Musica Angelica
Musik der Renaissance und der Klang des Himmels
Von Steven Plank, Chorleiter und Lehrer
Als die im 13. Jahrhundert lebende Nonne Umilità von Faenza schrieb „da sie [die Engel] Geistwesen sind, beschenkt mit der Macht des Höchsten, machen sie eine Musik, die kein anderes Wesen singen kann“1, griff sie die tiefverwurzelte Tradition auf, dass Engel musikalisch sind. Zugleich half sie, diese Tradition zu formen. Sie hat biblische Wurzeln, wie in Jesajas bekanntem und bewegendem Bericht über den himmlischen Tempel, wo das Rufen eines Serafins zu einem anderen an eine musikalische Antiphonie erinnert:
In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief dem anderen zu und sprach:
Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll. Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus war voll Rauch.2
Später wird Jesajas mystische Vision in der Offenbarung des Johannes großartig erweitert;3 und besonders bekannt ist der Chor der Engel, der die Geburt Jesu preist:
Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.4
Diese biblischen Texte, obwohl nicht explizit musikalisch, erwecken doch diesen Anschein, und sie werden in liturgischen Formeln wieder aufgenommen, wie dem Vorspruch zum Sanctus, in dem der irdische Gesang des „Sanctus“ gebeten wird, sich mit dem der Engel und der Erzengel zu vereinen.
Diese textlichen Grundlagen über einen musikalische Himmel regten viele Maler der Renaissance an, Engelkonzerte zu malen, manchmal in großzügigem Maßstab mit einer eindrucksvollen Vielfalt an Instrumenten.5
Intimer werden musizierende Engel oft am Thron der Jungfrau gesehen, wo sie dargestellt werden beim Stimmen, einer symbolischen Andeutung von Marias Rolle als Vermittlerin, eine, die dabei hilft, die Dinge ins Gleichgewicht zu bringen.6
Es ist keine Überraschung, dass auch Komponisten der Renaissance das Thema einladend fanden. In gewisser Weise können natürlich alle Kompositionen über das Gloria und das Sanctus als „engelhaft“ betrachtet werden, eine Gedankenverbindung, die den Berichten von Jesu Geburt und der himmlischen Vision Jesajas entstammt. Aber eine Reihe von Komponisten fühlten sich zu Texten hingezogen, die ausdrücklich engelhaft sind, wie „Duo Seraphim clamabant“, wohlbekannt durch Vertonungen von Jacobus Gallus, Francisco Guerrero und Tomas Luis de Victoria, „Angelus ad pastores ait“, bekannt aus venezianischen Motetten von Andrea und Giovanni Gabrieli, und „Angelus Domini descendit“, vertont unter anderen von Palestrina, Lassus und Byrd.
Manchmal entwickelt sich die kompositorische Verbindung zu den Klängen des Himmels als Frucht sorgfältiger Interpretation, wie zum Beispiel in Johannes Ockeghems üppigem 36stimmigen Kanon „Deo Gratias“. 1969 veröffentlichte Edward Lowinsky eine fantasievolle und überzeugende Studie, in der er Ockeghems ungewöhnliches Werk als mystisches Engelkonzert interpretierte.7 Bezugnehmend auf die traditionellen Vorstellungen von den musikalischen Attributen der Engel – die Antiphonie alternierender Chöre, endloser Gesang, der in Einheit der Stimmen als Gotteslob dargeboten wird – verknüpft er diese Attribute geschickt mit dem „Deo Gratias“ Kanon. Ockeghems kontrapunktisches Kolossalwerk kombiniert vier neunstimmige Kanons, jeder in einer Stimmlage gesungen: ein neunstimmiger Soprankanon überlappt einen neunstimmigen Altkanon, der seinerseits einen neunstimmigen Tenorkanon überlappt, usw. So verkörpert er die Antiphonie alternierender Chöre in einer musikalischen Form – dem Kanon – der von Natur aus kreisförmig und so potentiell endlos ist.8 Zusätzlich wecken die neun Stimmen jedes Chores die Assoziation zu den neun Sphären der Engel in der himmlischen Hierarchie, wie sie pseudo-Dionysius der Areopagit und andere beschreiben. Lowinsky verleiht dieser Interpretation Gewicht, indem er auf die Assoziation eines Gedichts von Nicolle Le Vestu (16. Jahrhundert), das den Kanon als „mystischen Gesang“ bezeichnet, mit einer berühmten Miniatur von Ockeghem mit neun Kapellsängern verweist.9 Ockeghems Chor auf der Miniatur ist engelhaft in der Zahl, und vor den Sängern auf ihren Pulten liegen die Noten zum ebenso engelhaften „Gloria in excelsis Deo“. So verbinden sich Stil, Maßstab und Kontext, um die engelhaften Obertöne dieses Werkes zu schaffen und zu verstärken.
Eines der verblüffendsten Beispiele einer Engelkomposition ist Robert Wilkinsons neunstimmiges Salve Regina im Eton Choirbook (etwa 1500). Obwohl der Marientext selber nicht auf eine engelhafte Komposition hinweist, beruht Wilkinsons extravagante Polyphonie auf dem cantus firmus „Assumpta est Maria in caelum“, und, wie die Ikonographie der Renaissance so reich bestätigt, erhielt die Jungfrau bei ihrer Ankunft im Himmel traditionell ein üppiges Willkommen durch die englischen Heerscharen.10 So hüllt Wilkinson in einem musikalischen Echo die in den Himmel aufgefahrene Maria in einen Heiligenschein aus engelhaftem Klang. Die Absicht ist deutlich im Manuskript zu sehen.11 Jede der neun Stimmen ist mit einer der Engelssphären durch dekorative illuminierte Initiale verbunden. Sie stellen musizierende Engel dar, die den Namen ihrer jeweilige Sphäre tragen Das „Salve“ ist in einem ausgreifenden Stil geschrieben, mit hochfliegenden Sopranlinien und abstürzenden Basspassagen, und hat einen ungewöhnlich weiten Umfang von mehr als drei Oktaven. Und Wilkinson arrangiert seine vertikale Klanglandschaft in allgemeiner Übereinstimmung mit den üblichen Vorstellungen von der himmlischen Hierarchie. So findet man unten die Engel und die Erzengel; ganz oben, wohnend „wie in der Vorhalle Gottes, “12 sind die Seraphim, die Cherubim und die Throne.
Bis zu einem gewissen Grad können auch traditionelle Attribute sein Schreiben beeinflusst haben. Die Cantusmelodie, zum Beispiel, wird ausgreifend von der Tenorlinie getragen, bezeichnet als „Potestates“ (Mächte). Wenn auch nicht durchgehend, so trägt die Tenorlinie über lange Passagen die Melodie in langsamem, unverziertem Maß. In seinem grundlegenden, im 5. Jahrhundert geschriebenen De caelestia hierarchia beschreibt Pseudo-Dionysius die Mächte als „zum höchstmöglichen Grad im Besitz einer gewissen maskulinen und unbeirrbaren Männlichkeit gegenüber all diesen gottgleichen Energien.“13 Es fällt nicht schwer, in dem gleichmäßig gehaltenen Gesang des Tenors das „Unbeirrbare“ zu spüren. In gleicher Weise hält der engelgleiche Sopran in einer Passage („Et pro nobis flagellato …“) den cantus firmus, obwohl unter ihm andere Stimmen in tieferer Lage – und damit tiefer in der Hierarchie – auch motivische Teile des Cantus singen. Dieses Weiterreichen der Melodie vom Sopran abwärts stimmt mit der Beschreibung der Cherubin überein, wie sie John Scotus Eriugenia anbietet, der notiert, dass der „Inhalt der höchsten Weisheit selbst, die Gott ist, sofort in die Cherubim gegossen wird, woraufhin die höchste Weisheit durch sie in die niederen Sphären hinunterfließt wie eine Kaskade.“14 Mit ein wenig Fantasie könnte man auch in der Brillanz der engelgleichen Linie des Quasoprans – ein ungewöhnlich hoher Part mit regelmäßigen Aufstiegen zum g2 – das feurige Wesen heraushören, das man mit dieser dem Göttlichen Licht am nächsten stehenden Sphäre verbindet.
Gewiss haben in der Renaissance die Zwänge der Anlässe, der Patronage und der Realisierbarkeit höchsten Einfluss auf die Entstehung von Messen und Motetten. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass gelegentlich Inspiration „vom Himmel gesandt worden“ zu sein scheint, wie gut, mit dem Chor der Engel sowohl als Bote wie als Führung.
1 “Sermon Four on the Holy Angels,” in Angelic Spirituality, ed. Steven Chase (New York: Paulist Press, 2002), 151.
2 Jesaja 6: 1-4
3 Offenbarung des Johannes 5:11
4 Lukas 2: 3-4
5 Für eine klassische Untersuchung siehe Emanuel Winternitz, “On Angel Concerts in the Fifteenth Century: A Critical Approach to Realism and Symbolism in Sacred Painting,” in Musical Instruments and Their Symbolism in Western Art (New Haven: Yale University Press, 1979): 137-149. Es gibt eine Fülle von Beispielen gemalter Engelkonzerte, einschließlich Fra Angelicos großartiger Gemälde von der Krönung der Jungfrau in den Galleria degli Uffizi (Florenz) und dem Musée du Louvre (Paris), wie auch sein “Tod und Auferstehung der Jungfrau” im Gardner Museum (Boston) und “Maria Himmelskönigin” des Meisters der Legende von der Heiligen Luzia in der National Gallery of Art (Washington, DC). Weniger bekannt, aber ein besonders deutliches Beispiel dieser Thematik ist der “Lebensbrunnen” eines anonymen spanischen Malers des 16. Jahrhunderts im Allen Memorial Art Museum (Oberlin).
6 Siehe zum Beispiel, Bernardino di Mariottos “Madonna mit Kind in Gloriole” (San Domenico, San Severino Marche), Defendente Ferraris “Madonna und Kind auf dem Thron” (University of Wisconsin Study Collection, Madison), Girolamo di Benvenutos “Madonna und Kind auf dem Thron” (Pinacoteca Nazionale, Siena), Bartolomeo Montagnas “Madonna und Kind auf dem Thron” (Pinacoteca di Brera, Milan), Cosimo Turas “Madonna und Kind auf dem Thron” (National Gallery, London)
7 “Ockeghem’s Canon for Thirty-Six Voices: an Essay in Musical Iconography” in Essays in Musicology in Honor of Dragan Plamenac (Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1969): 155-80; rpt. in Music in the Culture of the Renaissance & Other Essays (Chicago: University of Chicago Press, 1989): 278-288.
8 Die Kreishaftigkeit ist nicht nur die Verkörperung des nicht endenden Gesangs, sie stimmt auch überein mit kreishaften Bildern, die in mittelalterlichen Engelbeschreibungen auftauchen. John Scotus Eriugena schreibt zum Beispiel in seinen Expositiones in ierarchiam coelestem, „ man sagt, dass alle Dinge das höchste Gute umkreisen, das aus ihm entstanden sind, da das höchste Gute auch das innerste Gute ist, um das alle Wesen geordnet wurden, nicht in örtlicher Bewegung, sondern in ihrer eigenen, kosmologischen Ordnung.“ In Angelic Spirituality, 170
9 F Pbn 1537
10 Siehe zum Beispiel, Francesco Botticinis “Auferstehung der Jungfrau” in der Londoner National Gallery of Art, auf der die neunfache himmlische Hierarchie die aufsteigende Maria in drei Gruppen zu je drei in verschwenderischer Fülle umkreist.
11 GB WRec 178, fols. 26v-29.
12 Pseudo-Dionysius the Areopagite, zitiert bei John Scotus Eriugena in Angelic Spirituality, 177.
13 The Celestial and Ecclesiastical Hierarchy of Dionysius the Areopagite, übers. John Parker (London: Skeffington & Son, 1894), 31.
14 Hervorhebung durch den Autor . In Angelic Spirituality, 174.
Steven Plank hält die Andrew B. Meldrum Professur für Musikwissenschaft and ist Leiter des Collegium Musicum am Oberlin College (Ohio), wo er seit 1980 lehrt. Er ist Autor mehrere Bücher, unter anderen The Way to Heavens Doore: an Introduction to Liturgical Process and Musical Style (1994), Choral Performance: A Guide to Historical Practice (2004), und mit Charles McGuire das Historical Dictionary of English Music (2011). Er hat zu verschiedenen Zeitschriften Artikel beigetragen, unter anderem in Early Music, Music & Letter, und Musical Times. Für seine Arbeit mit dem Oberlin Collegium Musicum erhielt er 2009 den Thomas Binkley Award von Early Music America. Email: steven.plank@oberlin.edu
Übersetzt von Dr. Lore Auerbach, Deutschland