordnung der melodischen Gesänge im Rahmen des Kirchenjahres, und mit ihrer eigenen Notationsmethode.  Auf die Annahme der byzantinischen Chorkultur in der Metropole von Kiew folgte jedoch deren wesentliche Umwandlung, aus zwei Gründen: zum einen als Konsequenz der Übersetzung griechischer Texte ins alte Kirchenslawisch, das in den Kirchen benutzt wurde, zum anderen als Konsequenz der Begegnung mit der Sprachmelodie[1] der Ukrainer. 

In einstimmigen Gesängen der christlichen Kirche ist das Wort von größter Bedeutung.  Das Wort steht mit dem heiligen Geist in Verbindung und atmet.  Es bestimmt die Länge der melodischen Phrasen, ihre Umrisse, ihre Aspirationen und ihren Tonumfang.  Dementsprechend musste die Übersetzung des Wortes aus dem Griechischen ins alte Kirchenslawisch zu Änderungen im Charakter der Sprachmelodie der byzantinischen Gesänge führen, wenn sie auf ukrainischen Boden verpflanzt wurden. 

Wir dürfen die musikalischen Erfahrungen der Ukrainer des Mittelalters nicht unterschätzen.  Einstimmige Gesänge, aus dem Byzantinischen entlehnt, wurden von einheimischen Sängern aufgeführt, die in der Melodieführung ihrer eigenen Volkslieder verwurzelt waren.  So erhielten griechische Texte, die ins alte Kirchenslawisch übersetzt worden waren, neue Charakteristika, wenn sie von ukrainischen Sängern aufgeführt wurden.  Sie wurden verhaltener, aber gleichzeitig lyrischer.  Sie verloren ihre östlichen Verzierungen und wurden zur Verkörperung eines tiefen, starken Glaubens.  Wesentliche Veränderungen der byzantinischen Quellen wurden darüber hinaus durch die besondere Art und Weise möglich gemacht, in der Schriftzeichen benutzt wurden, um anzuzeigen, wie die einstimmigen Gesänge vorgetragen wurden.  Das Festhalten der musikalischen Laute wurde durch besondere Zeichen – znamenni – erzielt (daher der Ausdruck znamennji-Gesang), einstimmiges Singen im Rahmen der Liturgie, in der eine Silbe über verschiedene, nacheinander erklingende Noten hinweg gesungen wird [Melisma – Anm.d.Übers.]. 

 

An example of Znamenny notation with so-called "red marks", Russia, 1884. "Thy Cross we honour, oh Lord, and Thy holy Resurrection we praise."
An example of Znamenny notation with so-called “red marks”, Russia, 1884. “Thy Cross we honour, oh Lord, and Thy holy Resurrection we praise.”

 

Die znamenny Notation, die in Kiew im Gebrauch war, ähnelte der alten byzantinischen Neumen-Notation, die vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert in Byzanz zur Aufzeichnung kirchlicher Einstimmigkeit benutzt wurde.  Neumen, und entsprechend die znamenny, waren besondere Zeichen, die als Gedächtnisstütze dienten.  Sie gaben nicht die absoluten Tonhöhen oder Rhythmen der Melodien an, sondern sie erinnerten die Sänger nur an Melodien, die sie aus der Praxis kannten und nach dem Gehör gelernt hatten, Melodien, die die Sänger schon mit der Muttermilch aufgenommen und dann seit ihrer Kindheit gesungen hatten, als Teilnehmer am Gottesdienst.  Bei dieser Übergabe einer mündlichen Tradition ohne schriftliche Niederlegung von Tonhöhen oder Rhythmen – selbst in einer Kunstform, die vom Kanon beeinflusst wurde – nahm die byzantinische Einstimmigkeit typisch ukrainische Züge an und wurde in ein unverkennbares, nationales künstlerisches Phänomen umgeformt: den znamennji Gesang des alten Kiew. 

Einer der einschlägigen Beweise dafür, dass der znammenji Gesang nationalen Charakter besitzt, ist der Bereich der Kirchengesänge der Ukraine des frühen Mittelalters.  Unter den etwa 50 Manuskripten aus dem elften bis dreizehnten Jahrhundert mit notenähnlichen Aufzeichnungen, die sich bis in unsere Zeit erhalten haben, finden sich, zusätzlich zum byzantinischen Kirchenrepertoire, Gesänge, die Heiligen aus Kiew gewidmet sind: den Fürsten Boris und Hlib, Prinz Wladimir und dem Vorsteher des Höhlenklosters von Kiew-Petschersk, Feodosii Petscherski.  So verbreitete sich der znamennji Gesang, aus dem Byzantinischen entlehnt und ukrainischen Bedürfnissen angepasst, über die ukrainischen Grenzen hinaus. 

Der znamennji Gesang des frühen Mittelalters ist bis heute nicht restlos entziffert worden.  Wir können uns seinen Klang nur vorstellen, wobei wir uns auf Beispiele des einstimmigen ukrainischen Kirchengesangs des späten Mittelalters (sechzehntes bis frühes siebzehntes Jahrhundert) verlassen, wie sie von Spezialisten für mittelalterliche Musik entziffert worden sind. 

Gegen Ende dieses Zeitabschnittes wurde die Notation der ukrainischen Kirchenmusik reformiert, eine Reform, die die Entzifferung der znamennji Gesänge ermöglichte.  Die znamenni Notation, die als Gedächtnisstütze für bestimmte Melodien benutzt worden war, wurde durch die viereckige Notation von Kiew ersetzt.  Diese Notation nahm westeuropäische Entwicklungen zur Kenntnis: die nota quadrata, das System, das fünf Notenlinien zum Angeben von Tonhöhen benutzt, und die mensurale Notation, bei der die Form der einzelnen Noten zur Angabe von deren Dauer dienten.  Diese Entwicklungen verschmolzen mit nationalen Erfahrungen.  Die Einführung der viereckigen Noten-Notation in Kiew wurde zu einem Wendepunkt im einstimmigen Gesang.  Jetzt gab jede Note eindeutig Höhe und  Dauer ihres Klanges an, so dass alle Sänger, die Noten lesen konnten, eine gegebene Melodie singen konnten.

Im sechzehnten bis siebzehnten Jahrhundert herrschte in der Ukraine kein Mangel an Sängern, die [Noten] lesen konnten.  In vielen von den Gemeinden unterhaltenen Grundschulen in großen und kleinen Städten, und in den meisten der wohlhabenden Dörfer gehörte die Kirchenmusik zum Lehrplan.  Darüber hinaus war die Musik ein besonderes Fach in allen Kirchenschulen und -hochschulen der Brüderschaften und in den Akademien von Ostrok und Kiew-Mohila.  (Brüderschaften waren Gemeinschaftsorganisationen auf Gegenseitigkeit, in denen verschiedene Bevölkerungsschichten der ukrainischen orthodoxen Stadtbevölkerung zusammen kamen, um ihre nationalen und sozialen Rechte zu schützen.)  Das hohe Niveau der musikalischen Ausbildung der ukrainischen Sänger dieses Zeitabschnittes wird vom syrischen Erzdiakon Paul von Aleppo bestätigt, der in seinem Reisebericht aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts schrieb: “In den Kosackenländern weiß man, wie Gottesdienst und Kirchenmusik zu organisieren sind”.

Ein klares Anzeichen der raschen Entwicklung der Einstimmigkeit des ausgehenden Mittelalters, und danach der Chorkunst der Ukraine, findet sich in regionalen Traditionen, die mit diversen Klöstern und Orten in Verbindung stehen.  In Manuskripten aus dieser Zeit werden melodische Varianten bestimmter Gesänge oft nach ihren regionalen Quellen benannt: aus Kiew, Petscherski, Mezhihirskji (in der Region Kiew), Ostrokskji, Wolinskji (Wolhynien), Lwiwskji, Pidkoretskji  (Halitschina) und anderswo.  Es gibt noch fast tausend Beispiele für Irmoloi Texte ukrainischen Ursprungs (Einführungsgesänge auf vorgeschriebene Texte, die während verschiedener Gottesdienste im Jahreslauf vorgetragen wurden).  Diese Beispiele beweisen das hohe Niveau, zu dem sich die ukrainische Chorkultur im Mittelalter entwickelt hatte.  Dieser Zeitabschnitt legte solide Grundlangen für die nationale ukrainische Chorkultur, die ihre wirkliche Blüte im Barock fand.  Im Unterschied zu Westeuropa ging die ukrainische Chorkultur direkt vom Stil des Mittelalters zum Barock über – die Renaissance wurde vollkommen übersprungen.

 

Die Ukrainische Chormusik des Barock wendet sich Europa zu

Der Zeitabschnitt des Barocks in der Musikgeschichte eröffnete eine Periode, die den Menschen in den Mittelpunkt stellte.  Der Mensch wurde zur zentralen Tatsache des Universums.  Verglichen mit dem Mittelalter änderte sich alles in der Chormusik der Ukraine.  Die mittelalterliche, sehr gefühlvolle Melodieführung, die auf dem Konzept “Text-Seele-Atem” beruhte, wich dem Affekt, den Leidenschaften und den Gemütsbewegungen.  Der verhaltene, asketische Klang wurde zu leuchtender Dynamik mit Gegensätzen in Klangfarbe und Struktur.  Der einstimmige Männergesang wurde durch prächtige Polyphonie ersetzt.  Acht, zwölf, sechzehn oder sogar vierundzwanzig Vokalstimmen waren in der Chormusik dieser Periode nichts Ungewöhnliches.  Das Singen richtete sich nun nicht mehr an Gott, dem Ziel der mittelalterlichen Einstimmigkeit, sondern an den Menschen, der von der Musik erregt, beeindruckt und gefangen genommen werden sollte.

Diese Charakterzüge der Barockmusik waren von besonders ausschlaggebender Bedeutung für die ukrainische Kultur des siebzehnten Jahrhunderts.  Die Kirchenfürsten der ukrainischen orthodoxen Christen sahen sich genötigt, die liturgischen Riten zu reformieren, um sie der zunehmenden Verweltlichung anzupassen, damit sie erfolgreich mit der Ausbreitung des Katholizismus konkurrieren konnten.  Die orthodoxe Tradition verbietet den Einsatz von Musikinstrumenten in Gottesdiensten.  Die katholische Tradition benutzt sie, um das Ritual zu unterstützen – die Orgel ist ein gutes Beispiel.  Die Einführung von Instrumenten in katholischen Gottesdiensten brachte Elemente des Weltlichen mit sich, und eine gewisse Konzertpraxis bildete sich.  Da ihnen der Gebrauch von Musikinstrumenten verwehrt war, wandten sich orthodoxe Geistliche in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts der Mehrchörigkeit zu.  Diese Neuerung, in der die Chöre in Gruppen unterteilt werden, die einzeln, abwechselnd oder gleichzeitig singen, wird dem Musikdirektor der Kathedrale von Padua, Ruffino Bartolucci, zugeschrieben.  Der Stil wurde in Venedig vervollkommnet: Andrea Gabrieli und sein berühmterer Neffe Giovanni und viele Komponisten der Zeit nutzten ihn aus: die Italiener Girolamo Giacobbi, Ludovico Viadana; die Deutschen Hans Leo Hassler, Michael Praetorius, Samuel Scheidt, Heinrich Schütz; und die Polen Marcin Mielzewski und Jacek Różycki.

Die neue Mehrchörigkeit wurde in der Ukraine als partesnji-Stil bekannt – “mehrstimmiges Singen”.  Zahllose Manuskripte in diesem Stil haben sich erhalten.  Sammlungen in Kiew enthalten zur Zeit über 600 mehrchörige partesnji-Kompositionen.  Der Katalog der Brüderschaft in Lwiw enthält 372 solcher Werke.  Und viele Kompositionen in diesem Stil finden sich in Musikbüchereien außerhalb der Ukraine. 

Die Noten zu mehrchörigen Kompositionen, z. B. Motetten und Chor-Konzerten, wurden in der viereckigen Kiewer Notation geschrieben.  Im Unterschied zur anonymen Einstimmigkeit des Mittelalters sind eine Reihe Autoren bekannt, auch wenn ein großer Teil anonym ist.  Zu den ukrainischen Komponisten dieses Stils gehören Mikola Diletski, Simeon Pekalitski, Iwan Domaratski, Hermann Lewitski, Hawalewitsch, Koliadtschina, Davidowitsch, Theodosius der Leuchtende und andere.

Der berühmteste ukrainische Komponist des Barockzeitalters war Mikola Diletski aus Kiew (ca. 1630- nach 1680).  Er erhielt eine ausgezeichnete Ausbildung an der Jesuitenakademie zu Wilna.  Unter seinen zahlreichen Werken finden wir eine vierstimmige und zwei achtstimmige Liturgien; vier- und achtstimmige mehrchörige Konzerte: Kommt, Menschen; Wir loben Dein Antlitz; Bekenne und Lobe; Er trat in die Kirche ein; das Abendmahlslied Der Körper Christi und das monumentale, vielstimmige mehrchörige Werk Auferstehungskanon.  Über die Tatsache hinaus, dass er ein vollendeter Komponist im mehrchörigen Stil war, in dem er sein phänomenales Talent und das europäische Niveau seiner musikalischen Ausbildung bewies, war Diletski ein bekannter Musiktheoretiker.  Er war der Verfasser des ersten Lehrbuchs der Musiktheorie in Osteuropa – Musikalische Grammatik – das in mehreren überarbeiteten Ausgaben und Sprachen existiert.  Viele Musikexperten betrachten es als das wertvollste theoretische Werk, das in Europa zwischen den Werken von Salinas (sechzehntes Jahrhundert) und Rameau (achtzehntes Jahrhundert) erschien.  Diletskis Musikalische Grammatik verband umfassende praktische Erfahrung mit dem neuen mehrchörigen partesnji– Stil, legte die Fundamente seiner Ästhetik, der Rhetorik, der musikalischen Komposition (insbesondere die Technik der Nachahmung in der Polyphonie) und bot Sängern wie Komponisten praktische Ratschläge.

Unser Wissen über andere ukrainische mehrchörige Komponisten ist ausgesprochen bruchstückhaft.  So ist beispielsweise sehr wenig über Simeon Pekalitski bekannt: sein geschätztes Geburtsjahr (1630); seine Studien in Kiew, Lwiw und entweder Ostrok oder Lutsk; Dienst im Chor des Erzbischofs Lazarus Baranowitsch in Tschernihiw; und Stellungen als Chorleiter in Lwiw und Moskau.  Seine Liturgie und das mehrchörige Konzert Dein gnädiger Geist sind gefunden worden.  In älteren Katalogen finden sich Hinweise auf andere Werke von ihm (Liturgie für acht Stimmen).  Bislang ist keinerlei biographische Material über andere erwähnenswerte ukrainische mehrchörige Komponisten wie Iwan Domaratski und Herman Lewitski gefunden worden.  Dennoch sind Partituren ihrer mehrchörigen Konzerte in den handschriftlichen Archiven der St. Sophien-Kathedrale in Kiew gefunden worden, die zur Zeit entziffert werden.

Das ukrainische barocke mehrchörige Konzert nimmt zu Recht einen wichtigen Platz nicht nur in der ukrainischen nationalen Musikkultur, sondern auch in der europäischen Musikgeschichte ein, wo es einen wesentlichen Schritt in Richtung der Schaffung einer neuen europäischen Musikkultur darstellt.  Die ukrainische Musikkultur spielte auch in der Entwicklung der russischen Musik eine grundlegende Rolle.  Der mehrchörige Stil gelangte durch ukrainische Musiker in die Gegend um Moskau, und im achtzehnten Jahrhundert brachten sie die westeuropäische Musik in Russlands Blickfeld.  Viele ukrainische Musiker – Sänger, Kirchenchorleiter, Komponisten im mehrchörigen Stil – schufen die Grundlagen für die Sänger in Hofkapellen.  Jedes Jahr schickte die Musikschule in Hlukiw (Tschernihiw) zehn ausgebildete Berufssänger nach St. Petersburg.  Das sollte uns nicht überraschen.  Der schon erwähnte syrische Erzdiakon Paul von Aleppo berichtete während seiner Reisen in der Ukraine: “Das Singen der Kosaken erfreut die Seele und heilt ihr Begehren, denn ihr Gesang ist angenehm.  Er kommt von Herzen.”

 

Die Ukrainische Chormusik der Klassik Eignet sich die Erfahrungen der Europäer an

Das letzte Drittel des achtzehnten bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erlebte, wie Kennzeichen der westlichen klassischen Musik in die ukrainische Chormusik eingeführt wurden.  Der prächtige vielstimmige Stil des barocken mehrchörigen Konzerts wich der strikten vierstimmigen Polyphonie des klassischen Chor-Konzertes.  Die Form der Suite mit ihren mosaik-ähnlichen Kennzeichen basierte nun auf dem Wechsel von soli und tutti, und Kompositionen erhielten eine drei- oder vierteilige Struktur.  Der barocke Stil der rhetorischen Floskeln und typischen emotionalen Effekte wich einer Komposition, die auf Motiven beruhte, und die feinere emotionale Gradunterschiede möglich machte.  Eine allgemeingültige musikalische thematische Struktur wurde durch glanzvolles Individualisieren ersetzt.  Die Kompositionstechnik für Chorwerke änderte sich ebenfalls.  Man griff nicht mehr auf etablierte Sammlungen von Stimmbüchern zurück, sondern es gab nun Partituren mit namentlich genannten Komponisten. 

Das Beste, das die europäische Musikkultur zu bieten hatte, galt weiterhin als Maßstab für die Ukraine.  Beispielsweise waren a cappella Psalmmotetten, wie sie in den Schulen von Venedig und Bologna (L. Leo, J. Hasse, N. Jommelli, A. Saccini, P. Guglielmi und T. Traetta) gepflegt wurden, hochgeachtet.  Die italienischen Techniken wurden beherrscht und mit der fließenden melodischen Linie ukrainischer Volkslieder kombiniert, und die Ergebnisse wurden strikt a cappella aufgeführt.  Trotz vieler weltlicher Einflüsse, die in dieser Zeit zum Tragen kamen, blieb die orthodoxe Kirche die Heimat der Chorkomposition in der Ukraine. 

Die hervorragendsten Komponisten des klassischen ukrainischen Chor-Konzertes sind Maxim Beresowski (1745-1777), Dimitri Bortnianski (1751-1825), Stepan Dechtiarewski (Degtiarew) (1766-1813) und Artemi Wedel (1767-1808).  Alle kamen auf ukrainischem Boden zur Welt und wurden als Berufsmusiker ausgebildet, teils in Italien, aber sie wirkten an Institutionen oder im Dienst von mächtigen Personen des kaiserlichen Russland, das über die Ukraine herrschte und danach strebte, ukrainische Musiker, führende Geistliche und Verwaltungsspezialisten in seine Dienste zu stellen (Hofkapelle in St. Petersburg, Kapelle des Moskauer Generalgouverneurs Piotr Jeropkin, Kapelle des Grafen Scheremetew und andere).

 

Dmytro Bortniansky (1751-1825)
Dmytro Bortniansky (1751-1825)

 

Die Form des ukrainischen Chor-Konzerts ist Beresowskis schöpferischer Kraft zu verdanken.  Er wurde 1745 in Hluchiw geboren, das damals die Hauptstadt des Hetmanats war, einem Kosakenstaat östlich des Dnjeprs.  Er erhielt eine solide Ausbildung, erst in der Musikschule von Hluchiw, die schon manchmal Sänger für Hofkapellchöre geschult hatte, und dann an der Kiew-Mohila Akademie.  Ab 1758 war Beresowski Hofsänger im italienischen Chor von Fürst Piotr Feodorowitsch (später Peter III.) und sang auch im Hofkapellchor unter der Leitung des bekannten ukrainischen Musikers Marko Poltoratski und des italienischen Komponisten Baldassare Galuppi.  Während dieser Periode bekamen die Musiker Musiktheorieunterricht beim Dirigenten des Theaters des Sommerpalastes, Francesco Zoppis, einem Vertreter der Schule von Venedig.  1769 wurde Beresowski nach Italien entsandt, wo er bei Padre Martini an der Philharmonischen Akademie zu Bologna studierte.  1771 machte er seinen Abschluss mit Auszeichnung, erhielt den höchstmöglichen akademischen Titel accademico compositore und wurde zum Mitglied der Akademie ernannt.  Unter Beresowskis Kompositionen finden wir zahlreiche kirchliche und weltliche Chorwerke.  Seine Oper Demofonte auf ein Libretto von Pietro Metastasio wurde 1773 erfolgreich in Livorno und Florenz aufgeführt.  Seine Sonate in c-Moll für Violine und Cembalo ist das erste Beispiel, das wir davon besitzen, dass ein ukrainischer Komponist sich der Instrumentalmusik zuwandte.

Beresowskis wertvollstes schöpferisches Erbe ist seine Chormusik.  Er verfasste achtzehn kirchliche Konzerte (dreizehn sind in Archiven gefunden worden, von anderen wissen wir aus Erwähnungen in verschiedenen historischen Quellen), zehn Abendmahlsgesänge und seine Liturgie.  Das berühmteste Chor-Konzert von Beresowski benutzt als Text Psalm 70 (LXX, 71MT) Verlass mich nicht im Alter, das nach 1774 geschrieben wurde.  Hier entwickelt der Komponist sein Werk in der Tradition von Baldassare Galuppi: typischer vierstimmiger Satz, die üblichen Tempo- und Taktwechsel.  Er tränkt es jedoch mit lebhaften nationalen Charakterzügen, die auf der Sprachmelodie der ukrainischen Quellen beruhen: der duma, einem gesungenen epischen Gedicht mit seinen Wurzeln im sechzehnten Jahrhundert; Volksliedern und gesungenen Bußpsalmen.  Das Konzert erhält seine Einheitlichkeit vermittelst einer durchgehenden thematischen Struktur, und es nutzt Techniken des Barock: ostinato, Motive, die immer wieder in derselben Stimme wiederholt werden; und der Klassik – motivbezogene Kompositionselemente.

Beresowskis Chorwerke stellten die Verbindung zwischen zwei Abschnitten der Musikgeschichte her, dem Barock und der Klassik, sowie zweier nationaler Traditionen, der italienischen und der ukrainischen.  Seine jüngeren Zeitgenossen wurden seine würdigen Erben und Nachfolger.  Unter ihnen muss Dimitri Bortnianski besonders erwähnt werden.

Dimitri Bortinianski (1751-1825) kam ebenfalls in Hluchiw zur Welt.  Er studierte an der dortigen Musikschule und war Sänger in der Hofkapelle, wo er von Galuppi unterrichtet wurde.  Während des Jahrzehnts 1769-1779 vervollkommnete Bortnianski seine Musikkunst in Hochschulen in Italien: in Venedig, Florenz, Bologna, Rom und Neapel.  Bei seiner Rückkehr wurde er zum Chordirigenten ernannt, und von 1801 bis zu seinem Tode wirkte er als Direktor des Chors der Hofkapelle von St. Petersburg.

Wie Beresowski war auch Bortnianski ein Komponist von Weltniveau.  Sein kreatives Erbe umschließt sechs Opern mit italienischen und französischen Libretti, Instrumentalwerke, eine Sinfonie, ein Quintett, Klaviersonaten und eine Reihe Romanzen.  Der wesentlichste Teil seines Lebenswerks sind seine Chorwerke: 35 für Einzelchöre und zehn geistliche Konzerte für Doppelchöre, vierzehn Loblieder, zwei Liturgien, sieben vierstimmige und zwei achtstimmige Cherubische Gesänge und fast 39 weitere Werke für die Kirche. 

Dadurch, dass er typische klassische Formen und Tempi-Wechsel zwischen den Sätzen benutzte (schnell-langsam-schnell für dreisätzige Kompositionen, langsam-schnell-langsam-schnell für viersätzige) trug Bortnianski erheblich zur Erweiterung der Struktur der ukrainischen Chormusik bei.  Er brachte opernhafte Züge mit solchen der ukrainischen psalmy zusammen – zwei- oder dreistimmige lyrische geistliche Lieder auf Texte aus den Psalmen Davids, und kanty, eine Form der psalmy, die sich während des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts herausbildete: alte, ernste, vorwiegend religiöse, nicht-liturgische Lieder, die zwar komponiert worden waren, aber anonym verbreitet wurden.  In seinen Werken finden sich die Melodiewendungen ukrainischer Volkslieder zusammen mit instrumentalen Einwürfen, und Tanzmotive mit Marschrhythmen.

Stepan Dechtiarewski (Degtiarew) (1766-1813) lieferte wesentliche Beiträge zur Entwicklung des Chor-Konzertes während der Klassik.  Er hatte bei Giuseppe Sarti studiert.  Bislang sind etwa sechzig Chor-Konzerte, sieben Kantaten und viele liturgische Lieder von Dechtiarewski ans Licht gekommen.  Er komponierte das erste ukrainische weltliche Oratorium und übersetzte V. Manfredinis Lehrbuch zur Musiktheorie.  Dechtiarewski war ein Leibeigener des Grafen Scheremetew, und seine Schöpfungen werden meist der russischen Kultur zugerechnet, aber er war Ukrainer, und seine Kompositionen besitzen eine ausgesprochen ukrainische Melodiefärbung. 

Die Chorwerke von Artemi Wedel (1767-1808) sind ebenfalls einzigartig.  Er absolvierte die Kiew-Mohila Akademie und war Schüler von G. Sarti.  Als hervorragender Tenor und als bester Kirchenchorleiter seiner Zeit brachte Wedel das Niveau der ukrainischen Chormusik der Klassik zu seinem Höhepunkt.  Seine virtuose Melodieführung ist ein Vorbild der organischen Synthese von ukrainischen romantischen Liedern und westlichem cantabile.  Wedels Kompositionstechnik ist manchmal monumental, manchmal voller verhaltener Kontraste – Paradebeispiele für das, was mit dem a cappella Klang erreichen werden kann.  Seine Stücke zeichnen sich durch ihre perfekten Proportionen aus.  Bislang sind uns 28 Chor-Konzerte, zwei Liturgien, eine Vesper, drei Irmolai-Zyklen (für Weihnachten, Ostern und der Theotokos, der Gottesmutter, gewidmet) und zwanzig andere Chorwerke bekannt.

Aber dies ist bei weitem nicht alles, das über Wedel bekannt ist.  Sein kreatives Schicksal war tragisch.  Nach rauschenden Erfolgen und Anerkennung wurde Wedel 1799 verhaftet, vermutlich aus politischen Gründen, und in einer Anstalt für Geisteskranke untergebracht, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte.  Sein schöpferisches Erbe war im russischen Reich während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts offiziell geächtet.  Seine Werke durften weder in Kirchen aufgeführt noch veröffentlicht werden.  Trotz des Verbots wurden Wedels Werke eifrig durch mit der Hand abgeschriebenen Exemplaren verbreitet und von Gemeindechören aufgeführt, und sie wurden so zu einem bedeutenden Teil der ukrainischen Chorkultur.  Die Forschungsarbeiten über das schöpferische Werk von Wedel und die klassische ukrainische Chormusik dauern an.

 

Die Ukrainische Chormusik der Romantik als Höhepunkt der Nationalen Chorkultur

Das neunzehnte Jahrhundert führte das Romantische in die Geschichte der Weltkultur ein.  In der europäischen Musik bildeten sich viele nationale Kompositionsschulen.  Nun wurde die einmalige innere Welt des Menschen zum Brennpunkt des künstlerischen Interesses.  Die ukrainische Musik war keine Ausnahme.  Da Territorium und Bevölkerung der Ukraine aber zu der Zeit zwischen den österreichischen und russischen Kaiserreichen aufgeteilt waren, gab es besondere Komplikationen, was die Bildung einer nationalen Schule angeht.  In Halitschina – Teil des österreichischen Kaiserreiches – bildete sich in der frühen romantischen Epoche die Schule von Peremischl (Przemyśl).  Unter ihren berühmtesten Vertretern waren Michailo Werbitski (1815-1870) und Iwan Lawriwski (1822-1873).  Beide Komponisten stammten aus Priesterfamilien und wurden in Peremischl ausgebildet.  Beide dienten später als Priester.  In den Werken dieser zwei Komponisten, die sich auf die Chormusik spezialisierten, ist der Rückgriff auf die Tradition von Bortnianski nicht zu übersehen.  M. Werbitski schrieb fast vierzig Kompositionen für die Kirche und dreißig weltliche Chorwerke, darunter die ukrainische Nationalhymne, der ein patriotisches Gedicht von Pawlo Tschubinski zu Grunde liegt (1863). 

 

Mykhailo Mykhailovych Verbytsky (1815-1870)
Mykhailo Mykhailovych Verbytsky (1815-1870)

 

Die Chorwerke der Schule von Peremischl übten wesentlichen Einfluss auf Chorkomponisten der späteren Romantik in Halitschina aus: Victor Matiuk, Anatole Wachnianin, Isidor Worobkewitsch, Ostap Nyzhankiwski, Wasil Barwinski, Stanislaw Liudkewitsch, Anatoli Kos-Anatolski und Jewhen Kosak. 

Eine ausgereifte ukrainische nationale Kompositionsschule bildete sich in der zentralen und östlichen Ukraine und muss mit dem Namen Mikola Lisenkos (1842-1912), Absolvent der Universität Kiew und des Leipziger Konservatoriums, in Verbindung gebracht werden.  Im Werk Lisenkos finden sich sämtliche von europäischen Berufskomponisten gepflegten Formen der modernen Zeit.  Er war der Verfasser von dreizehn Opern, drei Kantaten, einer Reihe sinfonischer Werke und instrumentaler Kammermusik, vieler Kompositionen für Klavier und vokaler Solostücke und zahlreicher Chorwerke auf weltliche und geistliche Texte.  Eine besondere Form in Lisenkos Werk sind seine Bearbeitungen ukrainischer Volkslieder.  Es gibt mehr als 600 solcher Werke.

Lisenkos Chorwerke sind vorwiegend weltlich.  Sie sind Kompositionen in diversen Formen und benutzen Texte von Taras Schewtschenko und anderen ukrainischen Dichtern – er schrieb verhältnismäßig wenig geistliche Chormusik.  Neben dem berühmten Gebet für die Ukraine, das zum nationalen Kirchenchoral der Ukraine wurde, gibt es die Cherubische Hymne, ein Geistliches Konzert und geistliche kants.  In diesen Werken kommt ein neuer, glanzvoller Stil der geistlichen ukrainischen Chormusik des neunzehnten Jahrhunderts zum Vorschein.  Er bringt die unverkennbare nationale Identität der ukrainischen Melodie zusammen mit dem europäischen romantischen Stil zum Ausdruck.  Werke in diesem Stil wurden zu Vorbildern für die romantischen Komponisten, die das Chorwerk von Lisenko weiter führten: Kirilo Stetsenko, Mikola Leontowitsch, Jakiw Jatsinewitsch und Olexander Koschetz.

Diese Künstler haben mehrere Charakteristika gemein.  Zum ersten besaßen sie alle umfassende praktische Chorerfahrung “von innen” sowie eine gründliche Kenntnis dessen, was machbar war.  Zweitens waren sie alle unentwegt damit beschäftigt, ukrainische Volkslieder zu sammeln und zu bearbeiten, eine Tätigkeit, die ihren besonderen musikalischen Stil beeinflusste.  Zum dritten widmeten sie alle der Musik der orthodoxen Kirche große Aufmerksamkeit, und sie bewiesen ihre schöpferischen Talente in Formen, die mit ihrem Ritual verbunden waren (die Liturgie, Vesper, Cherubische Hymnen).  Viertens haben sie stilistische Eigenheiten gemein: eine Vorliebe für cantabile und melodische Prinzipien sowie das Schaffen großer Kompositionen, die auf der romantischen Technik der zyklischen Wiederholung winziger Elemente basierte.

Einer von Lisenkos allerbesten Nachfolgern auf dem Gebiet der Chormusik ist Kirilo Stetsenko (1882-1922).  Er stammte aus der Provinz Kiew (heute Tscherkassi Oblast), wurde in einem theologischen Seminar ausgebildet, war Mitglied von Lisenkos Studentenchor in Kiew, und ab 1903, bis er 1907 ins Exil ging, studierte er an der Mikola Lisenko Schule für Musik und Drama.  Während seines Musikstudiums unterrichtete Stesenko auch Musik und Gesang an erzieherischen Einrichtungen in Kiew, er sammelte Volksmusik, während er die Ukraine bereiste, organisierte einen Nationalchor und unternahm Konzertreisen mit ihm.  Stetsenkos künstlerisches Erbe, besonders auf dem Gebiet der geistlichen Chormusik (drei Liturgien, eine Vesper, ein Requiem, Kirchenlied für eine Trauung, Gottesdienst für den Ostermorgen, mehr als 50 verschiedene geistliche Werke) ist bis heute nur unzulänglich erforscht worden.  Wir können aber mit Sicherheit die Behauptung aufstellen, dass die geistlichen Werke von Stetsenko den Gipfelpunkt der ukrainischen romantischen Kirchenmusik darstellen, deren Fundament im Volkslied der Ukraine zu finden ist.

Mikola Leontowitsch (1877-1921) ist einer der bekanntesten ukrainischen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts.  Sein berühmtes Schtschedrik (Weihnachtslied der Glocken) ist immer noch zu Weihnachten in vielen Ländern zu hören.

 

Mykola Dmytrovych Leontovych (1877-1921)
Mykola Dmytrovych Leontovych (1877-1921)

 

Leontowitsch wurde in Podillia im Südwesten der Ukraine geboren.  Er erhielt seine musikalische Ausbildung am theologischen Seminar von Kamianets-Podilskji, wurde aber nicht Geistlicher, sondern beschloss, Musik- und Gesanglehrer zu werden.  Im Zuge seiner beruflichen Weiterbildung arbeitete Leontowitsch intensiv mit vielen Chören in Schulen von Podillia, sammelte und bearbeitete ukrainische Volkslieder, bestand die Prüfung als Kirchenchorleiter am Hofkapellchor in St. Peterburg und vervollkommnete seine Kontrapunkt-Technik durch Privatstunden bei Professor Boleslaw Jaworski vom Konservatorium Kiew.

Die Grundlage des künstlerischen Nachlasses von Leontowitsch ist sein Chorwerk.  Es besteht aus über 50 Kompositionen für die ukrainische orthodoxe Kirche (darunter eine Liturgie); fast 150 Volksliedbearbeitungen, die eigentlich komponierte Chorminiaturen sind, für welche die Volksmelodie nur die auslösende Idee beitrug; und vier Chorgedichte auf Texte ukrainischer Dichter.  Bis zu seiner tragischen Ermordung durch einen Agenten der sowjetischen politischen Polizei (Tscheka) arbeitete Leontowitsch an der Oper Für den Ostersonntag der Wassernymphe (die in den ausgehenden 1960er Jahren von Miroslaw Skorik fertiggestellt wurde). 

Jakiw Jatsenewitsch (1869-1945) war ein getreuer Nachfolger von Lisenko.  Er war ein begabter Komponist, Chorleiter und Volksmusiksammler.  Leben und Werk von Jatsenewitsch standen bis 1917, dem Jahr der Revolution der Bolschewiken, im Zusammenhang mit der Kirche.  Er absolvierte Studien an der theologischen Schule von Sofia und war Chorleiter an St. Michael-mit-der-goldenen-Kuppel zu Kiew.  Jatsenewitsch schrieb eine Liturgie, einen Zyklus von Hochzeitsliedern und freie Chorstücke.  Nach der Revolution war die herausragende, kreative Gestalt Jatsenewitschs der neuen Regierung unliebsam, und der Komponist wurde gezwungen, die Ukraine zu verlassen.  Er wurde in den Kaukasus verbannt, wo er seine Tage als Wächter in einem sowjetischen Gemüseanbau-Kollektiv beschloss. 

Olexander Koschetz (1875-1944) trug wesentlich zur ukrainischen Chorkultur der Romantik bei.  

 

Olexander Koshetz (1875-1944)
Olexander Koshetz (1875-1944)

 

Als Absolvent der theologischen Akademie von Kiew und des Mikola- Lisenko-Instituts für Musik war Koschetz ein hervorragender Chordirigent und unverwechselbarer Chorkomponist.  Während der sowjetischen Ära waren sein Name und seine Werke in der Ukraine tabu.  Nach der Revolution fand Koschetz sich außerhalb der Sowjetunion, wo er seine Chorkompositionen, ein riesige Zahl von Volksliedbearbeitungen, fünf Liturgien und fast hundert freie geistliche Werke schuf. 

Nach der bolschewikischen Revolution von 1917 und dem Bürgerkrieg, dem holdomor – gnadenlose Hungersnöte, von den Kommunisten organisiert – und der Durchsetzung strikter ideologischer Richtlinien, verzerrte sich der Zustand der Chorkultur der Ukraine.  Berufskomponisten durften nicht in der traditionellen nationalen Form der Kirchenmusik arbeiten.  Der Staat unterstützte entweder ideologisch “korrekte” Stücke über sowjetische oder Parteithemen, Revolutionslieder für das Singen bei Massenveranstaltungen, oder primitive Volksliedbearbeitungen im Geist der demokratischen russischen Kunst der 1860er Jahre, oder Volksliedbearbeitungen, die sich für Laiengruppen eigneten.  Die wahre Wiedergeburt der ukrainischen Chorkunst ging mit der Unabhängigkeit einher.

 

Die Zeitgenössische Chormusik der Ukraine und die Wiedergeburt der Traditionen

Das Zeitalter der stagnierenden Chormusik, das mehr als siebzig Jahre dauerte – so lange wie die sowjetische Diktatur – endete, als die Ukraine ihre Unabhängigkeit erhielt.  Aber die Entwicklung der nationalen Chormusik kam in diesem Zeitabschnitt nicht völlig zum Stillstand, sondern sie verschob sich, glitt ab in Volksliedbearbeitungen und das volkstümlich machen von neu gegründeten “Volkschören” (Lew Rewutski, Guri Weriowka, Mikailo Werikiwski, Pilip Kositski, Konstantin Dankewitsch).  Die Tradition der hohen beruflichen Verantwortung setzte sich jedoch fort in der Chorkunst von Boris Liatoschninski (1894-1968).  Das Komponieren geistlicher Musik war ihm verwehrt, aber Liatoschninski ging nicht den Weg des ideologisch kompromittierten Komponierens.  Seinen Chorkompositionen fehlen die Verbindungen zu “einschlägigen” politischen Themen und politisch erlaubte Chorminiaturen über Landschaften und philosophische Ideen.  

 

Boris Lyatoshynsky (1894-1968)
Boris Lyatoshynsky (1894-1968)

 

Die wichtigsten ukrainischen Komponisten unserer Zeit durchliefen die Liatoschninski-Schule der Komposition (Silwestrow, Ditschko, Stankowitsch).  Seit 1991 wenden sie sich in ihrer Chormusik zunehmend geistlichen Themen und überlieferten religiösen Formen zu.  Es lässt sich sagen, dass es heute in der Ukraine keine Berufskomponisten gibt, die nicht geistliche Musik schreiben.  Diese Behauptung schließt junge Komponisten ein, die den ausgetretenen Pfaden von Lehrern und älteren Kollegen folgen, sowie die ältere Generation von Komponisten aus der Zeit des Totalitarismus, die durch ihre Opposition zum kommunistischen System geprägt wurden.

Die berühmtesten dieser älteren Komponistengeneration, Valentin Silwestrow, Jewhen Stankowitsch, Miroslaw Skorik, Lesia Ditschko, hielten ihren Einzug in die ukrainische Kultur in den 1960er und 1970er Jahren.  Sie alle fanden ihren eigenen Weg zur Chorkomposition, mit ihren eigenen Stilcharakteristika und Befürwortern, aber es gibt Dinge, die sie verbinden: der Wunsch, einen Aspekt der nationalen Tradition mit den neuesten Kompositionstechniken zu vereinen, und der Wunsch, ihre eigene Ausdeutung geistlicher Texte vorzustellen.  So bilden für Lesia Ditschko (*1939) die natürliche Sprachmelodie der ukrainischen Folklore und die Barockmusik die Grundlage ihres Schaffens.  In ihrer Chormusik finden wir eine eindrucksvolle Vielseitigkeit; Chor-oper, Kantaten, Chor-Konzerte, Gedichte.  Nachdem die Kommunisten fast ein Jahrhundert lang die Kirchenmusik verboten hatten, war Ditschko die erste moderne ukrainische Komponistin, die eine Liturgie schrieb (in ihrem Werk finden sich drei Liturgien).  Das Chorwerk von Skorik (*1938), das im letzten Jahrzehnt veröffentlicht wurde, wird von geistlichen Formen beherrscht (Liturgie, geistliches Chor-Konzert, Psalmen Davids).  Wir können die Orientierung an der überlieferten Mehrchörigkeit und an den Traditionen der Kirchen-Kanons heraushören.  Valentin Silwestrows (*1937) Chorkompositionen auf geistliche Texte – über 50 – betonen die Behandlung des Chors als Instrument und konzentrieren sich auf die Eigenschaften des Klanges – Klangfarbe, Struktur, Artikulation, Dynamik und Bewegung, um Formen zu gestalten.  In liturgischen Gesängen, der Vesper, dem Zyklus Psalmen und Gebete, geistlichen Liedern und den Psalmen Davids benutzt Silwestrow romantische Melodiewendungen, um seine eigene meditative, lyrische und beschauliche, vieldimensionale Klangwelt zu errichten,.  Seine Chorwerke auf Gedichte von Taras Schewtschenko werden von ähnlichen Zügen geprägt.

Die Chorwerke von Eugen Stankowitsch (*1942) wenden sich religiösen Texten und Formen zu (Liturgie des heiligen Johannes Chrisostomos, die Psalmen Gott ist mein Hirt; Zu dir, o Herr, rufe ich; Wie lieblich sind deine Wohnungen; O Herr der Heerscharen; das Konzert O Gott, unser Herr).  Sie wenden sich auch  ukrainischen Klassikern zu: Texten von Taras Schewtschenko (die zweiteilige Chorsinfonie), und Volksliedbearbeitungen.  Als Maßstab für höchstes Niveau erwählt er die Chorwerke Bachs sowie ukrainischer Komponisten der Klassik und schafft dunkel getönte, dynamische Werke.

Die schöpferische Choraktivität in der Ukraine unserer Tage ist sehr wichtig.  Viktor Stepurko (*1952), Mikailo Schuch (*1952), Wladimir Zubitski (*1953), Victor Kaminski (*1953), Anna Hawrilets (*1958), Wladimir Runtschak (*1960), Victoria Polewa (*1962), Olexandr Kozarenko (*1963) und ihre jüngeren Kollegen machen sich sehr nützlich im Bereich der Chormusik – weltlich wie geistlich, monumental und in Miniaturen; sie schaffen neuartige Kompositionen und setzen die tausendjährige Tradition der ukrainischen Chorkunst fort.

Die Chorkunst der Ukraine beschränkt sich nicht auf das Komponieren.  Die wichtigen Aspekte: Chorerziehung, Chorsingen und Chorfestivals besitzen ebenfalls glorreiche und uralte Traditionen, die irgendwann einmal ihren eigenen Aufsatz wert sein werden.

 

Олександр Кошиць: Пісня Єднає Світи

Oleksandr Koshetz: Song Unites the World

Vydubychi Church choir

Conductor: Volodymyr Viniar

Director: Bohdan Kuts

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“The creative personality of Olexander Koshetz (1875-1944) is so bright that he made a significant impact on the development of choral singing not only in Ukraine but also in the US, Canada, and in European and South American countries swept by his enchanting Ukrainian Choir. Many believe that the Ukrainian cappella under the direction of O. Koshetz contributed more in the early 20th century to a greater understanding among nations of the world of the newly formed European country of Ukraine than many years of work by the entire Ukrainian diplomatic corps. A national composer can only be one whose love of his country generates folk songs that people consider their own music. And this is the destiny of Olexander Koshetz, whose name Ukraine proudly bears and reveres as one of its famous sons.”

Mstyslav Yurchenko, 

Professor, PhD Music Criticism

Link to the CD audio tracks:

http://goo.gl/3nwjU  (downloadable for free)

Dossier_Choral_Music_Ukraine_part1_CD_QR_code

 


[1] Der Übersetzer ins Englische benutzt das Wort “Intonation” in Bezug auf die wechselnden Tonhöhen des gesprochenen Wortes innerhalb zusammenhängender Sätze, die für verschiedene Sprachen, Sprecher und Kulturen sehr unterschiedlich sein können; siehe “http://dictionary.reference.com/ 

 

 

Yuri ChekanJuri Tschekan (*1960) ist Mitglied der nationalen Gesellschaft der Komponisten der Ukraine.  Er schloss seine Studien an der historisch-theoretischen Fakultät des Konservatoriums von Kiew ab (1984) und promovierte 1992; 2010 habilitierte er sich an der nationalen Musikakademie der Ukraine.  Juri Tschekans wissenschaftliches Interesse konzentriert sich auf zeitgenössische ukrainische Musik, die Theorie der Musikkritik und des Managements in der Musik, wie sie an Hochschulen gepflegt wird, und auf methodische Probleme der historischen Musikwissenschaft.  Seine Doktorarbeit beschäftigte sich mit der Entwicklung einer Methode zur historischen und funktionellen Analyse musikalischer Werke, und seine Habilitationsschrift (2010) legte die Grundlagen zu einem von der Sprachmelodie beherrschten Weltbild[2] als einer Kategorie der historischen Musikwissenschaft.  Zu Juri Tschekans wichtigsten Veröffentlichungen zählen das Buch Sprachmelodisches Weltbild (2009); Forschungen zur Kultur der ukrainischen Roma Romano Drom.  Reisen im Land der Roma (gemeinsam mit anderen): fast 60 wissenschaftliche Artikel, Vorträge bei wissenschaftlichen Konferenzen und Symposien (Kiew, Lwiw, Uzkorod, Moskau, Rostow-am-Don, Chișinău).  Juri Tschekan ist der Verfasser des ersten und einzigen ukrainischen Lehrbuchs der Musikkritik Musikkritik: Theorie und Methoden, Tscherniwtsi, 2007, in Zusammenarbeit mit O. S. Zinkewitsch.  Seine praktische Ausübung der Kritik schlägt sich in mehr als 500 kritischen Artikeln in ukrainischen Zeitungen und Zeitschriften nieder.  In enger Zusammenarbeit mit Chören der Ukraine hat Juri Tschekan 20 CD Beihefte für Aufnahmen von Chorwerken ukrainischer und russischer Komponisten geschrieben. 

 


[2] Der Begriff der Erfahrung der Sprachmelodie ist eine Verallgemeinerung.  Das Buch entwickelt die Vorstellung, dass die klangliche Umgebung von Geografie und Ökologie einer Gegend die sprachmelodische Erfahrung der Sprache und Musik der Bewohner prägen.  So leben die, die am Meer mit seinem immerwährenden Hin und Her der Gezeiten und den zerschellenden Wogen in einer anderen Klangwelt als die, die in bewaldeten Gegenden mit ihren Geräuschen des Windes in den Bäumen und des Vogelgesangs zu Hause sind, oder im Gebirge mit seinem Echo, und Ebenen ohne Echo.  Dieser Zusammenhang prägt die Art und Weise, wie Menschen Laute ausstoßen, die Tonhöhe und das Tongefälle ihrer Sprache, und wie sie sich musikalisch ausdrücken.  Und das führt zu einer unverwechselbaren musikalischen Ausdrucksweise für Gegenden und Nationen.

 

 

Übersetzt aus dem Ukrainischen ins Englische von Myroslaw Kohut, Managing Director, Romyr & Associates, Ukraine

Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, England