Musik hilft. Aber wer hilft uns?! Wenn Musik krank macht
Isabelle Métrope, France/Germany
ICB Managing Editor
Was uns schon seit Jahrzehnten klar war, wird seit den verschiedenen Lockdowns auch für die Öffentlichkeit immer spürbarer: Das aktive Erleben von Musik spielt in unserem Leben eine unabdingbare Rolle – bevorzugt live und ohne Bildschirm. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass sowohl die vorigen Seiten dieser Ausgabe als auch unsere Gesellschaft die Musik als fördernden Faktor für die Gesundheit darstellen. Diese wurde mittlerweile durch Forschungen und durch die Praxis der Musiktherapie nachgewiesen. Etwas unbekannter – außer für viele Berufsmusiker – ist der Ansatz, dass Musizieren in manchen Fällen die Gesundheit gefährden kann, und dass der Körper, ähnlich dem eines Leistungssportlers, adäquat mitbedacht werden muss.
Wer durch medizinische Publikationen stöbert, findet bereits im 15. Jahrhundert einzelne Forschungen zu bläsertypischen Krankheiten. Doch für eine praktische und systematische Behandlung müssen Instrumentalisten und Sänger bis in die 1970er Jahre warten, als die ersten Musikerambulanzen ihre Pforten öffnen. Dabei leiden bis zu zwei Drittel der Berufsmusiker unter Beschwerden, die dem intensiven Praktizieren und Üben ihres Instruments zuzuschreiben sind[1].
Nun: Rückenschmerzen, Kieferverspannungen oder Stimmprobleme können bei jedem Menschen auftreten. Was unterscheidet also Musiker von Nichtmusikern? Unser Körper wird, wie bei Hochleistungssportlern, durch unseren Beruf auf eigenartige Weise belastet: Bis zu 50 Jahre lang (oder länger) machen wir die gleichen Bewegungen, viele Stunden am Tag. Repetitive Bewegungsabläufe, die genau wie bei Hochleistungssportlern Perfektion (ob technische oder musikalische) als Ziel haben und gefährlich werden können. Hinzu kommt, dass viele Instrumente asymmetrisch sind. Für eine solche starke einseitige Belastung ist unser Körper nicht gemacht, sofern wir ihm keinen Ausgleich gönnen.
Alexandertechnik, Feldenkrais, Dispokinesis, Gyrokinesis, Yoga: Die Liste an Praxen, die dem Körper Ausgleich geben, ist lang, dennoch werden diese Fächer in manchen Ländern erst seit wenigen Jahren oder manchmal gar nicht in das Musikstudium einbezogen. Dabei könnte die Wirkung von solchen Fächern lebensverändernd sein, würde die komplette Musikausbildung schon von Kindesbeinen an das Körperbewusstsein integrieren: Im Studium üben die Studierenden oft bereits seit 10 Jahren täglich mehrere Stunden.
Von vielen existierenden Methoden habe ich neulich eine mir noch unbekannte entdeckt: die Kovács Methode kann bereits bei kleinen Kindern eingesetzt und in das Ritual des Übens eingeführt werden. Als der ungarische Pädagoge und Komponist Zoltán Kodály in den 1950er Jahren feststellte, dass die Gesundheit vieler Berufsmusiker unter ihrer Musikpraxis litt, beauftragte er den Wissenschaftler Dr. Géza Kovács, der im Sportbereich bereits gute Ergebnisse in der Heilung von Trainingsverletzungen erzielt hatte, eine Lösung zu finden, die sowohl Fehlstellungen korrigieren als auch Verletzungen vorbeugen würde. Somit wurde die Liszt Academy of Music in Budapest eine der ersten weltweit, die ihren Studierenden eine individuelle Verletzungsprophylaxe anbot. Seit 2000 ist es möglich, diese Methode an der Liszt Academy of Music zu studieren, um sie in das eigene Unterrichten mit einbeziehen zu können.
Sind die Beschwerden schon ausgeprägt, ist ein Besuch beim Arzt nötig. Mittlerweile ist die Musikermedizin in vielen Ländern präsent, nur längst nicht um die ganze Welt. Viele der Musikerambulanzen bestehen aus einer Plattform innerhalb eines Klinikums, manchmal in Kooperation mit einer Universität oder Musikhochschule. Diese Abteilung für Musikermedizin ruft je nach Beschwerden die passenden Fachärzte zusammen, um eine auf den Patienten zugeschnittene Therapie anzubieten. Jede Instrumentengruppe hat eine Tendenz zu eigenen Beschwerdebildern: Während hohe Streicher oft mit Kieferverspannung oder Fehlhaltungen im oberen Rückenbereich zu kämpfen haben, stehen bei Blechbläsern Lippen- oder Zahnprobleme im Vordergrund, die dem jahrelangen intensiven Ansatzaufbau geschuldet sind. Ein großes Kapital liegt für Schlagzeuger in ihren Handgelenken, während Dirigenten Schulterprobleme entwickeln können: Die Arme sind erhoben, aber Handgelenke und Hände müssen flexibel und leicht bleiben, was die Schulterspannung erhöhen kann. Stimmbeschwerden bei Sängern haben längst nicht immer mit Stimmbändern oder Gesangstechnik zu tun, sondern können beispielsweise aus Vorerkrankungen im gastrointestinalen Bereich resultieren oder gar darauf hinweisen. Diese Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Natürlich geht es hier nicht nur um Krankheiten, sondern auch um Vorsorge: Ziel der Musikermedizin ist somit, eine goldene Mitte zwischen den technischen Anforderungen der Instrumentalpraxis und dem gesunden Anspruch an den Körper zu finden. Diese Mitte muss getroffen werden, um eine jahrelange, gesunde und beschwerdefreie Praxis zu garantieren. Die oben erwähnten Methoden können für ein gutes Körperbewusstsein, eine gesunde Haltung und natürliche Bewegungen hilfreich sein.
Institute für Musikermedizin sind jung, aber es werden mehr und sie werden immer multidisziplinärer. Es existieren einige bundesweite Organisationen (siehe Linkliste) und einschlägige Literatur ist in mehreren Sprachen verfügbar (siehe Buchvorschläge).
Die Spezialisierung in Musikermedizin kann als Zusatzqualifikation erlernt werden, beispielsweise am University College in London im Rahmen eines Master of Science oder eines Aufbaustudiums.
Nur eine Enttäuschung bleibt: Die meisten Musikerambulanzen oder Forschungszentren beschäftigen sich umfassend mit physiologischen Themen, seltener geht es um die seelische Gesundheit der Musiker. Das Gebiet der Musikpsychologie wird zwar erforscht, dennoch steht dabei meist die positive psychologische Wirkung der Musik im Vordergrund. Eins vereint schließlich alle Musiker: Was die Medien allzu gerne auf Lampenfieber reduzieren, besteht in Wahrheit aus einer ganzen Vielfalt an mentalen Herausforderungen des professionellen Musikerlebens. Bereits 2019 führte die schwedische Organisation Record Union bei fast 1.500 MusikerInnen rund um die Welt eine Umfrage durch und fand heraus, dass “mehr als sieben von zehn (73%) selbstständige MusikmacherInnen von negativen Emotionen wie Stress, Ängsten und/oder Depression in Bezug auf ihr Musikschaffen” berichteten. (Quelle: Record Union, Bericht verfügbar auf www.the73percent.com).
Durch die aktuelle Pandemie wurden die Herausforderungen außerdem verschoben: von Burnout zu Boreout, von fast zu viel zu fast gar nichts, von (Über?)belastung zu Zwangspause. Täglich übende Musiker wurden in ihren Wohnungen durch Lockdown-Maßnahmen „eingesperrt“ (womit sich die Übemöglichkeit für manche stark reduzierte) und schließlich wurde Musikmachen, insbesondere Singen, als hochgefährlich eingestuft. Die Folgen sind gravierend: Durch das Verbot von Chor- und Orchesterproben fehlt ein emotionaler Ausgleich für Laien wie für Berufsmusiker; Karrieren werden gestoppt; die Leidenschaft und gar der Bedarf, auf der Bühne aufzutreten, wird plötzlich monatelang nicht mehr gestillt; der Mangel an Herausforderungen und Projekten kann in eine Depression münden, hierzu kommen bei vielen Menschen existenzbedrohende finanzielle Konsequenzen. Selbstverständlich stellt eine Pandemie für alle eine enorme psychologische Belastung dar, nicht zuletzt durch das starke Eindämmen des sozialen Lebens.
Doch was schützt die Menschheit momentan vor dem Wahnsinn? Unter anderem das Kultur(über)leben und die Akteure des Gesundheitssystems. Und um deren mentale Gesundheit sollte sich auch mal jemand kümmern…
Verbände
- British Association for performing Arts Medicine: https://www.bapam.org.uk/
- Performing Arts Medicine Association: http://www.artsmed.org/
- American Psychological Association: Society for the Psychology of Aesthetics, Creativity and the Arts: https://www.apa.org/about/division/div10
- Österreichische Gesellschaft für Musik und Medizin: www.oegfmm.at
- Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin: https://www.musik-medizin.ch/
- Deutsche Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin e.V.: https://dgfmm.org
- German Society for Music Psychology: http://www.music-psychology.org/
- European Society for the Cognitive Sciences of Music: https://www.escom.org
Institute
- Clinique du Musicien et de la Performance Musicale, FR: http://cliniquedumusicien.com/
- Texas Center for Performing Arts Health, USA: https://tcpah.unt.edu/
- Center for Music & Medicine at Hopkins University, Baltimore (MD), USA:
https://www.hopkinsmedicine.org/center-for-music-and-medicine - Musicians and dancers clinic in The Hague, NL / Medisch Centrum voor Dansers & Musici:
https://www.haaglandenmc.nl/specialismen/afdeling/medisch-centrum-voor-dansers-musici - Berlin Center for Musicians Medicine, DE / Musikerambulanz an der Charité: https://musikermedizin.charite.de
- Center for pop musicians medicine at Berlin School of Popular Arts, Germany:
https://www.srh-university-berlin.de/hochschule/forschung/popambulanz-pab/ - Kurt-Singer-Institute for Music Physiology and Musicians’ Health (KSI), Germany / Kurt-Singer-Institut für Musikphysiologie und Musikergesundheit (KSI):
http://www.ksi-berlin.de - Institute of Music Physiology and Musicians’ Medicine Hanover, Germany:
https://www.immm.hmtm-hannover.de
Ausbildung
- Formation Cursus Médecine des Arts-musique, FR: https://www.medecine-des-arts.com
- University College London: Performing Arts Medicine MSc or Postgraduate (also in distance learning):
https://www.ucl.ac.uk/prospective-students/graduate/taught-degrees/performing-arts-medicine-msc
Lesestoff
Magazine
- Medical Problems of Performing Artists: Official journal of the Performing Arts Medicine Association (PAMA), the Dutch Performing Arts Medicine Association (NVDMG) and the Australian Society for Performing Arts Healthcare (ASPAH): https://www.sciandmed.com/mppa
- Revue Médecine des Arts, FR: https://www.medecine-des-arts.com
Bücher
- Chouard, Claude-Henri, L’oreille musicienne : les chemins de la musique de l’oreille au cerveau. Collection Folio Essais. Paris : Gallimard 2009.
- Dr. Kovács, Géza, Dr. Pásztor, Zsuzsa, Hand Strains from Instrumental Playing. Budapest: Kovács-Method Studio, 2021.
- Dr. Kovács, Géza, Dr. Pásztor, Zsuzsa, Ten Short Sets of Exercises. Budapest: Kovács-Method Studio, 2021.
- Velazquez, Ana, Cómo vivir Sin Dolor Si Eres Músico. La Mejor Postura. Barcelona: Ma non troppo 2013.
- Vrait, François-Xavier, La Musicothérapie. Collection Que sais-je ? Paris : Presses Universitaires de France/Humensis 2018.
- Sacks, Oliver, Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn. Reinbeck: Rowolt 2008.
- Sacks, Oliver, Musicophilia: Tales of Music and the Brain. New York: Knopf 2007.
- Spahn/Richter/Altenmüller, MusikerMedizin: Diagnostik, Therapie und Prävention von musikerspezifischen Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer 2011.
Videos
- Sarah’s Music – Music and Science: das Max Planck Institut Göttingen benutzt die MRT, um Bewegungen von Musikern zu untersuchen. Deutsche Welle 2016.
https://www.dw.com/en/sarahs-music-music-and-science/av-18404705 - Richter, Echternach, Traser, Burdumy, Spahn: Die Stimme: Einblicke in die physologischen Vorgänge beim Singen und Sprechen / freiburger institut für musikermedizin an der hochschule für musik freiburg, 2017.
- Dr. Géza Kovács: Indoor Exercises for Beginners. Kovács Módszer Stúdió. DVD, Budapest, 2000.
- Dr. Géza Kovács: Rondo. Kovács Módszer Stúdió. DVD, Budapest. 2002.
(alle 3 erhältlich über http://www.kovacsmethod.com) - Dr. Zsuza Pásztor: Musical Movement Preparation without Instrument. Kovács Módszer Stúdió. DVD, Budapest, 2006.
- Dr. Pásztor, Zsuzsa, Exercise Breaks for Music Sessions. DVD. Budapest: Kodály Institute. Available by contacting archivum@kodaly.hu
Initiativen zur mentalen Gesundheit bei Musikern
- key changes
https://www.keychanges.org.uk - mental health in music
https://www.mim-verband.de - Help Musicians
https://www.helpmusicians.org.uk - MusiCares
https://www.grammy.com/musicares
[1] Spahn/Richter/Altenmüller, MusikerMedizin: Diagnostik, Therapie und Prävention von musikerspezifischen Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer 2011, Seite 2.