Geschichte der Chormusik in Neuseeland, und die Chorföderation von Neuseeland
von Guy Jansen, Vorsitzender der Chorföderation von Neuseeland
Das Amateurchorwesen in Neuseeland blüht seit den 1830er Jahren, als Siedlerpioniere ihre musikalischen Traditionen aus England, Schottland, Wales und vielen anderen europäischen Ländern mitzubringen begannen. Das englische Repertoire hatte Vorrang, und die Musizierenden bemühten sich, das Chorleben nachzubilden, an das sie sich von “zu Hause” erinnerten. Die Ureinwohner des Landes – die Maori – hatten schon mit Begeisterung gesungen, auf ihren maraes (Versammlungshäusern) und bei Stammestreffen, und in unserem Zeitalter spielen Maori Chorfestivals eine wesentliche Rolle im Leben der Gemeinschaft. Forschungsergebnisse zeigen, dass wesentlich mehr 6- und 7-Jährige Maori oder von pazifischer Abstammung in der Lage sind, Tonhöhen präzise nachzusingen, als europäische Kinder. Bis zu einem gewissen Grad haben die Kulturen der Maori und der Europäer gegenseitig Einfluss auf ihre Chorstile genommen, und es ist besonders eindrucksvoll und Hoffnung erweckend, wenn man die neue Resonanz, Bandbreite der Klangfarben und die Energie im Jugendchor und im Sekundarschulchor von Neuseeland hört, seit diese Gruppen in ihrer Zusammensetzung mehrere Kulturen vertreten.
Der Erfolg mancher der vorwiegend europäischen Laienchöre ist ein weiterer wichtiger Faden in der Geschichte der Chormusik in Neuseeland. Zwei der größeren Chöre, die Königliche Musikgesellschaft von Christchurch unter Robert Field-Dodgson [Neuseeland gehört zum britischen Commonwealth; somit ist Königin Elizabeth nominelles Staatsoberhaupt, wodurch eine Reihe Institutionen das Attribut “königlich” führen dürfen – Anm. der Übersetzerin] und die Harmonie-Gesellschaft (William Hawkes) in Christchurch, wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Auslandsbesuchen eingeladen, während zwei kleinere Gruppen in Wellington, Stanley Olivers Schola Cantorum und Maxwell Fernies Schola Polyphonica, ausgezeichnete Aufnahmen der anspruchsvollsten klassischen westlichen Literatur gemacht haben. Diese und andere Chöre im ganzen Land fungierten auch als Kinderstube von Musikern, die sich zu Führungskräften der Zukunft in allen möglichen musikalischen Bereichen entwickelten.
Viele Neuseeländer erwarben auch eine umfassende musikalische Ausbildung während ihrer Sekundarschulzeit, wenn sie das Glück hatten, auf eine Schule zu gehen, deren Fachleiter für Musik etwas für das Chorsingen über hatte, zum Beispiel Ralph Lilly, Nelson College, und Dr. Vernon Griffiths am King Edward Technical College, Dunedin. Der letztgenannte Lehrer wurde von der Regierung in den späten 1920er Jahren aus England nach Neuseeland an die pädagogische Hochschule in Christchurch geholt, aber als die große Depression zur Schließung aller pädagogischen Hochschulen führte, übernahm Griffiths eine Stelle am King Edward Technical College in Dunedin. Dort etablierte er ein schlicht atemberaubendes, visionäres Arbeitsprogramm, das andere dazu inspirierte, ihre ganze Schule am Chorsingen teilnehmen zu lassen. Einer der ersten Lehrer innerhalb dieses Programms war Frank Callaway, später Sir Frank Callaway, Präsident der Internationalen Gesellschaft für Musikerziehung und sein ganzes Leben lang Chordirigent, selbst als er seine Stelle als Professor an der Universität von Westaustralien aufgegeben hatte und in den Ruhestand gegangen war.
Auf Grundschulniveau gab es lange einen erstklassigen Schulfunk, mit Tom Youngs Kinderchor der Kelburn-Schule, Wellington, als Modellchor. Während fast fünfzig Jahren wurde dieses Rundfunkprogramm, das zahllose pädagogische Anstöße vermittelte, von führenden Chormusikern und –lehrern geleitet wie Val Drew, Robert Matthews, Valerie Hitchings und Wilbur Manins. Wo auch immer begeisterte Musiker in Schulen unterrichteten, schien eindrucksvolles Chorsingen wahrlich aus dem Boden zu springen.
Im Jahre 1964 begann William Walden-Mills (Berater für Schulmusik auf Landesebene von 1958-1974 und chorbegeistert) damit, landesweite Ferienchorlehrgänge für Sekundarschulen einzurichten, was im Lauf der nächsten zehn Jahre den Bekanntheitsgrad des Chorsingens anhob und zur Gründung von Dutzenden von Madrigalgruppen im ganzen Land führte. Als sein Nachfolger empfahl ich 1976, dass eine Abteilung für Vokalmusik innerhalb eines existierenden landesweiten Wettbewerbs für Schulmusik eingerichtet würde. Diese beliebte Vokalmusik-Abteilung wurde später an das Erziehungsministerium übergeben und schließlich an die Neuseeländische Chorföderation, nachdem diese sich im Juli 1985 zusammenfand. Etwas, das als kleiner extra Zipfel zu einem fest etablierten Festival für Instrumentalmusik begonnen hatte, ist heute das “NZCF Big Sing” [das “große Singen der Neuseeländischen Chorföderation”], ein riesiges musikalisches Phänomen, an dem ein großer Prozentsatz der Sekundarschulen beteiligt ist, einer der größten Wettbewerbe im Lande, und in den letzten, landesweiten Ausscheidungen liefern Spitzenchöre Aufführungen von Weltniveau. Zwei weitere Initiativen halfen ebenfalls, das Chorleben in Sekundarschulen anzuheben: seit 1977 gibt es kostenlosen Gesangsunterricht in Gruppen, und 1979 wurde der Jugendchor von Neuseeland ins Leben gerufen – der erste seiner Art in der ganzen Welt.
Manche Absolventen des Jugendchores von Neuseeland sind Solisten in Oper, Oratorium, Kunstlied oder Musical geworden, aber eine größere Anzahl hat sich der Chorleitung in Schulen und insbesondere den Kammerchören zugewandt. Zahlenmäßig noch mehr von ihnen haben als hervorragende Chorsänger weitergemacht und stellen die Basis vieler der führenden Kammerchöre des Landes dar, beispielsweise im Tudor Consort und Nota Bene (Christine Argyle) in Wellington (Michael Stewart) und Viva Voce (John Rosser) in Auckland.
Unabhängig von den oben beschriebenen Entwicklungen erwies sich Peter Godfrey als überragende Gestalt in der Entwicklung der Chorkunst in Neuseeland. Er kam 1957 als junger Universitätsdozent in Auckland an, aus England, frisch von einer Stelle als Lehrer am Marlborough College [bekanntes Internat, Anm. d. Übers.], und er brachte mit sich seine Erfahrungen als ehemaliges Mitglied des Chors von King’s College Cambridge, sowohl als Chorknabe als auch mit seiner Männerstimme als Stipendiat während seines Universitätsstudiums. An der Universität von Auckland wie mit dem Dorian Chor und dem Jugendchor von Neuseeland hoben die Bemühungen von Professor Godfrey die Erwartungen der Musikanten ganz gewaltig an. Durch seine Gründung der Neuseeländischen Chorföderation (er war ihr erster Präsident und ist heute Schirmherr) ermutigte er neue Generationen von Sängern dazu, zusammen zu arbeiten und ein höheres Niveau anzustreben.
Obwohl die Neuseeländische Chorföderation im Laufe ihres 26jährigen Bestehens gelegentlich ihre Probleme hatte, vertritt sie heute zuversichtlich fast 500 Chöre und viele Einzelmitglieder. Sie ist eine der aktivsten Kunstorganisationen im Lande. Mit neuerlichen Staatszuschüssen und lokalen und landesweiten Förderern veranstaltet die Föderation nicht nur große Chorereignisse (die anderswo in diesem Artikel beschrieben wurden), sondern auch Workshops, Beratungen und andere Unternehmungen in zwölf oder mehr Zentren. Kontakt wird durch ein regelmäßig erscheinendes elektronisches Bulletin E-News gehalten, durch eine Zeitschrift, Breve [im Englischen das Wort für eine Lunga, und ausgesprochen fast wie “brief” = kurzgefasst, Anm. d. Übers.], die im Farbdruck erscheint, sowie durch eine ansprechende Webseite mit umfassenden Abteilungen für Regionalnachrichten, Stellenanzeigen für Chorleiter usw. Vor kurzem wurde im Rahmen der Neuseeländischen Chorföderation eine Vereinigung der Chorleiter ins Leben gerufen, die sich zum Ziel setzt, Dirigenten durch anregende Programme, Kontaktmöglichkeiten, Konferenzen und Mentorenschaften zu unterstützen und zu fördern.
Abschließend muss berichtet werden, dass die Tintenfischarme der Kiwi-Chormusik [Neuseeland bezeichnet sich gern als Land des Kiwis, eines Vogels, den es nur dort gibt, Anm. d. Übers.] inzwischen beginnen, ausgesprochen weit zu reichen! Das hat damit zu tun, dass die nächste Rugby Weltmeisterschaft in Neuseeland ausgetragen wird. Ab 9. September 2011 werden alle 48 Rugby-Spiele mit den Nationalhymnen beginnen, auf dem Spielfeld gesungen von Kammerchören mit Begleitung durch das Neuseeländische Sinfonie-Orchester – das allerdings vom Band. Aufnahmen der Chorbearbeitungen von Anthony Ritchie werden später weltweit käuflich zu erwerben sein. Es freut uns sehr, dass die Neuseeländische Chorföderation den Kontrakt für diese Aufgabe gewonnen hat, und wir freuen uns auch, dass die Kiwi Chortradition auf diese Weise anlässlich des drittgrößten Sportfestivals der Welt geehrt wird. Politik und Sport vertragen sich nicht immer gut, aber die Chormusik und Sport haben alle Aussichten, Spaß miteinander zu haben und das Erlebnis der Weltmeisterschaft zu vertiefen.
Guy Jansen war – mit Hilfe eines Winston-Churchill-Reise-Stipendiums und Unterstützung durch den Staat, die Fulbright Stiftung und andere Preise – der erste Neuseeländer, der am berühmten Musik-Institut der Universität von Südkalifornien studierte. Er erwarb dort seinen Doktortitel in Chormusik, und unter seinen Professoren für Chormusik und Philosophie waren Rodney Eichenberger, Morten Lauridsen, James Vail und Dallas Willard. Seine ersten und zweiten Universitätsgrade sowie die Befähigung zum Lehramt hatte er an der Victoria Universität in Wellington verliehen bekommen. Dazu hat er auch verschiedene Qualifikationen von englischen Institutionen. Von 1975-1989 war er im Erziehungsministerium für die Musik verantwortlich. Die Gründung des ersten nationalen Jugendchores der Welt, des nationalen Jugendchores von Neuseeland (für die Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren) geht auf eine von Guys Initiativen in dieser Zeit zurück. Später lehrte Dr. Jansen an der Universität von Queensland/Australien, wo er nicht nur einen Lehrgang einrichtete, der zum Magister in Chor- und Kirchenmusik führt, sondern auch den Universitäts-Kammerchor gründete, der zum 4. Welt-Symposium für Chormusik eingeladen wurde. In der Folge wurde Guy eingeladen, Chordirigent des Wheaton Konservatoriums in Illinois/USA zu werden. Im Juli dieses Jahres weilte Dr. Jansen als Gastdirigent in Chicago und in Singapur, und er dirigiert weiterhin den Chor der Kirche St-John-in-the-City, Wellington. Im August 2010 übernahm er den Vorsitz der Neuseeländischen Chorföderation. E-mail: gjjansen2003@yahoo.com.au
Übersetzt von Irene Auerbach, England