Das Geheimnis der Zeichen - Gregorianischer Gesang und Semiologie
Aurelio Porfiri, Chorleiter und Lehrer
Der gregorianische Choral hat während der letzten Jahrzehnte ein merkwürdiges Schicksal erfahren: Auf der einen Seite machte die Durchführung der liturgischen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) das einzige Repertoire, das die katholische Kirche als ihr eigens bezeichnen konnte, de facto fremd im eigenen Land. (Ich will hier nicht auf dieses Thema eingehen, das in Kirchenmusikkreisen heiß debattiert wird und Quelle nicht endender Debatten ist.) Auf der anderen Seite hat dieses Repertoire Dank CDs sowohl traditioneller gregorianischer Choräle als auch von Poparrangements (von Enigma und ähnlichen Gruppen) eine große Wiederbelebung erfahren, und besonders durch wissenschaftliche Untersuchungen, die in vergangenen Jahrzehnten ein neues Licht auf ihn geworfen haben. Darüber hinaus kann man nicht übersehen, wie „cool“ das Mittelalter seit kurzem geworden ist, dank Filmen und anderen Fictionwerken, die Persönlichkeiten und Zeiten darstellen, die eindeutig von den „christlichen Jahrhunderten“ inspiriert sind, zum Beispiel die „Herr der Ringe“ Trilogie von Tolkien (sowohl die Bücher als auch insbesondere die Filme) oder die TV-Serie „Game of Thrones“ [eine amerikanische Fantasy TV-Serie, seit 2012 auch in Europa unter diesem Titel im Bezahlfernsehen zu sehen, Anm. d. Übers.].Da der gregorianische Choral, wie wir wissen, die fundamentale Tonspur des Mittelalters ist, profitiert auch er von der Wiederbelebung des Mittelalters. Daher lohnt es sich, eine sehr interessante Entwicklung auf dem Gebiet der Forschung zum gregorianischen Choral zu untersuchen – die gregorianische Semiologie – im Bewusstsein dass, ob wir das mögen oder nicht, der gregorianische Choral am Anfang der westlichen Musiktradition steht und es daher verdient, besser verstanden zu werden[1]
Wenn es einen Ort gibt, der seit der Mitte das 19. Jahrhunderts am stärksten mit dem gregorianischen Choral verbunden wird, so ist es zweifellos die Abtei von Solesmes in Frankreich. Warum ist das so? Wegen der großen Impulse, die er durch Dom Prosper Gueranger (1805-1875) erhielt, den Restaurator des mönchischen Lebens und Meister der römischen Liturgie in Frankreich. Die Abtei von Solesmes war der Mittelpunkt einer Bewegung des gregorianischen Chorals, die unter ihren Mönchen Gelehrte hervorbrachte, die diese Bewegung bis zum heutigen Tage anführen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dieses Repertoire ernsthaft studiert in der Hoffnung, ein sehr wichtiges Ziel zu erreichen: die Melodien wieder zu ihrer ursprünglichen Form und Schönheit zu erwecken (so weit das anhand der vorhandenen Manuskripte möglich war), nachdem mehrere Jahrhunderte des Verfalls sie fast unkenntlich gemacht hatten. Für diese Entartung steht deutlich eine Ausgabe gregorianischer Choräle aus dem 17. Jahrhundert, der „Medicean“[2].
Diese Forschungen führten zu neuen Wegen, den gregorianischen Choral zu verstehen. Die wahrscheinlich wichtigsten Entwicklungen im Verständnis gab es in den letzten Jahrzehnten auf zwei spezifischen Gebieten: einem besseren Verständnis der Kirchentonarten dank eines anderen Mönchs aus Solesmes, Dom Jean Claire (1920-2006), und der Entwicklung einer Semiologie der Gregorianik.
Was ist gregorianische Semiologie? Sie ist ein neues Verständnis der Bedeutung, der Vielfalt und der Werte der Neumen, die in den mittelalterlichen Manuskripten notiert sind. Neumen (Zeichen, die verwendet werden, um melodische Linien darzustellen, wobei eine Neume alle Töne bezeichnet, die auf eine gegebene Silbe gesungen werden) waren natürlich den großen Gregorianikern von Solesmes wie Dom Joseph Pothier (1835-1923) und insbesondere Dom André Mocquereau (1849-1930) bekannt, aber sie wurden neu bedacht und zu neuem Leben erweckt dank der Forschungen eines weiteren Mönchs dieser Abtei, Dom Eugéne Cardine (1905-1988). Tatsächlich führten Pothiers und Mocquereaus umwälzende Forschungen zu dem, was als erste Phase der Restaurierung des gregorianischen Choräle betrachtet wird, während Cardine und Claire die Hauptvertreter der zweiten Phase sind, die in den 1950ern begann ( Turco 1991, Seite 38). Wie bereits oben dargestellt, erkannte Dom Cardine, dass die Neumen, die Zeichen, uns mehr über Interpretation und Rhythmus sagen können, als man früher verstanden hatte; etwas hatte gefehlt.
„(…) Cardine konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die extreme Vielfalt der Zeichen, die in den allerältesten Manuskripten zu finden waren. Er kam allmählich zu der Überzeugung, dass diese Vielfalt dazu dient, die Besonderheiten und die zarten Ausdrucksnuancen innerhalb des Zusammenspiels von Dauer und Intensität darzustellen“ (Combe 2003, Seite 15).
Das Buch, das diese neue Idee der Semiologie verbreiten sollte, ist im Grunde eine Sammlung der Vorträge, die er am Pontificium Institutum Musicae Sacrae Rom hielt und die er „Gregorianische Semiologie“ nannte. Dieses Buch wurde nun in mehrere Sprachen übersetzt. Der Gedanke hinter Dom Cardines neuem Verständnis des gregorianischen Chorals ist einfach: obwohl seine großen Vorgänger (vor allem Pothier und Mocquereau) sich mit den Neumen auskannten, fehlte ihnen ein tieferes Verständnis von dem, was in den Neumen selbst verborgen ist. Sie sind wichtig nicht nur für die Rekonstruktion der Melodien selbst, sondern auch, um grundlegende Hinweise über Rhythmus und Ausdruck zu geben. Wir wissen, dass die beliebteste Theorie über den Rhythmus jene war, die Dom André Mocquereau in seinem zweibändigen Buch „ Le Nombre Musical Grégrien“ („A Study of Gregorian Musical Rhythm“ – [Eine Untersuchung des Rhythmus im gregorianischen Choral, Anm. d. Übers.]) entwickelte. Hier versuchte er eine Erklärung des Rhythmus des gregorianischen Chorals, die im 20. Jahrhundert sehr populär werden sollte. Diese Theorie schlägt eine rhythmische Unterteilung der Neumen in Gruppen von zwei oder drei Tönen vor, die einem Akzent unterstehen, der ictus genannt wird. Diese Theorie stellte zu ihrer Zeit einen Durchbruch dar, hatte aber auch ihre Grenzen. Tatsächlich scheint es, dass sogar der Chor in Solesmes nie wirklich den Rhythmustheorien von Dom Macquereau folgte, und heute werden sie als „altmodisch“ angesehen. Wie bereits dargestellt war die Theorie, die Leben in die innere Seele der Neume zurückbringen sollte, Dom Cardines Semiologie.
Seine Idee wurde von zwei Kriterien geleitet:
„Das erste bezieht sich auf das Material oder die Grafik und betrachtet das Muster oder die Konfiguration der Zeichen. Das zweite bezieht sich auf die Ästhetik und betrachtet den musikalischen Kontext, in dem jedes Zeichen verwendet wird. Es geht darum, den Schnittpunkt diese beiden Kriterien zu untersuchen und die Beispiele in den verschiedenen Notationen zu vergleichen“ (Combe 2003, Seite 16).
Warum wird das Semiologie genannt? Zunächst wollte Dom Cardine diese neue Wissenschaft „Gregrianische Diplomatie“ nennen, aber der Name hatte keinen guten Klang; jemand schlug vor, er sollte es „Gregorianische Semiologie“ nennen, und unter diesem Namen ist sie seither bekannt.
Das Praxisbuch für die Ausführung des gregorianischen Chorals, das den von Dom Cardine wiederentdeckten semiologischen Prinzipien folgt, ist der „Graduale Triplex“. Zusammen mit der eckigen Notation der vatikanischen Ausgabe benutzt er auch die Neumen von zwei uralten und zuverlässigen Familien, Laon und St. Gallen. Heute haben wir darüber hinaus auch das „Graduale Novum“, eine recht junge Ergänzung zu der Liste der Bücher zum gregorianischen Choral. Es enthält viele Verbesserungen, die gedacht sind, eine authentischere Version der Melodien wieder herzustellen.
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Viele Wissenschaftler nach Cardine (manche von ihnen seine Studenten am päpstlichen Institut für Kirchenmusik in Rom) haben die Erforschung der Semiologie fortgeführt. Hier dürfen wir Nino Albarosa, Alberto Turco, Luigi Agustoni, Johannes Berchmans Göschl, Giacomo Baroffio, Columba Kelly, Robert M. Fowells und viele andere nicht vergessen.
Ist es möglich, den gregorianischen Choral auszuführen, ohne die Theorie von Dom Cardine zu verwenden? Natürlich ist das möglich, und in der Tat ziehen es Choralscholen vor, die Semiologie nicht zu verwenden. Aber ich glaube immer noch, dass sie sehr wertvoll ist, weil die Zeichen, wenn sie in einem semiologischen Kontext verwendet werden, mehr Hinweise für eine gute Verwirklichung der Gesänge geben; sie verhelfen den Ausführenden zu einem tieferen Verständnis davon, wie die Melodie den Text „kleidet“. Die große Intuition von Dom Cardine bestand in seiner Frage, warum die alten Schreiber Zeit darauf verwenden mussten, die Neumen auf verschiedene Arten zu formen. Seine Antwort war: weil sie uns mehr mitteilen wollten über die Interpretation und die Nuancen; sie wollten eine „geschriebene Geste“ darstellen. Das ist ein Weg, noch tiefer in die Seele des gregorianischen Chorals einzudringen. Wir können sagen, dass die Semiologie ein exegetisches Werkzeug ist, eines, das mehr Einsicht ermöglicht in ein Stück, das der Chor aufführen wird. Die Hoffnung ist, dass auf dem Pfad von Dom Cardine mehr und mehr Entdeckungen den Weg erleuchten werden für jene, die den gregorianischen Choral weiterhin nicht als ein Relikt der Vergangenheit betrachten sondern als eine lebendige Tradition.
[1] Ich möchte Professor Nino Albarosa danken, dem berühmten Forscher über den gregorianischen Choral, der freundlicherweise bereit war, diesen Artikel zu lesen und einige Verbesserungsvorschläge machte. Mögliche Mängel müssen natürlich ausschließlich mir zugeschrieben werden.
[2] Für diesen Verfall gibt es mehrere Gründe. Vorwiegend haben sie mit dem Wechsel des Geschmacks über die Jahrhunderte zu tun, der zu ständigen Änderungen der melodischen und rhythmischen Elemente der gregorianischen Choräle führte.
LITERATURHINWEISE:
- Agustoni L., Göschl J.B. (2006). Introduction to the Interpretation of Gregorian Chant (Columba Kelly, Trans.). Lewiston, NY (USA): Edwin Mellen Press (Originalwerk veröffentlicht 1987).
- Albarosa N. (1974). La scuola gregoriana di Eugène Cardine. Rivista Italiana di Musicologia IX, 269-297.
- Albarosa, N., Porfiri A. (2008). Ad Te Levavi Animam Meam. On the way to discovering Gregorian Chant (Lazina Gheyselinck, Trans.). Pohlheim (Germany): Edition Music Contact.
- Cardine, E. (1982). Gregorian Semiology (Robert M. Fowells, trans.). Brewster, MA (USA): Paraclete Press (Originalwerk veröffentlicht 1968)
- Combe, P. (2003). The Restoration of Gregorian Chant. Solesmes and the Vatican Edition (Theodore Marier & William Skinner, Trans.). Washington (USA): The Catholic University of America Press (Originalwerk veröffentlicht 1969).
- Mocquereau, André (1908). Le Nombre Musical Grégorien ou Rythmique Grégorienne. Tournai (Frankreich): Desclée & Cie.
- Porfiri, A. (2003). Canto Gregoriano e Polifonia. Liturgia, n.176.
- Turco, Alberto (1991). Il Canto Gregoriano. Corso Fondamentale. Rom (Italien): Torre d’Orfeo.
Aurelio Porfiri ist Direktor der Chorarbeit und Hauskomponist für die Santa Rosa de Lima Schule (Macao, China), Direktor der Chorarbeit für die Our Lady of Fatime Mädchenschule (Macao, China), Gastdirigent für die Musikabteilung des Musikkonservatoriums von Schanghai (China) und künstlerischer Leiter von Porfiri & Horvath Publishers (Deutschland). Seine Kompositionen wurden in Italien, Deutschland und den USA veröffentlicht. Er hat zu mehreren Veröffentlichungen mehr als 200 Artikel über Chor- und Kirchenmusik beigetragen. Er ist Autor von fünf Büchern. Email: aurelioporfiri@hotmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Lore Auerbach, Deutschland.
Edited by Anita Shaperd, USA